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Kurzbeschreibung:

Um eine alte Fehde beizulegen, ergibt sich Joan MacKenzie dem Wunsch ihres Vaters und heiratet Colin, den Sohn des verhassten MacDonell-Chiefs. Was nach einer friedlichen Einigung über die Besitzansprüche beider Clans aussieht, entpuppt sich als tiefreichende Verschwörung. Joan ist gezwungen von ihrem Familiensitz zu fliehen. Doch der hartgesottene Kriegersohn lässt sich nicht so leicht abschütteln. Colin, der längst für seine Braut entflammt ist, bringt Joan in die raue Bergwelt der Highlands. Er ist sicher, dass sie sich für ihre Rettung erkenntlich zeigen wird. Schon bald muss er erfahren, dass sich eine stolze MacKenzie nicht so einfach erobern lässt ...

Claudia Romes

Die Flamme der Highlands


Historischer Liebesroman


Edel Elements

Für Jasmin,
die diese Geschichte als Erste gelesen hat

Kapitel sechzehn

Vierzehn Monate später

Joan stand am Ufer von Loch Duich und schaute auf das Wasser hinaus, an dessen Rändern das Eis im Licht der Sonne glitzerte. Der Winter schenkte Schottland einen seltenen, strahlenden Tag. Nahezu keine Wolke zog über die Highlands hinweg. Am Morgen hatte der Schneefall nachgelassen. Die Temperaturen stiegen an. Joan ließ ihren Blick über die ufernahen Bäume und Sträucher schweifen. An einigen zeigten sich bereits erste Knospen. Obwohl sie das neue Leben, das mit dem Wechsel der Jahreszeiten einherging, liebte, fürchtete sie sich vor dem, was der Frühling bringen würde.

„Du bist ganz versunken.“ Colin kam neben sie und drückte ihr seinen Kuss aufs Haar.

„Ich habe einen Brief erhalten.“ Joan zog ein Schriftstück aus ihrer Rocktasche. „Er ist von Cecilia.“

„Dann sind sie und Betsy in Kirkwall angekommen?“

Joan nickte. „Sie sind dort bei einer Lady Hetterley. Cecilia schreibt, Betsy macht sich gut. Sie lernt schnell.“

Colin legte den Arm um seine Frau. „Was hat Kenny für seine Mühen genommen? Er hat es sich doch sicher gut bezahlen lassen, die beiden an einem Ort unterzubringen, der weit genug weg ist, damit sie niemand aus dem Bordell wiedererkennt.“

Joan nickte verdrossen. „Das hat er“, verriet sie. „Aber das war es mir wert.“ Dass sie Kenny den Rubinschmuck ihrer Mutter überlassen hatte, damit er Cecilia und Betsy eine Anstellung verschaffte, behielt sie für sich. Freiheit hatte nun mal ihren Preis, und der war für jeden ein anderer. Der Handel hatte Joan gezeigt, woher Kennys Luxusgüter kamen. Sie wollte gar nicht wissen, mit wem er alles bereits Geschäfte gemacht hatte.

Colin blickte seine Frau von der Seite an. Er bewunderte sie für ihre Willensstärke, ihren Stolz und für ihr gutes Herz. Den kleinen Talisman, den er ihr in der Hütte im Wald geschenkt hatte, nahm sie niemals ab. Er war das Symbol ihres Weges, ihrer Zugehörigkeit zu ihm und zu Ebrath, die eine Legende war. Colin und Joan konnten noch eine werden.

Joan seufzte und hob den Blick zum Himmel. Sie konnte ihre Sorgen nicht vor ihrem Ehemann verbergen.

„Sie werden uns nichts tun“, versicherte Colin ihr. „Wir haben ihnen keinen Grund gegeben.“

„Das haben wir doch nie.“

Colin war die Schwermütigkeit in ihrer Stimme nicht entgangen. Joan hatte nicht hoffnungslos klingen wollen. Es war nicht ihre Art zu verzweifeln, aber etwas war nun anders geworden. Sie spürte eine neue Kraft in sich, für die es sich mehr denn je zu leben lohnte. „Sämtliche bisherigen Verhandlungen mit den Engländern sind gescheitert. Barnett lässt sich auf keinerlei Entgegenkommen ein. Er weiß, er hat hier mehr Feinde denn je.“

