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Gerhard Jäger, geboren 1966 in Dornbirn, arbeitete als Behindertenbetreuer, Lehrer und Vertreter im Außendienst. Er absolvierte eine Journalistenausbildung und arbeitete als freier Journalist und als Redakteur. 1994 erhielt er ein Nachwuchsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 1996 den Vorarlberger Literaturpreis für einen bisher unveröffentlichten Roman. Er lebt mit seiner Familie in Imst/Tirol. Sein Debütroman »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« (Blessing 2016) war ein großer Erfolg.

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Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Julian Stratenschulte/dpa/picturedesk.com

Druck und Verarbeitung:

EuroPB, s.r.o., Tschechische Republik

ISBN 978-3-7117-2064-1

eISBN 978-3-7117-5373-1

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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

GERHARD JÄGER

ALL DIE NACHT ÜBER UNS

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

All jenen, denen die Heimat nicht geblieben ist und ganz besonders Dietlinde Bonnlander, deren Erinnerungen Teil dieses Romans sind.

INHALT

NEUNZEHN UHR

ZWANZIG UHR

EINUNDZWANZIG UHR

ZWEIUNDZWANZIG UHR

DREIUNDZWANZIG UHR

VIERUNDZWANZIG UHR

EIN UHR

ZWEI UHR

DREI UHR

VIER UHR

FÜNF UHR

SECHS UHR

NEUNZEHN UHR

… und plötzlich flattern Vögel auf, als hätte sie ein Schuss erschreckt.

Der Soldat reißt den Kopf herum, schaut in die Richtung, aus der die Flügelschläge zu hören sind, die Stirn gerunzelt, die Augen zusammengekniffen. Aber da ist nichts zu sehen, die Dämmerung hat die Tiere verschluckt, Stille. Seine Augen suchen das Gelände ab, dieses flache Feld, auf dem er hergekommen ist, erst vor wenigen Minuten, und auf dem seine zwei Kameraden, die er abgelöst hat, verschwunden sind. Lachend und plaudernd gegen alle Vorschriften über das Feld, die paar Hundert Meter bis zu dem kleinen Feldweg, bis zu dem Pritschenwagen, der sie und alle anderen aufnehmen und zurückbringen wird, zurück in das kalte Licht der Glühbirnen in den kahlen Gängen, zurück in die Zimmer mit den Stockbetten, zurück in die Kaserne, die nicht weit von der Grenze steht.

Der Soldat sucht noch einmal beunruhigt das Gelände ab, ein weites Feld, das sich rund um ihn erstreckt. Das Gras schon da und dort in einem herbstlichen Braun, was jetzt in der Dämmerung aber kaum mehr zu erkennen ist. Er denkt an die Vögel. Irgendetwas muss sie aufgescheucht haben, aber seine Kameraden konnten es nicht gewesen sein. Sie waren schon vorher über das Feld gegangen, ihre Stimmen, ihr Lachen hatte sich schon vorher in der Stille verloren, dann hatte er den Motor des Pritschenwagens aufheulen gehört, bevor es wieder still geworden war, still auf diesem weiten Feld, aus dem jetzt die Dämmerung steigt, mehr und mehr, ein schwarzer Schleier, den sich die Welt vors Gesicht hält.

Die Vögel beunruhigen ihn. Er kennt sich nicht aus mit ihnen, weiß nicht, welche Gründe es geben kann, dass ein ganzer Schwarm sich erschreckt in der Dämmerung in die Lüfte schwingt, aber, so sagt er sich, es könnte ein Fuchs gewesen sein, vielleicht ein Hirsch oder ein anderes größeres Tier, auch Wildschweine gibt es in der Gegend, hat man sie gewarnt. Vielleicht sind die Vögel von einem solchen Tier erschreckt worden, vielleicht ist in diesem Moment auch nur instinktiv etwas durch den Schwarm gegangen, eine Botschaft, die nur Vögel wahrnehmen können, nichts, was für Menschen zu verstehen ist. Es kann viele Gründe geben, wieso diese Vögel weggeflogen sind, es muss nicht das sein, weswegen er hier ist, weswegen seine Kameraden hier sind, Tag für Tag, Nacht für Nacht, die Augen der Gemeinschaft, die Stunde um Stunde weit aufgerissen in die Dunkelheit starren, auf der Suche nach Bewegung im Bewegungslosen, auf der Suche nach Schatten im Finsteren, auf der Suche nach dem, was nicht hier sein darf.

Er könnte den Scheinwerfer einschalten, den mit einem großen Akku betriebenen Scheinwerfer, hier auf seinem Wachturm, könnte den Lichtkegel über das Feld jagen, Löcher in die Dämmerung schießen, aber das will er nicht. Jedes Mal hat er dabei das beängstigende Gefühl, weniger die Welt zu sehen, als der Welt zu zeigen, wo er ist: dort, wo dieser Lichtstrahl seinen Anfang nimmt, dort auf diesem Turm, vier Meter hoch. Hunderte solcher Türme sind aufgestellt worden, so weit auseinander, dass man nur am Tag und auf einer ebenen Fläche mit dem Fernglas den nächsten ausmachen kann. Aus Metall sind sie gemacht, so, dass sie in wenigen Minuten abgepackt und verladen und irgendwo anders aufgestellt werden können, dort, wo es die Weltgeschichte erfordert.

