image

image

Joachim Friedrich, in Oberhausen geboren, ist ein deutscher Kinder- und Jugenbuchautor. Er wohnt in Bottrop.

Nach seinem Realschulabschluss begann er eine Ausbildung in einem Büro, fand diese Tätigkeit jedoch schnell langweilig.

Mit nachgeholtem Abitur studierte er Volkswirtschaftslehre. Nach bestandener Doktorarbeit war er einige Jahre für die Lufthansa tätig, bevor er zu schreiben begann.

JOACHIM FRIEDRICH

ANA-LAURAS
TANGO

image

Für Ingrid

eISBN 978-3-03864-222-0

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

„Wer kann sagen, wie wir heißen, woher wir stammen, wo wir geboren sind?“

- Rotes Kreuz, Suchdienst Hamburg

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

1. Kapitel

„Meine Damen und Herren, hier spricht noch einmal der Kapitän. Ich hoffe, Sie genießen weiterhin unseren Flug nach Buenos Aires. Der letzte Wetterbericht ist außerordentlich erfreulich. Uns erwarten ein wolkenloser Himmel und Temperaturen von 26 Grad Celsius.“

Die Stimme aus dem Cockpit verstummt und ich scrolle unschlüssig durch das Menü des Onboard-Unterhaltungprogramms. Die Spielfilme kenne ich schon oder sie interessieren mich nicht. Erst im Musikprogramm werde ich fündig: Tango! Was auch sonst? Schließlich sind wir auf dem Weg nach Argentinien! Ich setze die Kopfhörer auf und starte das Programm.

Schon die ersten Takte der melancholischen Musik katapultieren mich mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Als wäre es erst gestern gewesen, erinnere ich mich an jenen ersten Schultag vor den Sommerferien, als ich meinen toten Vater in einem Taxi sah.

image

Wie immer, wenn es Zeugnisse gab, konnten wir nach der zweiten Stunde gehen. Ich war noch durch die Stadt geschlendert. Hätte ich das nicht getan, wäre wahrscheinlich alles anders gekommen. Es war schon fast Mittag, als ich allein nach Hause fuhr. Der Bus ist um diese Zeit fast leer. Ich setzte mich auf einen Fensterplatz und sah hinaus, döste vor mich hin und grübelte darüber nach, was ich wohl in den Ferien tun würde. Urlaub war nicht angesagt. »Kein Geld«, hatte Mama schlicht und ergreifend gemeint.

An irgendeiner Ampel passierte es dann. Neben uns hielt ein Taxi. Auf dem Hintersitz saß ein Mann, der mir auf den ersten Blick bekannt vorkam, obwohl ich zunächst nur seinen Hinterkopf sah.

An das, was dann geschah, kann ich mich erinnern, als hätte es Stunden gedauert, obwohl höchstens eine oder zwei Minuten vergangen sein konnten. Der Mann in dem Taxi drehte sich um, sodass ich sein Profil sehen konnte. Es war ein Gefühl wie ein Faustschlag in den Magen. In dem Taxi saß Papa! Aber das konnte nicht sein! Papa war seit fast zwei Jahren tot!

Ein Doppelgänger, dachte ich mir sofort. Es muss ein Doppelgänger sein!

Gleichzeitig konnte ich es nicht glauben. Sicher ist es möglich, dass zwei Menschen sich zum Verwechseln ähnlich sehen, aber genau gleich? Das gleiche Gesicht, die gleichen Haare. Er trug sogar diese Stoppelhaarfrisur.

»Ich habe so viele Haarwirbel«, hatte Papa mir einmal erzählt. »Wenn ich meine Haare länger wachsen ließe, sähe ich aus wie ein aufgerissenes Sofakissen.«

Obwohl das alles mit Papa übereinstimmte, hätte ich möglicherweise immer noch daran gezweifelt, dass es tatsächlich mein Vater war. Ich konnte nur seinen Kopf und seine Schultern sehen. Er hätte immer noch größer oder kleiner, dicker oder dünner als Papa sein können. Doch dann fasste er sich an seine Nasenspitze! Er las etwas und dabei nahm er seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und knetete sie einmal kräftig durch. Das dauerte nur Sekunden, es genügte jedoch, um mich davon zu überzeugen, dass der Mann nur einer sein konnte, nämlich mein Vater. Wie oft hatten Mutter und ich ihn mit seiner Nasenrubbelei aufgezogen. Er hatte es immer getan, wenn er in Gedanken gewesen war: beim Fernsehen, wenn er mit Kopfhörern in seinem Sessel saß und Musik hörte – und beim Lesen!