„Seine Forderungen sind überirdisch. Keiner von uns wird die dauernde Anwesenheit dieser englischen Spitzel dulden“, pflichtete Colin ihr bei. „Ich bin mir nicht sicher, ob der König von seinen Machenschaften hier weiß.“

„Er weiß es.“ Jene Tatsache kam Joan nur schwer über die Lippen. Ihr Vater hatte dem König alles über Barnetts Einfall in die Burg geschrieben, denn er hatte die Hoffnung, dass der Colonel eigenhändig gehandelt hatte, indem er Streit zwischen den Clans provozierte. Alles, was George MacKenzie von König Jakob als Antwort erhalten hatte, war der Aufruf, ihn über sämtliche Aufstände zu informieren und die Burg für englische Soldaten zur Verfügung zu stellen, wann immer sie ein Quartier benötigten. Kein Wort über Barnett. Er war nicht einmal seines Amtes enthoben worden – was allen gezeigt hatte, auf wessen Seite der König stand. Die Clans waren allein und von einer wankelmütigen Gnade abhängig.

Colin atmete hörbar aus. „Wir werden eine Lösung finden und uns mit ihnen einigen.“

„Das hoffe ich.“ Joan drehte sich zu ihm um und sah ihm tief in die Augen, die sie so liebte. „Wir brauchen Eilean Donan Castle, wir brauchen dieses Land und seine Menschen, und sie brauchen uns. Wenn wir zueinander finden konnten … uns verlieben konnten …“ Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. „Wir, die Clans, sind das Herz und die Zukunft Schottlands.“

„Joan, mein Liebstes, heißt das etwa, dass …?“

„Ja.“ Sie strahlte ihn an. „Ich war mir erst nicht sicher, doch jetzt bin ich es. Wir bekommen ein Kind, Colin. Es wird im Sommer zur Welt kommen – so Gott will. Und ich bin sicher, nein, ich weiß, dass es ein Junge wird. Er wird ein Kind beider Clans sein und sie als ihr Chief anführen.“

Colin zog seine Gemahlin freudig an sich, die Lippen an ihrem Ohr flüsterte er: „Joan, meine Joan. Und ich glaubte, wir könnten nicht glücklicher sein.“

„Dann freust du dich also?“

„Aber ja! Das ist das größte Geschenk, das du mir machen konntest.“ Er hielt sie fest im Arm. Gemeinsam schlenderten sie am Ufer entlang.

„Wir sollten ihn Matthew nennen – unseren Sohn.“ Colin blickte stromaufwärts, als könnte er dort die Zukunft sehen. Eine glorreiche, selbstbestimmte Zukunft, fernab von Krieg, Hass und Unterdrückung.

„Das sollten wir“, antwortete Joan euphorisch.

„Es kommen Reiter, Mylords“, rief Rob vom kleinen Pfad aus, der zur Burg hinaufführte, und durchbrach damit den innigen Moment zwischen Colin und Joan.

Colin hob eine Hand in Robs Richtung. „Wir sind gleich da.“

„Glaubst du, es ist Barnett?“ Joan schaute besorgt zur Brücke auf, von der nun donnernde Hufschläge zu hören waren.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es noch einmal wagen würde, persönlich herzukommen. Nein.“ Colin presste die Lippen zusammen. „Er schickt sicher jemand anderen, um uns ein letztes Ultimatum zu stellen.“

„Wir werden unsere Burg nicht aufgeben!“, sagte Joan entschlossen.

„Er ist ein Narr, wenn er das denkt.“

Die vergangenen Monate waren für beide nicht immer leicht gewesen. Colins Vater erholte sich nur langsam von den Verletzungen, die ihm von Beauchamp zugefügt worden waren. Noch immer war er ans Bett gefesselt. Es war nicht sicher, ob er jemals wieder laufen können würde. Die MacKenzies hatten seinen Clan bei sich aufgenommen, denn er hatte sich in größter Not als treuer Verbündeter herausgestellt. Dass ihr Chief jedoch dem Verräter MacRae vergeben hatte, stieß bei den meisten auf Unverständnis. George MacKenzie war der Ansicht, sein früherer Freund sei durch Matthews Tod bereits genug bestraft. Zu seinem eigenen Schutz hatte er Duncan in den Osten geschickt, wo er mit Martin, unter MacLennans Aufsicht, ein einfaches Leben als Pächter führte. Obwohl Colin sich immer wieder für die Entscheidung seines Schwiegervaters bei seinem Clan aussprach, wurde sie von vielen als falsche Gnade empfunden. Dies hatte zur Folge, dass ein neuer Streit schwelte, den Colin und Joan unerbittlich gemeinsam angingen. Beide gehörten unwiderruflich zusammen, was sich auch dadurch zeigte, dass sie in wichtigen Punkten stets einer Meinung waren – und darauf kam es an.