Der Soldat stiert noch eine Weile in die Dunkelheit, aber da ist nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören, nur diese undurchdringliche Dämmerung auf allen Seiten, die die Grenze zwischen Himmel und Erde in einem dunklen Grau verschwinden lässt. Er setzt sich auf die schmale Bank auf seinem Turm, auch sie aus Metall. In der Hand das Gewehr, das er mit dem Kolben nach unten zwischen seine Beine auf den Boden stellt. Dieses Gewehr in seiner Hand befremdet ihn immer noch, der kalte Stahl des Laufes scheint ihm unberechenbar. Selbst nach all den Jahren hat er sich daran nicht gewöhnt. Er ist nie ein Waffennarr gewesen, hat auch keine Waffe zu Hause, im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden, und trotzdem, hier im Einsatz tut es gut, das Gewehr in der Hand halten zu können. Man ist nicht allein damit. Und die Nacht ist lang, das weiß er von den vorangegangenen Einsätzen, und sie ist nicht nur lang, sie ist auch voller Schatten und Geräusche, vor allem wenn man so wie er auf all diese Schatten und Geräusche achten sollte. Achten mit dem Gewehr in der Hand, das nun schwerer wiegt, seit die Lage sich geändert hat, die Worte spitzer, die Sätze schärfer, die Stimmung angespannter, die Befehle andere sind. Seit die Menschen am Abend die Schlüssel zweimal im Schloss umdrehen, seit die Verkaufszahlen von Alarmanlagen und Überwachungskameras explodiert sind, seitdem ist das Gewehr nicht mehr nur Begleitung im Beruf, das man früher mehr wie einen Teil der Uniform mit sich geführt hat, eine Art Berufsfolklore, jetzt hat das Gewehr eine andere Dimension bekommen, ist eine reale Möglichkeit geworden.

Auch sein Vater hat das Schloss an der Haustür austauschen und verbessern lassen, mit einem verlegenen »musste ja irgendwann sein«, und nachdem er gesehen hatte, dass diese Erklärung nicht die gewünschte Wirkung hatte, fügte er noch entschuldigend hinzu: »Das alte Schloss hat geklemmt.« Der Soldat war erschrocken über die Aussagen seines Vaters, der doch sonst immer zum Beschwichtigen neigte, so als ob man alles sprachlich relativieren und verkleinern könnte, damit es nicht mehr gefährlich ist. Es war eine lange Stille entstanden zwischen ihnen beiden, dann hatte der Vater den Blick gesenkt, hatte resigniert mit den Schultern gezuckt, war die Stiege hinaufgegangen und im Wohnzimmer verschwunden.

Der Soldat verscheucht seine Gedanken, nimmt den Rucksack vom Boden auf und stellt ihn neben sich auf die Bank. Es ist sein eigener Rucksack, nicht der Rucksack, der ihm und seinen Kameraden zur Verfügung gestellt worden ist von der Gemeinschaft, die sie hierher an die Grenze geschickt hat. Er hat seinen eigenen Rucksack dabei, der mehr noch als die Ausrüstung seine Erinnerungen für ihn herumträgt. Er kann ihn nicht anschauen, ohne dass seine Gedanken auf Reisen gehen, ohne dass er das Gesicht seines Vaters vor sich sieht, männlich um Fassung bemüht, weil er nicht verstehen kann, was man als junger Mann meint, wenn man sagt, man will die Welt sehen, weil doch die Welt, vielmehr die Ecke der Welt, in die man hineingeboren wurde, in der man lebt, ja mehr noch, zu leben hat, weil doch diese kleine Ecke der Welt genug Welt ist für ein ganzes Leben. Er ist trotzdem losgezogen, mit diesem Rucksack auf dem Rücken, hat sich beurlauben lassen und ist in die Welt hinaus, anstatt sich um seine Wurzeln in der kleinen Ecke der Heimat zu kümmern und sich dort gemütlich einzurichten, in einer Wohnung, im Beruf, in einem Verein und was es sonst noch alles gibt, um die Zeit herumzubringen. Er ist losgezogen mit dem verbitterten Gesicht seines Vaters und den kaum verborgenen Tränen seiner Mutter im Rücken.

Dann die große Fremdheit, anders kann er das nicht beschreiben, damals nicht, heute nicht. Das Flugzeug setzte ihn aus in den staubig-brüllenden Straßen der Hauptstadt jenes Landes, das man wohl nur kennt, weil sich dort die Welt am weitesten ins Weltall vorwagt. In den ersten Tagen verlor er sich in dem unübersichtlichen Netz der Straßen, ging durch enge, lehmige Gassen, die aus dem Mittelalter heraus unversehens in die Neuzeit mündeten, überquerte die großen Straßen, die angefüllt waren mit Dreck, Gestank, mit dem Geschrei der Hupen, mit alten rostigen Autos, überfüllten Bussen mit Menschentrauben auf den Stoßstangen und den Dächern, mit Motorrädern auf denen ganze Familien Platz fanden, die Frauen hinten beide Beine auf einer Seite, ein Kleinkind in den Armen, mit den lästigen Rikschafahrern, die um die nächste Fuhre kämpften, die in ihm den Weißen sahen, den Reichen, der, ohne es zu ahnen, das Doppelte, Dreifache, Vierfache des Üblichen zahlte und mit seinen Dollars den Traum vom goldenen Westen in ihre TBC-zerfressenen Lungen brannte.

Lange war er geblieben in diesem seltsamen Land, war wochenlang mit seinem Rucksack auf dem Weg gewesen, durch die Berge, diese in den Himmel aufragenden Riesen, war auf dem Weg gewesen in einer Gegend ohne Strom und ohne Straßen, in der ihn die untergehende Sonne ins Bett schickte und die aufgehende Sonne wieder herausholte, und hatte erst nach vielen Wochen das Gefühl bekommen, langsam anzukommen, langsam wieder bei sich zu sein. Trotzdem war in ihm diese Verwirrung geblieben, dieses ungeheure Gefühl des Losgelöst-Seins, des Außer-sich-Seins, und er hatte sogar angefangen, seinen Vater zu verstehen, zumindest sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass sein Vater recht haben könnte. Vielleicht ist die Welt so übermächtig selbst in ihrer kleinsten Ecke, dass es wirklich müßig ist, in die Welt hinauszufahren, um sie zu entdecken.