Ich sprang auf und hämmerte wie eine Verrückte gegen die Scheibe. »Papa!«, schrie ich. »Papa! Papa!«

Heute weiß ich, dass er mich nicht hören konnte, doch in jenem Augenblick drehte ich voll durch. Papa war tot! Alle hatten das gesagt. Nie wieder würden wir ihn sehen. Nie wieder!

Und nun saß er neben mir in einem Taxi und hörte mich nicht! Ich rannte zur hinteren Tür des Busses und rüttelte daran. Ich schrie und tobte und heulte. »Aufmachen! Aufmachen! Papa!«

Die Leute im Bus dachten wohl alle, ich sei völlig durchgeknallt. Mir konnte das sowas von egal sein. Alles, was ich wollte war, die Tür aufreißen und hinausspringen, bevor die Ampel auf Grün wechselte.

Und das tat ich im nächsten Moment. Das Taxi fuhr an und bog nach rechts ab. Wir fuhren geradeaus. Ich dachte, ich werde wahnsinnig. Es war ein Wagen der Taxizentrale. Noch während ich weiterschrie, merkte ich mir die Autonummer. Ich weiß nicht, warum. Ich tat es einfach.

»Bitte Ruhe dahinten!«, brüllte der Busfahrer durch sein Mikrofon. »Hör auf, meinen Bus zu demolieren! Setz dich auf deinen Platz! Zwischen den Haltestellen werden die Türen nicht geöffnet, zum Donnerwetter!«

Jemand berührte mich vorsichtig an der Schulter. »Mein Gott, Kind! Was ist mit dir?«

Ich drehte mich um. Es war eine ältere Frau.

»Das war mein Vater!«, schrie ich sie an. »Da in dem Taxi!«

»Aber warum regst du dich so darüber auf? Wenn du nach Hause kommst, kannst du ihn doch fragen, warum er mit dem Taxi gefahren ist.«

»Aber mein Vater ist tot! Verstehen Sie? Er ist bei einem Hotelbrand ums Leben gekommen! Wie kann er da mit einem Taxi fahren?«

Die Alte wechselte einen vielsagenden Blick mit einer Frau gleich neben der Tür, die sich erschreckt die Hand vor den Mund hielt. Ganz klar, sie hielt mich für eine Irre. Warum sollten sie mir denn auch glauben? Ich konnte es selbst kaum fassen.

Sie nahm meinen Arm. »Armes Kind. Komm, wir setzen uns.«

Ich gehorchte ihr wie im Traum. Ich hasse dieses »Armes-Kind«-Getue. Damals schon, kurz nachdem es passiert war, konnte ich mich davor nicht retten. Verwandte, Freunde und Bekannte von Mama und Papa, Leute, die ich kaum kannte, alle kamen sie und sagten: »Armes Kind!«

Ich bin kein armes Kind! Vielleicht war ich damals eines gewesen, als Papa noch lebte, aber damit war es längst vorbei. Als ich erfuhr, dass Papa einen Hotelbrand nicht überlebt hatte, kapierte ich zuerst überhaupt nicht, was geschehen war. Erst in der Folgezeit lernte ich zu begreifen, dass Papa weg war – für immer. Ich weiß nicht, wie viele Kissen ich nass geheult habe, und ich erinnere mich auch nicht mehr, wann genau ich aufgehört habe, traurig zu sein. Es war sicher ein langer Prozess, während dessen ich versuchte, mit dem Schmerz fertig zu werden. Irgendwann hörte ich auf, traurig zu sein, und ich glaube, von diesem Zeitpunkt an war ich kein Kind mehr. Ich gewöhnte mich daran. Ich vergaß ihn nicht. Papa war immer da. Nur eben anders als früher. Und nun das! Als wäre die Zeit zurückgedreht worden.