Manchmal neckte Colin seine Gemahlin bewusst, um einen Streit zu provozieren, der sich in leidenschaftlicher Lust entlud. Er liebte es, sie herauszufordern, und Joan genoss es, sich von ihm, ein ums andere Mal, zurückerobern zu lassen. Im Grunde waren die Gefühle, die beide füreinander empfanden, über jegliche Uneinigkeit erhaben. Sie hatten es geschafft, eine jahrzehntealte Fehde beizulegen und die Clans gegen ihren wahren Feind geeint. Nichts schien mehr unmöglich.

„Joan …“ Colin nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Sein Atem gefror an der Luft und vermischte sich mit ihrem zu einer einzigen Dunstwolke.

Ihr sorgenvoller Blick hielt an Colins fest.

„Ich weiß, du fürchtest dich vor der Zukunft. Aber wir geben nicht auf. Niemals“, sagte er mit fester Stimme.

Er betrachtete sie durchdringend, und sie fühlte dieselbe Hitze aufsteigen wie jedes Mal, wenn er sie so ansah. Begierde lag in seinem Blick, Vertrauen und Liebe. Joan legte die Hände um seinen Hals. Seine umschlangen bereits ihre Taille.

„Niemals“, wiederholte Joan ihn. Sie fühlte, wie ihr Herz leichter wurde. Erneut hatte Colin es geschafft, ihr den Mut zurückzugeben, von dem sie glaubte, sie würde ihn nie verlieren. Colin war ihr Seelenverwandter, ihr Geliebter, ihr Freund – der Mann, für den es sich zu leben lohnte.

„Und nun …“ Er strich ihr das flammrote Haar zurück, „lass uns unsere Feinde empfangen.“ Er hielt ihr den Arm hin, und Joan hakte sich ein. Entschlossen, ihr Land, die Burg, mitsamt den Menschen, die ihr wichtig waren, bis zum Ende zu verteidigen. Die Clans standen stärker denn je zusammen, und sie waren in Bezug auf die Engländer vorsichtiger geworden.

Bevor Colin und Joan den Pfad betraten, den sie als Kinder zum ersten Mal miteinander gegangen waren, hielt Colin inne. Er drehte Joan zu sich, und die Lippen der beiden begegneten einander. Noch einmal legte er seine Hand über ihren noch flachen Bauch, und sein Lächeln wurde breit.

Beide dachten an ihre Liebe – die jeder für unmöglich gehalten hatte und die nun durch ein Kind gekrönt werden würde.

In den Highlands hatte sich die Geschichte über MacKenzie und MacDonell herumgesprochen. Es war eine Geschichte über Vertrauen, Liebe und Freundschaft. Sie hatte den Menschen Mut gemacht, ihnen einen Sinn gegeben. Das, was die beiden Chief-Abkömmlinge auf sich genommen hatten, denen die Freiheit über alles ging, hatte etwas in den Herzen der Menschen entzündet. Und niemand glaubte, dass jemals wieder etwas die Clans auseinanderreißen konnte.

Ende

Kapitel eins

Kintail, 1606

Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf das Wasser von Loch Duich und brachten dessen Oberfläche zum Glitzern. Über Eilean Donan Castle war der Himmel in ein warmes Rosa getaucht, das nur durch einige wenige Wolken unterbrochen wurde. Der laue Juliwind schob sie stetig weiter Richtung Osten. Joan MacKenzie rannte die Treppe zum Hof hinunter, an der Ringmauer entlang, und versteckte sich im Schatten des Bergfrieds.