Als er schließlich zurückflog nach langen Wochen in diesem Land, langen Wochen, in denen das Leben ganz anders war, sich anders anfühlte als daheim, als er zurückflog durch den Himmel, durch die Nacht, durch die Zeit, die dem Flug nicht folgen konnte und die man händisch beim Ankommen auf der Armbanduhr richtigstellen musste, als er schließlich landete auf einem Flughafen in dem Land, das er bis dahin bedenkenlos und jederzeit als Heimat bezeichnet hätte, als er aus der Halle heraustrat und mit Erstaunen und Erschrecken feststellte, dass ihn jetzt die ehemals vertraute Welt so fremd begrüßte, befiel ihn eine Panik und er machte kehrt, stürzte zurück in die Halle und war nur eine Stunde später wieder zwischen Himmel und Erde in einem Last-minute-Flug, der ihn in den Süden brachte und in einer anderen Stadt aussteigen ließ. Betäubt von diesem Rasen durch Zeit und Raum fand er sich wieder in einer Stadt am Meer mit staubigen Straßen und verdreckten Palmen zwischen den Tischen und Stühlen der kleinen Cafés, in denen er sich niederließ, ziellos, ratlos, und den Einheimischen zuhörte, dieser Sprache, von der er zumindest einige Brocken verstand. Die Tatsache, dass er sich ausgerechnet in dieser Stadt wiederfand, war für ihn nichts anderes als ein Zufall, etwas, was er nicht erklären konnte. Sie sah das freilich anders: Es war dein Instinkt, wie sie später immer lachend erklärte, dein Herz hat dich geführt, sagte sie mehr als einmal, wenn sie über diese frühe Weichenstellung in ihrem gemeinsamen Leben redeten, verträumt in den ersten Monaten und Jahren, später nüchterner, aber doch noch mit einem Rest des Zaubers, der diesem Erlebnis innewohnte.

Er aber, damals in dieser Stadt im Süden, er war nur ungeheuer befremdet von allem. Wieder flüchtete er in das Gehen, irgendwo außerhalb, irgendwo in einem kleinen Dorf, und begann dort stundenlang und tagelang die kleinen Trampelpfade in den Hügeln über dem Meer entlangzugehen, ohne Sinn, ohne Ziel, einfach nur gehen, gehen und gehen. So folgte er diesen trockenen Mäandern, während bei jedem Schritt kleine Staubpilze zwischen seinen Schuhen nach oben stiegen und der Schweiß von seiner Stirn tropfte, in seinen Augen brannte, weshalb er sich bald in einem kleinen Geschäft in dem Dorf einen Hut kaufte, den er in den nächsten Tagen zwischen sich und das unbarmherzige Gestirn über ihm schob, unablässig gehend auf seinen Wegen durch diese namenlosen Hügel und Weinberge, durch die flimmernde Luft, durch den Regen seiner Schweißtropfen, auf der Flucht vor etwas, was er kaum benennen konnte, auf der Flucht vor dieser ungeheuren Fremdheit, die sich in ihm breitgemacht hatte.

Und dann dieser Tag, dieser eine besondere Tag, der doch so gleich begann wie all die anderen Tage zuvor, mit Stimmengewirr im Morgengrauen, Motorenlärm auf der Gasse vor seiner kleinen Unterkunft, mit der schweigenden Wirtin, die ihm sein Frühstück auf den Tisch stellte, mit der Sonne, die ihm wenig später, als er durch die Tür ins Freie trat, schon in diesen frühen Stunden mit ungeheurer Wucht ins Gesicht prallte. Alles war so wie die Tage zuvor. Er schlenderte durch das Dorf und kam sich einmal mehr vor wie jemand, der nirgendwo dazugehörte. Dieser ganz besondere Tag, begann so normal und gleichgültig wie all die anderen Tage begonnen hatten. Aber in ihm war schon das Potenzial angelegt, etwas ganz Besonderes zu werden, ein Datum, das man ein Leben lang nicht mehr vergisst, das seinen Stammplatz bekommt in den Legenden, mit denen man das eigene Leben umrankt, dieser Tag, an dem du deinem Glück in die Arme gefallen bist, wie sie später lachend erklärte.

Die Erinnerung an diesen Satz bringt ein Lächeln auf seine Lippen, hier auf seinem Turm, den kühlen Herbst im Gesicht. Er zieht den Kragen enger, überlegt sich, die Decke aus dem Rucksack zu nehmen, aber er entscheidet sich anders. Noch zu früh, die Nacht ist noch lang und der Wetterbericht hat starken Wind, Regen und Gewitter gemeldet, es wird kalt werden. Er weiß von vorangegangenen Nächten, dass es sehr unangenehm werden kann, vor allem wenn Wind und Regen von vorne oder von der Seite kommen, weil dann das kleine Dach auf dem Turm nichts mehr nützt und man dem Regen fast schutzlos ausgeliefert ist.

Er wirft einen Blick nach oben in den Himmel und trotz der Dämmerung, die schon fast in Finsternis übergegangen ist, sieht er schemenhaft die Wolken über sich. Er muss sich wirklich auf Regen einstellen, möglicherweise sogar viel Regen. Ein prüfender Griff in den Rucksack und er spürt beruhigt zwischen seinen Fingern das kalte Material des Regenüberzugs. Es hat in den letzten Wochen schon öfters geregnet, aber diese Nacht soll, vor allem in der zweiten Hälfte, fast durchgehend Regen fallen, Starkregen.

Anders war es gewesen im Süden in diesem kleinen Dorf. Nur ein einziges Mal schoben sich Wolkentürme vor die Sonne und ein heftiger Platzregen ging nieder. Er war unter dem vorspringenden Dach eines Hauses, das ihn geschützt hätte, hervorgetreten, mitten in den Regen hinaus, die Hände nach vorne gehalten, die Handflächen nach oben gedreht und das Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel gewandt. Die unzähligen Tropfen, die auf seinem Gesicht zerplatzten, sorgten zu seiner großen Überraschung kaum für Abkühlung. Nur wenige Minuten später war der Spuk vorbei und die Sonne verbrannte so unbarmherzig wie zuvor das Land. Seine Kleider dampften an seinem Körper.