Die Frauen redeten auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, was sie sagten. Wahrscheinlich wollten sie mich trösten. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Papa war wieder da! Dabei hätte ich fast meine Haltestelle versäumt.

»Bist du wieder in Ordnung?«, hörte ich die alte Frau sagen, als ich aufstand. »Ja, ja. Danke.«

Irgendwie schaffte ich es, nach Hause zu kommen. Mama war in der Küche. Sie hatte sich freigenommen.

»Der letzte Schultag vor den Ferien muss gefeiert werden«, hatte sie gesagt. »Ich koche dir dein Lieblingsessen. Und dann machen wir es uns gemütlich.«

Noch als ich vor der Haustür stand, hatte ich überlegt, ob ich es ihr erzählen sollte. Das alles war zu verrückt! Mama kam mir zuvor. Als sie mich sah, fiel ihr beinahe der Kochtopfdeckel aus der Hand.

»Um Gottes willen, Ana-Laura! Wie siehst du aus? Du bist ja bleich wie die Wand! Was ist los? Irgendwas in der Schule? Bist du doch sitzen geblieben? Kommst du deshalb so spät?«

»Nein, nein, Mama. Da ist alles in Ordnung. Aber …«

»Aber was? Nun rede endlich! Was ist passiert?«

»Ich, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Ist da etwas mit einem Jungen? Ana-Laura! Du bist doch nicht etwa …« »Ach, Quatsch! Mama!«

»Ist ja schon gut. Aber schließlich wärst du nicht die Erste, die in deinem Alter schwanger wird.«

So hatte das keinen Sinn. Ich musste es ihr sagen. Sofort!

»Es ist wegen Papa.«

»Papa? Warst du auf dem Friedhof? Ist etwas mit dem Grab nicht in Ordnung?«

»Ich habe ihn gesehen, Mama.«

»Wen hast du gesehen?«

»Papa. Er saß in einem Taxi. Er war es, Mama. Ganz bestimmt! Er war es!«

Ich hatte versucht, mir vorzustellen, wie Mama reagieren würde, wenn ich es ihr erzählte. Würde sie mich anschreien oder weinen oder vielleicht sogar lachen? Nichts davon war richtig. Sie reagierte überhaupt nicht. In ihrem Gesicht war nicht die kleinste Regung zu sehen. Nur ihre Augen schienen plötzlich dunkler geworden zu sein. Sie nahm ihre Schürze ab und setzte sich. Das hieß, dass sie mit mir reden wollte. Mir wurde heiß.

»Darf ich mir erst meine Jacke ausziehen?«

»Sicher.«

Ich warf sie über eine Stuhllehne. Mama meckerte nicht darüber wie sonst immer. »Gut, Ana-Laura. Jetzt lass uns in Ruhe darüber sprechen. Wen oder was hast du gesehen?«

»Mama, ich weiß, dass es total irrsinnig klingt. Aber es war Papa! Ich habe ihn vom Bus aus gesehen. Er saß in einem Taxi. Ich konnte es zuerst selbst nicht glauben. Aber es stimmte alles. Sogar die Frisur! Und dann hat er seine Nase gerubbelt. Genauso wie er es immer gemacht hat. Glaub mir, Mama! Bitte!«

Mama rückte mit ihrem Stuhl ein Stück näher an mich heran. Ich sah, wie sie nach Worten suchte. »Schätzchen, sieh mal, du musst verstehen, dass es mir wirklich sehr schwer fällt, das zu glauben. Kannst du dich nicht geirrt haben? Vielleicht hast du nur jemanden gesehen, der Papa ähnlich sieht. Und da hat dir deine Fantasie einen Streich gespielt.«

»Nein!«, schrie ich sie an. »Es stimmte alles! Sogar die Frisur!« Mama schluckte. Sie wusste genau, was das bedeutete. Eine Frisur, wie Papa sie hatte, gibt es kein zweites Mal.