„Dieses unmögliche Kind!“, hörte sie ihre Gouvernante schimpfen. Lady Bridget hatte sie für den anstehenden Besuch in ein Samtkleid zwingen wollen. Joan hasste das unbequeme, zwickende Ding. Es schränkte sie in ihrer Bewegung derart ein, dass sie darin nur steif herumstehen konnte. Andere zwölfjährige Mädchen hätten sicher nichts dagegen gehabt, wie eine Puppe angezogen und vorgeführt zu werden. Nicht so Joan. Sie konnte es nicht ausstehen, etwas tun zu müssen, das für sie keinen Sinn ergab. Darunter fiel das Tragen von unpraktischer Kleidung ebenso wie stumpfsinnige Konversationen. Die starren Verhaltensregeln der Menschen waren ihr in vielerlei Hinsicht suspekt, weshalb sie die Gesellschaft der Tiere bevorzugte. Sie liebte Pferde, die wilde Natur und die Ufer der Meeresbucht, an dem ihr Familiensitz in die Felsen gebaut worden war. Eilean Donan Castle war seit jeher ihr Zuhause. Ein Zuhause, das gleichzeitig aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage eine der am härtesten umkämpften Burganlagen des Landes war. Seit König Jakob vor drei Jahren entschied, Schottland in Personalunion mit England zu regieren, war das Interesse an der Burg noch weiter gewachsen. Plötzlich mischten die Engländer sich in die Belange Schottlands ein, was immer wiederkehrende Aufstände zur Folge hatte – die das Land zunehmend spalteten. Bisher war es Joans Vater, dem Clan-Chief der MacKenzies, jedoch gelungen, die englischen Einflüsse in Kintail so gering wie möglich zu halten – was zweifellos seinem diplomatischen Geschick zu verdanken war. George MacKenzie, der wie König Jakob einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammte, war ein einflussreicher Mann, der, anders als andere Clan-Chiefs des schottischen Hochlandes, stets um ein friedliches Miteinander bemüht war. Er galt als gerecht und ehrenhaft und vermittelte zuverlässig im Streitfall. Wann immer es unter den ansässigen Clans Unstimmigkeiten gab, wurde er zurate gezogen. Wenn niemand in den Highlands eine Lösung fand – George MacKenzie hatte eine parat. Seine einzige Schwäche schien die Liebe zu seiner Tochter zu sein, die er mit Zuwendung nur so überschüttete. Nie hatte Joan von ihm ein Nein gehört, was die junge Clan-Tochter zu einem besonders willensstarken, übermütigen Charakter werden ließ. Hatte Joan sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, konnte sie nichts und niemand davon abbringen. Statt an Gesellschaften in der Burghalle teilzunehmen, brachte sie Stunden damit zu, im seichten Wasser auf Schatzsuche zu gehen oder Steine über die Oberfläche springen zu lassen.

An diesem Morgen war sie, wie so oft, Lady Bridget entwischt, bevor diese in ihr Zimmer gekommen war, um sie zu wecken. Gestern Abend hatte ihr Vater sie davon unterrichtet, dass er Besuch erwartete und Lady Bridget aufgetragen, Joan dafür herzurichten. Jeden Moment würden die Männer eintreffen und die Ruhe auf der Burg stören. Sämtliche Vorkehrungen waren getroffen, jeder Bewohner von Eilean Donan Castle hatte sich auf die Ankunft der Chiefs und deren treuster Clanmitglieder vorbereitet – außer Joan, die nicht vorhatte, sich während des Besuchs blicken zu lassen.

„Margaret Elisabeth Abigail Joan MacKenzie!“, rief Lady Bridget sie mit Nachdruck bei ihrem vollen Namen, den Joan nur dann zu hören bekam, wenn jemand wirklich wütend auf sie war.

Joan ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern. Sie hörte ihre Gouvernante hecheln und warf einen vorsichtigen Blick auf den Hof. Lady Bridget keuchte vor sich hin, die Hände auf die Knie gestützt. Ein bisschen Mitleid hatte sie ja mit ihr. Schließlich waren die vielen Stufen der Burg mit achtundsechzig Jahren nicht mehr so leicht zu bewältigen. Und jammerte Lady Bridget nicht bereits genug wegen ihres Hüftleidens? Joan rümpfte die Nase. An jedem anderen Tag wäre sie wahrscheinlich brav im Bett geblieben und hätte die Reden ihrer strengen Kinderfrau sowie das Herausgeputztwerden über sich ergehen lassen, doch nicht heute. Auf keinen Fall wollte sie den Söhnen der anderen Chiefs, von denen zweifellos einige mitkommen würden, in diesem albernen Kleid und mit hochgestecktem Haar begegnen. Joan erinnerte sich noch zu gut an die letzte Weihnachtsfeier, bei der sie von ihnen ausgelacht wurde, weil sie ähnlich zurechtgemacht worden war. Keiner von ihnen hatte sie ernst genommen oder gar mit ihr spielen wollen. Für Joan war es ein furchtbares Weihnachtsfest gewesen, das sie am liebsten vergessen wollte.