Es war der einzige Regen gewesen in der langen Kette dieser Tage, dieser immer gleichen Tage, die ihn durch die Hügel geführt hatten, die ihn bis zu dem Tag geführt hatten, der ein ganz spezieller werden sollte. Am späteren Nachmittag war er aufgebrochen mit dem Hut auf dem Kopf und dem Rucksack, der jetzt auf dem Turm neben ihm steht, dieser Rucksack damals beladen mit zwei Flaschen Wasser. So war er losgezogen, blind und ohne Richtung so wie all die Tage zuvor. Und wie die Tage zuvor führten ihn seine Schritte in die Hügel, folgten aber einem Pfad, den er noch nie gegangen war, der sich an der Küste hielt und bald durch steiles, abschüssiges Gelände führte. Er genoss diesen Weg, der manchmal sogar schattige Plätze aufwies und der mit einer großartigen Aussicht verbunden war. Unter ihm, manchmal nur wenige Meter, manchmal in schwindelerregender Tiefe, das riesige Wasser, eine blaue Zunge, die die Küste umspielte, stürmisch, war man nur wenige Meter entfernt, gelassen, wenn man von weit oben hinabschaute. Ein ständiger Wind kam vom Meer her, was die Hitze erträglicher machte, er fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr. Seine Schritte trugen ihn mehr und mehr in den Raum hinein und mehr und mehr, so kam es ihm vor, aus seinem Gefühl der Fremdheit heraus, ja, er hatte sogar den seltsamen Gedanken, dass er zum ersten Mal seit Langem wieder mit dabei war, wenn sein Körper spazieren ging.

Er erinnert sich, dass er lachen musste bei diesem Gedanken, dass er den Kopf schüttelte über sich selber, sich hinsetzte auf diesem Weg, während das Lachen aus ihm herausperlte. Als er schließlich aufstand, ruhig geworden, stand die Sonne tief, ein roter Ball am Horizont, und ihm war klar, dass er es nicht mehr schaffen würde, noch bei Tageslicht in das Dorf zurückzukehren. Aber das beunruhigte ihn nicht wirklich. Er ging den Weg zurück, ein Lied pfeifend, später lautstark in die vom Himmel herabfallende Nacht singend. Je dunkler es wurde, desto lauter sang er, irgendwann schrie er übermütig seinen Gesang dem stärker werdenden Wind ins Gesicht, hinein in die Dunkelheit, und so ging sein Singen nahtlos über in diesen entsetzten Schrei, als ein Stein unter seinem Fuß nachgab und er, zuerst verwundert, dann erschrocken merkte, dass er keinen Halt mehr hatte und seitlich neben dem Weg abrutschte. Er versuchte nach etwas zu greifen, was ihn halten könnte, aber da war nur Sand, loses Geröll, nichts, was seinen Sturz bremsen konnte und auch nichts mehr unter seinen Füßen, ein Moment, in dem ihn blankes Entsetzen durchflutete, und er stürzte in die Nacht.

Die Nacht breitet sich mehr und mehr aus rund um den Turm und verstellt den Blicken des Soldaten den Weg. Er ist aufgestanden, lehnt an der Brüstung und starrt nachdenklich in die Dunkelheit. Etwa dreißig Meter vor ihm, nicht mehr zu sehen in der Finsternis, muss der Maschendrahtzaun sein, mehr als drei Meter hoch, der oberste Abschnitt leicht nach außen geneigt, überhängend, um ein Überklettern nahezu unmöglich zu machen. Das Material soll ein Spezialmaterial sein, das nicht einmal mit einer professionellen Drahtschere oder Zange zu knacken sei. Der Soldat hat den Verdacht, dass man damit nur alle beruhigen will, all die Menschen in den Dörfern und Städten, die angefangen haben, in der Dämmerung besorgt in ihre Gärten hinauszuschauen, und später, wenn die Dunkelheit undurchdringlich geworden ist, die Augen vom Lichtkegel einer Straßenlaterne zum nächsten schicken, Zigtausende Augenpaare auf Patrouille, dass man diese Menschen mit den Geschichten über diesen Zaun beruhigen will, genauso wie man die beruhigen will, die Nacht für Nacht da oben stehen, auf diesen Türmen, die aneinandergereiht sind, wie auf eine unsichtbare Schnur gespannt. Sie haben den Zaun ein paar Mal unter die Lupe genommen, er und sein Kamerad bei der letzten Schicht am Tag. Das Drahtgeflecht ist so dünn, dass es kaum vorstellbar ist, dass man es mit einem entsprechenden Werkzeug nicht durchschneiden könnte.

Der Soldat verscheucht die Gedanken an den Zaun, er denkt wieder an die Vögel, die sicher einen Grund hatten, sich in die einbrechende Nacht zu schwingen, und obwohl er weiß, dass es sinnlos ist, starrt er angestrengt in die Dunkelheit hinein, unbeweglich, minutenlang, bis ihn die Augen schmerzen.

Die Dunkelheit hat ihn immer schon fasziniert. Schon als Kind legte er sich mit all den Schatten an, die die Nächte für die angeregte Fantasie eines Buben bereithielten. Sein Zimmer war im Erdgeschoss, und irgendwann hatte er mit kleinen Mutproben angefangen. Im dunklen Zimmer mitten in der Nacht das Fenster öffnen, am offenen Fenster stehen mit weit aufgerissenen Augen, die vergeblich versuchten, das Dunkel zu durchdringen. Später war er auf die Fensterbank gestiegen, war dort gestanden, ohne sich festzuhalten. Und dann die Nacht, als er es zum ersten Mal wagte und hinaus in den Garten sprang, barfuß und nur in einem dünnen Leibchen. Er kann sich heute noch an dieses Entsetzen erinnern, das ihn durchfuhr, als seine nackten Füße auf dem Gras landeten, und schon Sekunden später war er durch das Fenster zurückgeklettert, hatte es in Panik geschlossen, gerade noch rechtzeitig vor den kalten Händen der Nacht, die gierig nach ihm griffen. Zitternd und schwer atmend vergrub er sich unter der Decke, aber schon in diesem Augenblick war der Gedanke da, es wieder zu tun, der Nacht noch einmal die Stirn zu bieten. Wenige Tage später sprang er wieder hinaus und er hatte sich vorgenommen, bis zehn zu zählen, bevor er in sein Schlafzimmer kletterte. Später zählte er bis zwanzig, bis hundert, dann zählte er im Sitzen, das nächste Mal legte er sich ins Gras und zählte und schließlich rannte er quer durch den Garten bis zum Zaun des Nachbarn und zurück.