»Ach, Ana-Laura. Ich verstehe ja, wie sehr du Papa vermisst.«

»Dafür hast du dich umso schneller daran gewöhnt.«

Ich wusste, dass ich Mama damit unrecht tat. Aber ich wollte ihr wehtun. Warum glaubte sie mir nicht? Wenn nicht sie, wer dann? Mama ließ meine Hand los. »Aha! Das ist es also. Ich habe es doch geahnt! Es ist wegen Peter!«

»Das stimmt nicht! Wirklich nicht!«

»Doch, Ana-Laura! Meinst du, ich weiß nicht, dass es schwer für dich ist? Aber dann sag es mir offen ins Gesicht. Solche Spielchen haben wir beide nicht nötig.«

»Spielchen? Glaubst du etwa, dass ich – gelogen habe?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

»Du bist gemein!« Ich fühlte, wie die Wuttränen in mir hochstiegen. Ich kämpfte dagegen an. Heulen hätte alles nur noch schlimmer gemacht. »Du weißt ganz genau, dass ich nichts dagegen habe!«, schrie ich meine Mutter an. »Es ist mir total egal, ob du deinen neuen Typen mit nach Hause bringst!«

Das stimmte zwar nicht so ganz, aber zu denken, dass ich mir etwas ausdachte, nur um diesem Peter bei uns Zuhause nicht zu begegnen, war wirklich das Letzte. Irgendwie war ich sogar gespannt auf ihn. Noch neugieriger war ich allerdings auf seinen Sohn. Ein Jahr älter als ich sei er, hatte Mama erzählt. Da konnte man ja nur gespannt sein. Und warum sollte Mama eigentlich keinen neuen Freund haben? Schließlich waren seit dem Brand, bei dem Papa umgekommen war, schon zwei Jahre vergangen. Aber wenn Papa tatsächlich noch lebte? Musste Mama dann mit ihrem Freund Schluss machen? Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken.

»Tut mir Leid, Ana-Laura«, hörte ich Mama sagen. »Die Nerven sind mit mir durchgegangen. Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn du mir solche Sachen erzählst.«

»Verstehe ich ja. Nur gelogen habe ich nicht!«

»Du weißt doch so gut wie ich, dass Papa verunglückt ist.«

»Natürlich weiß ich das! Ich dachte nur, dass man ihn nie – du hast doch selbst gesagt, dass er nicht mehr zu erkennen war. Da könnte es doch sein, dass er noch lebt.«

»Und wenn es so wäre?«, schrie Mama mich nun an. »Warum hat er sich dann nicht bei uns gemeldet? Warum hat uns niemand angerufen und gesagt, dass er noch lebt? Und warum erst jetzt? Nach zwei Jahren?«

»Weiß nicht.«

Mama nahm wieder meine Hand. »Liebes! Auch wenn es noch so schlimm ist, müssen wir uns damit abfinden, dass er nicht mehr da ist.«

Ich nickte.

»Also lass uns nicht mehr darüber reden, was oder wen du gesehen hast. Ich ertrage das nicht.«

Ich sagte nichts.

»Einverstanden, Ana-Laura?«

»Einverstanden.«

»Gut. Dann mache ich jetzt weiter. Sonst wird unser Essen nie fertig. Schließlich wollen wir doch deine Versetzung feiern. Übrigens, was ist eigentlich mit deinem Zeugnis?«

Mama und ich sprachen tatsächlich nicht mehr über den Mann im Taxi, nicht an dem Tag und nicht am Tag darauf. Doch dann kam der Sonntag.

2. Kapitel

Mama flippt schon aus, wenn normaler Besuch angesagt ist. Das war aber noch nichts gegen den Wirbel, den sie an diesem Sonntag veranstaltete. Ihr neuer Freund sollte zum ersten Mal zu uns kommen. Die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt. Ich musste natürlich helfen.

Mama und er arbeiten in derselben Firma. Sie hatten sich auf einem Fest kennen gelernt. Er ist auch Witwer, nur dass seine Frau schon viel länger tot ist als Papa. Und er hat einen Sohn! Ich weiß nicht, wer aufgeregter war, Mama oder ich.