„Wo bist du nur, Kind?“ Lady Bridget klang flehend. Für Joan ein sicheres Zeichen, dass sie dabei war, neben ihrer Geduld auch die Hoffnung darauf zu verlieren, Joan noch rechtzeitig aus ihrem Versteck hervorzulocken.

„Sie sind bereits auf der Brücke“, vernahm Joan Matthews angenehme Stimme. Er war der Sohn des Verwalters Duncan MacRae, der gleichzeitig einer der ältesten Freunde ihres Vaters war. Für Joan war Matthew der große Bruder, den sie nicht hatte. Sie schwärmte für ihn und seine kastanienfarbenen Augen und die rot-braunen Locken, die seine Ohren zur Hälfte bedeckten. Matthew war sechs Jahre älter als sie und bereits ein richtiger Mann. Er war stets freundlich zu ihr und brachte immer Verständnis für sie auf. Von ihm hatte Joan das Bogenschießen gelernt. Außerdem unterrichtete er sie im Schwertkampf, obwohl ihr Vater das nicht gerne sah, weil er es als zu gefährlich für sie erachtete. Matthew teilte Joans Liebe zur Natur. Obendrein war er der Einzige, der in ihr mehr als nur ein Mädchen sah – dafür liebte sie ihn.

„Na wunderbar“, brummte Lady Bridget, nachdem sie sich erneut vergeblich nach ihrem Schützling umgesehen hatte. „Wie soll ich das nur Mylord erklären?“

„Joan taucht schon wieder auf“, beruhigte Matthew sie.

„Aber wann?“ Lady Bridget ließ ein jammervolles Seufzen hören. Joan spähte gerade in dem Moment ein weiteres Mal hinter dem Wehrturm hervor, in dem Matthew in ihre Richtung sah. Er grinste halb und schüttelte leicht mit dem Kopf, verriet sie jedoch nicht.

„Wisst Ihr was?“, sagte er an Lady Bridget gewandt. „Geht nur schon hinein. Ich werde weiter nach Joan suchen.“

„In Ordnung. Wenn Ihr sie findet, schickt sie über den Küchentrakt zu mir. Ich will nicht, dass jemand sieht, wie sie im Morgenrock herumspaziert. Sie ist schließlich die Tochter unseres Chiefs.“

„Natürlich“, antwortete Matthew mit übertriebener Ernsthaftigkeit.

Nachdem Lady Bridget in der Burg verschwunden war, ging Matthew zu Joan. „Was führt Ihr wieder im Schilde, Mylady?“

„Gar nichts“, antwortete sie entschlossen. „Ich wehre mich nur dagegen, lächerlich gemacht zu werden. Das ist alles.“

„Du kannst dich nicht ewig verstecken. Das weißt du schon, oder?“

„Aber eine Weile … wenn du mir hilfst?“

Er lächelte breit und rubbelte ihr über den Schopf, sodass ihr langes rotes Haar ganz strubbelig wurde. „Ich sag ihnen, ich hätte dich nicht gesehen, in Ordnung?“

Joan fiel ihm in die Arme. „Danke!“

Das Fallgitter öffnete sich mit einem scheppernden Geräusch, und Matthew winkte Joan rasch fort, ehe der Burghof sich füllte.