Der Soldat lächelt bei der Erinnerung an diese kleinen Mutproben. Er hat nie jemandem davon erzählt, auch nicht ihr. Sie sind in seinem Inneren abgelegt, und sie haben einen Zauber, dem er sich oft in seinen Gedanken hingibt.

Ein Knacken links von ihm lässt ihn herumfahren. Wieder der angestrengte Blick in die Dunkelheit, wieder vergeblich, er konzentriert sich auf sein Gehör, aber umsonst, da ist nichts, es ist, als ob die Dunkelheit auch plötzlich alle Geräusche verschlucken würde. Er atmet tief durch, seine Hand geht wie unbewusst zur Seite, umfasst den schlanken Lauf des Gewehres, das neben ihm lehnt. Langsam hebt er es hoch, legt es vor sich quer auf die Brüstung. Er weiß, dass es geladen ist, und trotzdem überprüft er es, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen, um sich ja nicht durch ein Geräusch zu verraten. Wütend schüttelt er den Kopf. Der Gedanke, sich nicht verraten zu wollen, beinhaltet die Annahme, dass jemand da ist, da, dort, irgendwo in der Nacht, irgendwo im Reich der Schatten, jemand, der ein leises Klacken seines Gewehres hören könnte, wenn er nachschaut, ob es geladen ist. Aber da ist niemand, sagt er sich, und dann spricht er es sogar aus: »Da ist niemand.« Seine Stimme ist heiser und leise und das ärgert ihn und er hebt zornig das Gewehr hoch, legt an, richtet es auf ein Ziel, das es nicht gibt, den Finger am Abzug, die Nacht vor dem Gesicht. Diese Position bringt ihn zurück in sein Kinderzimmer, zurück in diese so großen und übermächtigen Nächte, die man nur als Kind so erleben kann. Er erinnert sich an das Grauen, das ihn damals durchzuckte, als ihm zum ersten Mal der Gedanke kam, in der Nacht nicht nur durch den eigenen Garten zu rennen, sondern auch den Zaun zum Garten des Nachbarn zu übersteigen und dort durch den Garten zu gehen, der bis zum Waldrand führte. Tagelang beschäftigte ihn dieses Vorhaben, stundenlang lag er wach in den Nächten und war doch nicht stark genug, das Fenster zu öffnen und den Sprung zu wagen. Erst als er ein paar Tage später von einem Schulfreund ein Spielzeuggewehr geliehen bekam, ein Gewehr, das erschreckend echt aussah und auf vehemente Kritik seiner Mutter stieß, erst da wagte er es, sprang hinaus in die Nacht, in die dunkle, riesige Nacht, hinaus unter das ungeheure Sternenzelt, hinaus in die Finsternis, in der sie doch alle hausten, die Geister und Dämonen, die Drachen und Hexen, all die Fratzen, die sich ein Kind nur vorstellen konnte. Da hinaus sprang er, und mit dem Gewehr in den Händen rannte er durch den Garten, kletterte über den Zaun des Nachbarn, rannte auch durch diesen Garten bis zum Waldrand, wo er sich zwang, auch das schon lange geplant, in unzähligen Nachtstunden als Planspiel durchgedacht, einen Baum zu berühren, abzuklatschen wie bei einem Spiel, der Beweis, dass er es wirklich bis zum Wald geschafft hatte. So stand er da mit dem Gewehr im Anschlag und starrte in den Wald hinein, ein paar Sekunden, vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine Minute, aber schließlich war seine Beherrschung zu Ende, länger hielt er es nicht aus, länger konnte er die Geister, Monster und Drachen seiner Kindheit nicht in Schach halten. Als alle Dämme in ihm brachen, hetzte er zurück, durch den Garten des Nachbarn, durch den eigenen Garten, das Gewehr in der Hand.

Am nächsten Tag gab er es seinem Freund zurück, was seine Mutter sehr stolz auf ihn machte. Sie wusste allerdings nicht, wieso er das tat. Er wollte einfach nichts mehr damit zu tun haben, war immer noch erschrocken, dass es dieses Spielzeuggewehr geschafft hatte, ihm den Mut für dieses Abenteuer zu geben.

Jetzt, auf diesem Turm auf ein imaginäres Ziel in der Dunkelheit starrend, das Gewehr im Anschlag, ein richtiges Gewehr im Anschlag, jetzt erinnert er sich lebhaft an das Gefühl, das er hatte, vor dem dunklen Wald stehend, dieses Kribbeln im Bauch, das höher stieg und höher und ihn schließlich einen Schritt zurück machen ließ, noch einen und noch einen und dann war alles nur noch Entsetzen, Panik, Flucht, alle heulenden und augenrollenden Monster waren ihm auf den Fersen. Selbst als er im Bett lag, die Bettdecke hochgezogen bis zum Kinn, ging sein Atem noch gehetzt und er brauchte lange, bis er endlich einschlafen konnte.