Gerade als ich meine Stofftiere im Schrank verschwinden ließ, läutete es an der Haustür. Kurz darauf waren Stimmen zu hören. Eine Minute später Mamas unverwechselbarer Lockruf: »A-na-Lau-ra!«

Noch einen Blick in den Spiegel, und es ging in die Schlacht. Zuerst sah ich Peter. Er strahlte mich mit ausgestreckter Hand an. Er gefiel mir. Ich wusste auch schnell, warum. Er hatte Ähnlichkeit mit Papa. Natürlich nicht so viel wie der Mann in dem Taxi, aber der gleiche Typ war er schon. Immerhin war es nicht ungewöhnlich, dass Mama sich in jemanden verknallt hatte, der Papa ähnlich war. Außerdem war er älter als Mama, genau wie Papa.

Ich hatte mir vorgenommen, total cool zu bleiben. Daraus wurde nichts. Ich stotterte wie eine Dreijährige am ersten Tag im Kindergarten: »Guten Abend, Herr – äh – wie heißt der denn eigentlich, Mama?«

»Ana-Laura! Bitte!«

Peter lachte laut auf. Auch das gefiel mir, obwohl ich merkte, dass ich rot anlief.

»Sag einfach Peter. Okay?«

Ich nickte. Ich muss ausgesehen haben wie eine schwachsinnige Tomate.

»Und das ist Oliver.«

Er stand neben seinem Vater. Arme, die fast bis an die Knie reichten, und Pickel, wohin man sah. Eine Kreuzung aus E.T. und einem Streuselkuchen.

»Hallo!«, kiekste er. Stimmbruch. Auch das noch, dachte ich. Er strahlte mich an. Das gleiche Lachen wie sein Vater. Vielleicht wurde es doch nicht so schlimm. Aber als fester Freund oder etwas in der Richtung fiel er ganz klar aus. Mit dem konnte ich mich vor meiner Klasse nicht blicken lassen.

»Hallo«, grüßte ich zurück. Sehr intelligent. Wenn mein Lächeln tatsächlich so blöde ausgesehen hat, wie es mir in dem Augenblick schien, dachte er wahrscheinlich, dass er mit mir Blindekuh oder Topfschlagen spielen müsste.

Während des Abendessens versuchte ich, mich in etwas besserem Licht zu zeigen. Ich redete und redete. Dabei war ich ziemlich cool. Jedenfalls versuchte ich es.

Oliver erzählte fast gar nichts, er hörte mir zu. Das fand ich gut. Als er dann doch einmal den Mund aufmachte, trat er gleich voll ins Fettnäpfchen.

»Ist das dein Vater?«, fragte er und zeigte auf ein Bild von Papa, das auf dem Sideboard stand. Mama hat es stehen lassen. Direkt neben einem Topf mit Kakteen und dem Haustelefon. Warum auch nicht? Schließlich muss sie sich seinetwegen nicht schämen. Und ich mich schon gar nicht.

Peter ging hoch wie eine Rakete. »Oliver! Wie kannst du …«

»Lass ihn doch. Warum soll er nicht fragen?«, unterbrach Mama ihn. »Ja, Oliver, das ist mein Mann. Er ist vor zwei Jahren bei einem Feuer ums Leben gekommen.«

»Sie haben jemanden in seinem Zimmer gefunden, der verbrannt war«, verbesserte ich sie. Ich konnte nicht anders.

Sie verstand mich auch gleich richtig. »Hatten wir nicht eine Vereinbarung getroffen, Ana-Laura ?«

»Ja, Mama. 'tschuldigung.«

»Was ist denn los?«, wollte Peter wissen.

»Ach nichts. Nicht so wichtig.«

Ich hoffte sehr, dass sie das nur gesagt hatte, um ihn nicht noch neugieriger zu machen. Er gab sich auch damit zufrieden. Wahrscheinlich spürte er, dass Mama nicht darüber reden wollte.