Flink stahl das Mädchen sich zu den Stallungen und kletterte zu Epona, dem neuen Jährling ihres Vaters, in die Box. Das Tier war nach der walisischen Pferdegöttin benannt. Neben der weißen Ponystute sank sie ins Stroh – fest entschlossen, solange zu bleiben, bis der Besuch wieder gegangen war. Joan hörte, wie die Männer ins Burginnere marschierten, wie sie lachten und Scherze darüber machten, ob ihr Vater auch genug zu trinken für sie alle haben würde. Erst als wieder Ruhe eingekehrt war, riskierte sie einen Blick über das Stalltor. Epona stupste sie mit der Schnauze an, blies ihren heißen Atem gegen ihr Haar, sodass es ihr vor die Augen wehte. Das junge Highlandpony war erst vor einem Monat aus Glencoe hergebracht worden. Joan hatte es von Anfang an ins Herz geschlossen. Bei ihm fühlte sie sich wohl. Epona fragte nicht danach, wer Joan war oder wer sie sein sollte. Bei ihr war sie einfach nur das Mädchen von Eilean Donan Castle, das ihr von der großen, weiten Welt vorschwärmte, die sie zu erkunden vorhatte. Joan träumte davon, weiterzukommen als jede schottische Frau vor ihr. Manchmal schien ihr das Land, in dem sie geboren wurde, zu klein, zu eng. Obwohl sie Schottland mit seinen schroffen Berglandschaften, den Gletschertälern und den Lochs liebte, verspürte sie hin und wieder eine innige Reiselust – den Drang, Abenteuer zu erleben, einfach auszubrechen. Am liebsten hätte sie ihren Hauslehrer Sir Thomas begleitet, als dieser im letzten Herbst nach Spanien aufgebrochen war. Nichts schien Joans unbändigen Wissensdurst und ihre Sehnsucht nach dem Unbekannten stillen zu können – was für ein Mädchen ihrer Zeit als überaus bedenklich galt. Lady Bridget ließ es sich deshalb nicht nehmen, Joans Vater von jedwedem Verhalten in Kenntnis zu setzen, welches ihrer Meinung nach nicht damenhaft war. Doch nicht nur Lady Bridget rief George MacKenzie ständig auf, seiner Tochter endlich ihren Platz in der Gesellschaft deutlich zu machen. Auch Duncan MacRae empfand Joans Leidenschaft für die Kampfkunst und das Lesen als befremdlich. Nicht wenige Clanmitglieder glaubten, Joan verhalte sich viel zu jungenhaft, und auch, dass sie besser ein Stammhalter geworden wäre. Die Tatsache, dass sie ein Mädchen war und ihr Vater sich geweigert hatte, nach dem Tod ihrer Mutter erneut zu heiraten, ließ den Clan in eine ungewisse Zukunft blicken. Eine Frau als Clanoberhaupt war für die meisten nicht akzeptabel, weshalb George MacKenzies Nachfolge ungewiss blieb. Bisher hatte er sich noch auf niemanden festgelegt, der nach ihm den Clan anführen sollte. Es hieß zwar, er habe sich insgeheim längst entschieden, und dass einer der MacRae-Söhne darunter war, doch möglicherweise waren das nichts als Gerüchte. Gerüchte, die auf der langjährigen Freundschaft und tiefen Verbundenheit beider Familien fußten. George MacKenzie war ein weiser Mann, der sich davor hütete, Namen zu nennen. Um Unruhen zu vermeiden, behielt er sich vor, seine Nachfolge offen zu lassen, bis er es an der Zeit sah, dies zu ändern. Obgleich ihm ein Stammhalter als einziges Kind sicherlich recht gekommen wäre, allein um die unbequeme Pflicht seiner Erbfolge umgehen zu können, war er dennoch Feuer und Flamme für seine Joan. Letztlich spielte es keine Rolle für ihn, dass sie nur ein Mädchen war.

„Jetzt hör schon auf, Epona“, tadelte Joan die Ponystute, die auf der Kapuze ihres Morgenrocks herumkaute, als wäre darin saftiges Heu. Joan drehte sich nach der Stute um, tätschelte ihr den Kopf und zog ihre Kapuze aus dem Ponymaul. Als sie wieder nach vorn sah, zuckte sie erschrocken zusammen. Ein Junge stand inmitten des Stalls zwischen den Boxen, die zu beiden Seiten waren. Rasch ging sie wieder in Deckung, doch es war zu spät. Er hatte sie längst gesehen. Joan hörte, wie er näher kam. Vor Eponas Stalltor angekommen, räusperte er sich. Joan saß mit dem Rücken gegen das Tor gelehnt im Heu. Verunsichert schaute sie zu dem Jungen auf, der seinen Kopf über die Absperrung neigte und sie neugierig musterte.

„Was willst du hier?“, fragte sie erbost.

„Ich wollte mir nur die Pferde ansehen“, beteuerte er.

„Nun, jetzt hast du sie ja gesehen. Du kannst also wieder gehen.“

„Bist du immer so nett?“ Er legte die Arme auf die hölzerne Stalltür, lehnte sich weiter darüber und schaute mit hochgezogenen Brauen zu ihr runter.