Es gab ein Foto von ihm aus dieser Zeit, aufgenommen ein paar Tage nachdem er mit dem Gewehr seines Freundes in der Nacht bis zum Waldrand gerannt war: Er stand auf dem Rasen im Garten, hatte den Kopf etwas schief gelegt und schaute mit einem misstrauischen Blick in die Kamera. Er konnte sich an die Szene genau erinnern, einer seiner Onkel hatte das Foto gemacht, ein Onkel, den er an diesem Tag zum ersten Mal gesehen hatte und der ihm Angst einflößte. Es war der Bruder seiner Mutter, der irgendwo weit weg wohnte und zu Besuch gekommen war. Ein riesiger Mensch, unförmig in allen Bereichen, ein immer geröteter Kopf, Hände, die so groß wie Teller waren, ein Bauch, der einem entgegenwallte und das darüber gestraffte Hemd zwischen den Knöpfen auseinanderzog, dazu eine Stimme, die ihn an ein Donnern erinnerte.

»Mein Bruder«, sagte seine Mutter knapp und fast ein wenig peinlich berührt, als dieser Riese unter der Tür stand und sie ihn vorstellte. Er gab ihm die Hand, nachdem ihn seine Mutter dazu aufgefordert hatte, zaghaft und ängstlich, und bekam einen Händedruck, den er lange nicht vergessen sollte. Und genau dieser Onkel zückte Stunden später im Garten seine Kamera und richtete sie auf ihn. Er empfand diese Situation als unangenehm, fast als bedrohlich, und dieser Eindruck entsteht auch, wenn man den Buben auf dem Foto, den Buben mit dem dunklen Haarschopf, der er damals gewesen ist, genau anschaut.

Das Foto steht heute noch auf der Kommode im Wohnzimmer seiner Eltern. Als er seine Mutter einmal fragte, wieso gerade dieses Foto da stehen würde, sagte sie: »Ich habe sonst kein Foto, das mein Bruder gemacht hat.« Er fand diese Antwort seltsam, da es sonst in der ganzen Wohnung nichts gab, was an ihren Bruder erinnerte, es gab nur diesen einen Besuch, zwei Tage in einem längst vergangenen Sommer, danach existierte dieser dröhnende Riese nur noch durch das Foto, das er gemacht hatte.

Seine Mutter, die überhaupt sehr schweigsam und in sich gekehrt war, erzählte nicht viel von sich und ihrer Vergangenheit. Er wusste nur, dass ihre Eltern gestorben waren, bevor sie in die Schule kam, und dass sie bei Verwandten wohnte, während ihr Bruder in einer ganz anderen Stadt von Menschen aufgezogen wurde, die sie nicht kannte. Mehr erzählte sie nie, zumindest nicht von sich aus, lieber als zu reden betete sie. Sie hatte sich in einer Nische im Gang so etwas wie einen Altar gerichtet, ein anderer Name dafür fiel ihm nicht ein, damals als Kind nicht und heute nicht, wenn er als erwachsener Mann daran vorbeigeht, ohne diese seltsame Stätte noch wirklich wahrzunehmen. Sie nannte es »meine Kapelle«, aber er fand diesen Ausdruck schon als Kind seltsam und zu hochtrabend für diese kleine Ecke, in der eine Marienstatue und ein paar Kerzen standen, in der ein Rosenkranz lag und davor ein kantiges Holzscheit, aus einem Balken geschnitten, das sie benutzte, um darauf zu knien. Sein Vater bot öfters an, ihr etwas Angenehmeres zum Knien zu machen, aber sie lehnte ab. In dieser, ihrer Kapelle, verbrachte sie viel Zeit, aber sie nutzte sie auch für kurze Abstecher, wenn ihre Wege durch das Haus daran vorbeiführten. Dann blieb sie kurz stehen, kniete nieder, schlug ein Kreuz mit gesenktem Kopf, bevor sie aufstand und weiter ging.

Die in der Nische kniende Mutter ist ein Bild, das er nie vergessen hat. Vertraut, immer wieder gesehen, immer wieder beobachtet, scheu ein paar Meter dahinter stehend, keine Bewegung, keinen Ton wagend, denn es war streng verboten, die Betende zu stören. Nie ist ihm die Mutter nie fremder gewesen als in diesen Momenten, den Kopf gesenkt, den gerade durchgedrückten Rücken ihm zudrehend, unnahbar, fern, aus einer anderen Welt. Wie erlöst war er jedes Mal, wenn sie eine Hand hob, um damit ein Kreuz zu machen, eine Bewegung, die ihm lieb wurde, weil er, der kleine, leise hinter ihr stehende Bub, wusste, dass die Mutter nun gleich aufstehen, noch kurz die Falten an ihrem Rock glattstreifen, sich dann umdrehen und aufblicken würde, auf in diese Welt, in der er war, er, der kleine, sehnsüchtig auf seine Mutter wartende Bub, und dann, jedes Mal wenn sie ihn sah, verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln und er durfte losrennen und ihre Arme breiteten sich aus und fingen ihn auf, warm und sicher.

Der Soldat lächelt bei der Erinnerung, das Gewehr immer noch im Anschlag. Er entspannt sich, stellt die Waffe vorsichtig auf den Boden und setzt sich auf die Bank. Ein kurzer Blick auf das schwach beleuchtete Ziffernblatt seiner Uhr und er weiß, dass es eine lange Nacht werden wird, eine sehr lange Nacht. Noch nicht einmal eine Stunde ist vergangen, seit er hergekommen und auf den Turm gestiegen ist, seit er gehört hat, wie die Kollegen lachend über das Feld gegangen und mit dem Pritschenwagen davongefahren sind, noch keine Stunde ist vergangen, seit die Vögel in die Dunkelheit aufgeflogen sind, als hätte sie ein Schuss erschreckt.