»Wollt ihr nicht auf dein Zimmer gehen?«, fragte sie mich. Übersetzt heißt das: Könnt ihr nicht endlich verschwinden und uns in Ruhe lassen?

Wir räumten widerstandslos das Feld. Für mich war das kein Problem. Ich wollte Olivers Musikgeschmack testen. Ich kam aber noch nicht einmal dazu, eine einzige Scheibe meiner Sammlung aufzulegen, die zum Teil aus der Plattensammlung meines Vaters bestand.

Oliver, als ob er nur darauf gewartet hätte, sich bei mir zu entschuldigen, traf gleich ins Schwarze, kaum waren wir in meinem Zimmer.

»Das mit deinem Vater tut mir Leid. Ich meine, dass ich so blöde gefragt habe.«

»War gar nicht so blöde, fand ich. Schließlich musst du wissen, mit wem meine Mutter einmal verheiratet war. Wer weiß, was aus ihr und deinem Vater noch wird.«

»Meinst du, dass sie – ich meine, ob sie vielleicht irgendwann heiraten oder so? Dann wären wir ja Geschwister, sozusagen.«

»Wäre das schlimm?«

Toll! Ich hatte es geschafft, dass Oliver eine gesunde Gesichtsfarbe bekam. Ich fühlte mich etwas wohler, wenn ich an meine missglückte Begrüßung dachte.

»Nee, natürlich wäre das nicht schlimm. Ganz im Gegenteil.«

Mist! Nun wurde ich wieder rot.

Zum Glück wechselte er das Thema. »Was meinte deine Mutter eigentlich damit, als sie sagte, dass ihr eine Vereinbarung habt? Hat das etwas mit uns zu tun?«

»Mit euch? Nein. – Das heißt, eigentlich doch. Aber nur indirekt.«

»Indirekt? Was heißt das? Kapiere ich nicht.«

Ich überlegte einen Augenblick, ob ich ihm von meiner Begegnung mit Papa erzählen sollte. Oliver war neutral, was Papa betraf. Vielleicht glaubte er mir eher als meine Mutter. Also erzählte ich ihm die Geschichte.

»Und die Vereinbarung, von der deine Mutter gesprochen hat, war, dass ihr nicht mehr darüber redet?«, fragte er mich, als ich fertig war.

»Ja. Irgendwie kann ich es ja auch verstehen. Trotzdem finde ich es nicht gut.«

Oliver fummelte an einem Pickel auf seiner Nase herum. Das sah unmöglich aus! Wenn wir uns öfter sehen sollten, musste er sich das abgewöhnen.

»Na ja, ehrlich gesagt, etwas seltsam hört sich deine Geschichte schon an.«

»Seltsam?«, rief ich. »Glaubst du mir etwa auch nicht?«

»Nun reg dich nicht gleich künstlich auf! Was würdest du denn sagen, wenn dir jemand erzählte, er hätte einen Toten quicklebendig in einem Taxi gesehen?«

»Ich würde ihn für bescheuert halten«, gab ich zu.

»Eben.«

»Wie?«

»Nein, nein! Reg dich nicht schon wieder auf! Ich halte dich nicht für bescheuert. Ich versuche nur, das Ganze irgendwie auf die Reihe zu bekommen.«

»Was soll das denn nun schon wieder heißen?«

»Das heißt, dass es irgendeine Erklärung dafür geben muss.«

Ich stand auf und sah aus dem Fenster. »Was glaubst du wohl, worüber ich mir in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen habe?«, fragte ich die Fensterscheibe.

»Und?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.« Ich drehte mich wieder zu Oliver um. Er bearbeitete gerade einen Pickel auf seinem Kinn.

»Musst du ständig in deinem Gesicht herumfummeln?«, fuhr ich ihn an.

Er zuckte zusammen und steckte seine Hand in die Hosentasche. »Mein Vater meckert auch dauernd deswegen. Aber das mache ich immer, wenn ich nachdenke.«

»Und was ist dabei herausgekommen? Bei deinem Nachdenken, meine ich.«

»Wenn es keine Geister gibt, kommen eigentlich nur zwei Möglichkeiten infrage. Entweder es war ein Doppelgänger oder dein Vater ist gar nicht tot.«

»Das war kein Doppelgänger!«, rief ich.