ZWANZIG UHR

Ein Brüllen reißt durch die Nacht. Es kommt von der linken Seite, nicht weit weg vom Turm. Der Soldat hebt kurz den Kopf, bleibt aber ruhig und entspannt auf der kleinen Bank sitzen. Nur zu gut kennt er dieses Brüllen. Aber nicht alle kennen es, nicht alle wissen, was dahintersteckt. Ein Grinsen zeichnet sich ab auf seinem Gesicht, denn letzte Woche, als er die Nacht mit einem jungen Präsenzdiener aus der Hauptstadt hier verbringen musste, war das alles anders gewesen. Schon auf dem Weg hierher, über die Wiese, über die die Dämmerung sich langsam gelegt hatte, war ihm der Bursche mit seinen Sprüchen auf die Nerven gegangen. Auch die Tatsache, dass er das Gewehr nicht über die Schulter gehängt hatte, sondern wie bei einem Einsatz in beiden Händen hielt, schussbereit, befremdete ihn. »Die neuen Befehle«, grinste der Bursche, so als ob er seine Gedanken gehört hätte, »echt was los hier beim Heer.«

Der Soldat gab keine Antwort, ging weiter über das dunkle Feld auf den Turm zu, an dessen Fuß schon die beiden Kollegen warteten, die tagsüber Dienst gehabt hatten. Es gab die üblichen dünnen Scherze, »drei haben wir erwischt, wir haben sie gleich eingegraben dort drüben«, dann verschwanden sie über das Feld, hin zu dem Weg, wo der Pritschenwagen wartete und sie und die anderen zurückbrachte.

Der junge Bursche war schon hinaufgeklettert auf den Turm, und als der Soldat ihm folgte und ebenfalls oben auf die Plattform trat, sah er ihn mit dem Feldstecher die Gegend absuchen. Er fühlte sich seltsam abgestoßen von diesem Jungen und seinem Gehabe, das mehr an einen Abenteuerurlaub erinnerte als an den Ernst ihrer Aufgabe. So setzte er sich auf die Bank und war froh, dass sein Begleiter sich wenigstens an die Dienstvorschrift hielt und schweigend das tat, was man wohl von ihm verlangte: Er behielt die Gegend im Auge, schwenkte mit dem Feldstecher von der einen Seite auf die andere, suchte den Zaun ab, das Feld, die Dunkelheit, suchte irgendetwas, was nicht hierhergehörte, was nicht hier sein durfte, auf das er sein Gewehr richten könnte, richten müsste.

Der Soldat saß schweigend hinter ihm auf der Bank und beschloss, das Beste daraus zu machen. Wenn schon der andere alles im Aug hatte, konnte er sich seinen Gedanken hingeben. Und da war einiges, was ihn beschäftigte. Er war am Wochenende zu Hause gewesen, zu Hause bei seinen Eltern, die nicht weit von der Grenze entfernt in einem kleinen Dorf wohnen, zusammen mit der Großmutter, der Mutter seines Vaters. Zu Hause, das war ein Haus mit einem Garten und einem kleinen Swimmingpool, den er zusammen mit seinem Vater vor etwa zehn Jahren gebaut hat, leider, aber daran will er jetzt nicht denken.

Er hatte das Wochenende dienstfrei gehabt, war in seiner kleinen Wohnung unter dem Dach gewesen, in der leeren Wohnung, die einmal so vertraut gewesen war und jetzt nur noch Kälte ausstrahlte und er hatte sich, wieder einmal wie so oft, vorgenommen, endlich auszuziehen, endlich eine eigene Wohnung zu suchen, endlich neu anzufangen. Er hatte einmal darüber mit seiner Mutter gesprochen, und obwohl sie laut protestiert und den Kopf geschüttelt hatte, glaubt er, dass letztlich alle froh wären, wenn er gehen würde, seine Mutter, sein Vater, seine Großmutter. Schließlich sehen sie alle, wenn sie ihm ins Gesicht sehen, immer die gleichen Bilder, immer die gleichen Schrecken, die sie nicht schlafen lassen und wenn, dann folgen ihnen diese Bilder in den Schlaf und werfen sich als Träume über sie. Es gibt einen Punkt, so denkt er sich, an dem es gar keine andere Möglichkeit gibt, als die Menschen zu verlassen, mit denen man eine gemeinsame Geschichte hat, weil diese gemeinsame Geschichte zu einem Albtraum geworden ist und nur zurückgelassen werden kann, wenn man auch die Menschen, die etwas damit zu tun haben, zurücklässt, ihre Blicke, ihre fragenden, suchenden Blicke, die sein Gesicht abtasten bei jeder Begegnung, auf der Suche nach einem Lächeln in seinen Zügen, auf der Suche nach einer Leichtigkeit in seinen Bewegungen, auf der Suche nach einem Zeichen, dass alles wieder gut ist, dass es ihm wieder gut geht, auf der Suche nach Erlösung.

So hatte er dieses Wochenende verbracht, wie unzählige andere zuvor, ohne recht zu wissen, was er tun könnte, tun sollte, war viele Stunden in der kleinen Wohnung unter dem Dach gewesen, manche Stunden im Freien, unterwegs auf den kleinen Feldwegen, die hier überall das Land durchschnitten, Schritt für Schritt für Schritt. Das Gehen, das ziellose Gehen, war seit vielen Jahren zu einer Art Lebensinhalt für ihn geworden, weil es leichter auszuhalten ist, in Bewegung zu sein, als ruhig irgendwo zu sitzen. Nur vor dem Fernseher, da kann er abschalten, das geht, das lenkt genügend ab, um den Stillstand des eigenen Körpers auszuhalten. So sitzt er an den Abenden meistens vor dem Fernseher, manchmal alleine in der kleinen, leeren Wohnung unter dem Dach, manchmal im ersten Stock im Wohnzimmer seiner Eltern, manchmal mit dem Vater, der die meiste Zeit seines Lebens vor dem Fernseher verbringt, manchmal alleine.