»Warum bist du so sicher?«

»Du hast doch das Foto von ihm gesehen, oder?«

»Ja. Und?«

»Kannst du dir vorstellen, dass es noch jemanden gibt, der so eine seltsame Frisur hat?«

»Weiß nicht. Ungewöhnlich ist sie schon. Stimmt.«

»Das ist aber noch nicht alles. Er hat beim Lesen seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger gerieben.«

Oliver sah mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. Allmählich ging mir das auf den Geist, dass alle auf die Idee kamen, ich sei bescheuert, nur weil ich so sicher war, dass ich meinen toten Vater gesehen hatte.

»Das hat mein Vater auch immer gemacht, wenn er gelesen hat.«

»Dann ist dein Vater auch nicht tot«, meinte Oliver, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Aber das ist auch nicht möglich!«, rief ich wieder. Ich würde noch meinen Verstand verlieren, wenn das so weiterginge. Je mehr ich mich aufregte, desto ruhiger wurde Oliver. »Wie ist es denn eigentlich passiert? Deine Mutter hat gesagt, es wäre ein Feuer gewesen?«

Immer wenn ich darüber reden sollte, war alles wieder da. Als wären nicht Jahre, sondern nur ein paar Tage vergangen.

»Oder willst du es mir nicht erzählen?«, fragte Oliver, als hätte er mit mir gemeinsam in meinem Kopf herumgegrübelt.

»Ich will schon, aber …«

»Ist nicht leicht, oder?«

»Nun, er ist nie so richtig gefunden worden, weißt du«, begann ich dann doch. »Ich meine, seine …«

»Wieso nicht richtig gefunden? Was heißt das?«

Es ist in Südamerika passiert, genauer gesagt in Argentinien, in Buenos Aires. Er hat da in einem kleinen Hotel gewohnt. Eines Nachts ist dort ein Feuer ausgebrochen. Und dabei ist es dann passiert.«

»Feuer? In seinem Hotelzimmer?«

»Ja. Die Feuerwehrleute oder Polizisten oder wer auch immer das da in Argentinien untersucht hat, meinte, dass er sich eine Zigarette angesteckt hätte und dann eingeschlafen wäre. Mama hat sich damals sofort das Rauchen abgewöhnt.«

»Und dein Vater – ich meine, lag er in seinem Bett?«

»Nein, er saß im Sessel.«

»Warum hast du denn dann gesagt, dass sie ihn nicht gefunden haben.«

»Nicht richtig, habe ich gesagt.« Ich musste mich zwingen weiterzureden. »Sein Zimmer muss ziemlich schlimm gebrannt haben. – Mama wollte ihn sehen, als sie ihn nach Deutschland gebracht hatten. Aber das haben sie nicht zugelassen. Das hätte keinen Sinn, haben sie gesagt.«

»Du meinst, dass man nicht mehr erkennen konnte, ob es überhaupt dein Vater war?«

Ich nickte. »Das haben sie jedenfalls gesagt.«

»Dann ist es ja auch gar nicht sicher, ob es überhaupt dein Vater war!«, rief Oliver.

»Eben! Das sage ich doch! Obwohl – die Polizei hat es behauptet. Sie haben alles genau untersucht. DNA und Fingerabdrücke, oder was weiß ich.«

»Die können sich auch mal irren«, meinte Oliver leichthin. »Sogar bei der DNA-Analyse.«

»Das habe ich auch schon gedacht. Aber Mama ist sicher, dass sie Recht haben. Warum, weiß ich auch nicht.«

»Warum ist dein Vater eigentlich in Südamerika gewesen?«

»Da war er öfter. Die Firma, für die er arbeitete, hatte viel in Südamerika zu tun. Trotzdem gibt es da eine Sache, die irgendwie merkwürdig ist.«

Oliver griff an sein Kinn. »Was denn?«

»Mein Vater hat normalerweise nicht in dem Hotel gewohnt.«

»In einem anderen?«