An diesem Samstagabend waren seine Eltern weggegangen, er war alleine mit der Großmutter, die stumm auf ihrem Polstersessel saß und so wie er auf den Fernseher starrte. Und dann kamen diese Bilder, ohne Vorwarnung, denn das blaue Wasser am Strand einer Insel, Palmen und beschwingte Musik, braun gebrannte Körper, die sich im Rhythmus wiegten und für eine Süßigkeit Werbung machten – all das konnte nicht als Vorwarnung für das dienen, was kam: die weit aufgerissenen dunklen Augen eines kleinen Jungen, der einen Daumen in seinem Mund hatte, während die Tränen über sein Gesicht liefen, so wie die Bilder über den Bildschirm, die Bilder aus diesem Lager: Menschen, bis zu den Knöcheln im Dreck zwischen Zelten, Menschen mit gesenkten Köpfen, Menschen mit leeren Augen, Menschen, die zu Schatten geworden waren und nur müde in die Kameras blickten. Er hielt den Atem an, so verstörte ihn das, was da auf ihn eindrang. Plötzlich andere Bilder: schreiende Menschen, Dutzende, Hunderte, eine Ansammlung von verzerrten Grimassen, die Hände zum Himmel erhoben, zu Fäusten geballt. Davor in einer Linie Soldaten mit Gewehren, und dann passierte das, was seitdem in allen Medien ist, in aller Munde, dann krachten die Schüsse. Bewegung entstand in der schreienden Masse, Chaos, Panik, Flucht. Irgendwo lagen Körper, irgendwo schrien Menschen, dann drängten sich andere Gesichter ins Bild, ernste Gesichter, ernste Männer mit sauberen Händen, dunklen Anzügen und ordentlich gebundenen Krawatten, mit angemessenen Worten und Gesten, mit Worten wie »Tragödie«, »eskaliert«, aber auch »Grenzen schützen«, »letztes Mittel«, »notwendig«, und mitten in all dieser grauenhaften Symphonie, die aus dem Fernseher auf ihn eindrang, sprang plötzlich die Großmutter aus ihrem Polstersessel auf in einer schnellen Bewegung, die er ihr niemals zugetraut hätte. Sie drehte sich um, weg vom Fernseher, und für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke. Ihr Gesicht in diesem Augenblick hat sich in sein Inneres eingebrannt, das hat er mitgenommen in den Tagen danach, in den Nächten danach, auch als er mit diesem Burschen letzte Woche auf den Turm gehen musste, um die ganze lange Nacht Wache zu halten, auch da war dieses Gesicht seiner Großmutter in seinem Inneren dabei: ihre aufgerissenen Augen, ihre zusammengepressten Lippen, Tränen auf den Wangen. Sie ging an ihm vorbei, den Blick zu Boden gesenkt, vorbei in diesem Wohnzimmer in diesem Haus in diesem kleinen Dorf, das nicht weit von der Grenze entfernt ist und in dem sein Vater vor Wochen schon die Schlösser ausgetauscht hatte.

Die Tür fiel zu, er war alleine im Wohnzimmer und sah, dass der Fernseher schon wieder eine andere Welt anzubieten hatte, einen Hund, braun, groß, mit seidig glänzendem Fell, der in Zeitlupe über einen Bach sprang und mitten in der Luft stehen blieb, während eine Schrift nach oben lief, zusammen mit einer Schachtel Hundefutter, und von rechts oben rot glitzernde Sterne über den Bildschirm rieselten.

Der Soldat sprang auf, nahm die Fernbedienung und schaltete ab. Die plötzliche Ruhe erschreckte ihn. Er ging ein paar Schritte zum Fenster, schaute hinaus in die hereinbrechende Dunkelheit und fühlte sich unangenehm an seinen Vater erinnert, der seit Wochen, Monaten, jeden Abend aus den Fenstern schaute, die Gegend beobachtete, den Garten im Auge behielt. Diese Gedanken ärgerten ihn und er verließ fluchtartig das Wohnzimmer, stieg mit hastigen Schritten hinauf in die kleine Wohnung, in die leere Wohnung unter dem Dach, das Gesicht seiner Großmutter in Gedanken mit nach oben nehmend, dieses Gesicht, das jetzt wieder in all seinem Entsetzen in seinem Inneren vor ihm stand, wie ein seltsamer Lampion, so vertraut, so fremd. Und in diesem Moment riss dieses Brüllen durch seine Gedanken und holte ihn auf den nächtlichen Turm zurück, auf dem sein junger Begleiter zusammenzuckte, sich instinktiv hinter die Brüstung duckte, den Feldstecher ablegte, das Gewehr packte, anlegte und in die Dunkelheit hinauszielte. »Was ist das?«, flüsterte er und wieder ein Brüllen und noch eines von der anderen Seite. Der Präsenzdiener wirbelte herum, richtete das Gewehr auf die andere Seite, blind in die Dunkelheit hinein, sein Atem ging stoßweise: »Wir brauchen Verstärkung!« Der Junge griff nach unten, griff nach dem Funkgerät. In diesem Augenblick stand der Soldat auf, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Lass nur«, sagte er mit einem Grinsen, das sein Begleiter nicht sehen konnte, »die schnappen wir uns allein!«

Der Junge erhob sich aus seiner gebückten Haltung und starrte dem Soldaten ungläubig ins Gesicht. »Allein?«, stotterte er und suchte im Gesicht des Älteren nach etwas, was er als Ironie oder Anzeichen eines Scherzes hätte deuten können. Der Soldat wandte sich schnell ab, griff nach seinem Gewehr und stieg die Leiter vom Turm hinunter. Unten angekommen kniete er mit einem Bein nieder, das Gewehr im Anschlag, den Lauf in das Dunkel gerichtet, und wartete auf den Jungen, der schwer atmend neben ihm in dieselbe Position ging. Der Soldat konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen, blickte zu dem Jungen. »Ich geb dir Feuerschutz.«

»Feuerschutz?«, stammelte der Präsenzdiener und zuckte zusammen, als neuerlich ein Brüllen durch die Dunkelheit brach. »Los!«, sagte der Soldat, »ungefähr fünfzig Meter, dann gibst du mir Feuerschutz, dann komm ich nach!«

»Fünfzig?«, flüsterte der Junge.