„Ich bin nicht nett! Also lass mich in Ruhe.“

Epona presste ihm die Schnauze entgegen, als hoffte sie, von ihm gefüttert zu werden. Furchtlos streichelte er sie zwischen den Augen. „Was für ein schönes Pferd“, lobte er. „Mein Vater sagte mir schon, dass es auf Eilean Donan Castle besondere Pferde gibt. George MacKenzie sucht sich immer nur das Beste aus.“

„Sie ist kein Pferd, sondern ein Pony“, belehrte Joan ihn. „Außerdem … was willst du damit sagen: Er sucht sich immer nur das Beste aus?“ Joan sprang auf, drehte sich im Stand herum und funkelte den Jungen an, weil sie glaubte, einen Vorwurf herausgehört zu haben. Der Junge zog einen Mundwinkel zur Wange und winkte ab. „Ach, gar nichts. Bist du hier für die Tiere zuständig?“

Unwillkürlich sah Joan an sich herunter. Sie war nur im Unterkleid. Ihren alten, grauen Morgenrock hatte sie in der Frühe eilig übergeworfen. Ihr Haar war ungekämmt, und dank Matthew sah es jetzt so aus, als wäre dies bereits seit Langem so. Kein Wunder, dass der Junge sie für eine Dienstmagd hielt. Aber vielleicht war das auch besser so. Andernfalls würde er womöglich ihrem Vater verraten, wo sie sich aufhielt. Und das wollte sie unbedingt vermeiden. Rasch nickte Joan und setzte eine Unschuldsmiene auf.

„Bist aber noch ziemlich jung“, befand der Junge und strich sich das kinnlange, dunkle Haar zurück. „Wie alt bist du eigentlich?“

„Zwölf. Und du?“

„Vierzehn.“ Er streichelte über Eponas grazilen Hals, dabei musterte er Joan skeptisch. „Wird dir die Arbeit im Stall nicht manchmal zu schwer?“

„Nein“, betonte Joan mit fester Stimme. „Warum?“

„Siehst irgendwie nicht sehr stark aus. Bekommst du auch genug zu essen?“

„Du stellst ganz schön viele Fragen. Wer bist du überhaupt?“

Er wollte gerade antworten, als sie Schritte hörten, die sich vom Burghof aus näherten.

„Colin?“, schrie jemand, dass es nur so schallte. Der Junge fuhr aufgescheucht zusammen. Blitzschnell sank Joan erneut ins Stroh.

„Verdammter Mist!“ Der Junge riss die Stalltür auf und ging neben Joan in die Knie. Epona ließ ein leises Wiehern hören. Als Joan eine Hand an ihren Rumpf legte, beruhigte sie sich aber wieder.

„Sucht der nach dir?“, erkundigte Joan sich flüsternd bei dem Jungen.

„Psst“, machte dieser mit dem Zeigefinger vor den gespitzten Lippen.

„Wo steckst du, du kleiner Geck?“ Der Mann klang nun ganz nah. „Na, wenn ich dich erwische“, presste er wütend hervor. „Du kannst was erleben.“ Der Mann spuckte hörbar auf den Boden und stapfte aus dem Stall zurück auf den Hof.

„Puh, das war knapp.“ Der Junge prustete erleichtert.

„War das dein Vater?“, wollte Joan wissen.

„Gott bewahre, nein. Das war Seamus – mein Kindermädchen.“

„Also, dann ist deins aber so ganz anders als meins.“ Joan unterdrückte einen Lachanfall. „Dein Name ist Colin?“

Er nickte. „Und deiner?“

Joan überlegte einen Moment. „Margaret“, sagte sie schließlich. Dass dies nicht ihr Rufname war, musste er nicht wissen. Sein Auftauchen war zwar überraschend gewesen, dennoch empfand sie Colin als erfrischend. Genau wie sie war auch er auf der Flucht vor den Erwachsenen, und offenbar machte er sich genauso wenig Gedanken über die Konsequenzen. Er schien ebenso furchtlos zu sein wie sie. Das gefiel ihr.

„Ich glaube, jetzt ist er weg.“ Colin lachte ebenfalls. Beide sahen einander an, und Joan fielen seine eisblauen Augen, umringt von einem schwarzen Wimpernkranz, auf. Von Nahem sah Colin älter aus als vierzehn. Seine Schultern waren fast genauso breit wie Matthews. In der engen Box mit ihm zu sein, ließ ihr Herz schneller schlagen. Unwillkürlich strich sie den Stoff ihres Morgenrocks glatt. Vergeblich. Nun wünschte sie sich, sie hätte sich die Zeit genommen, sich anzukleiden, oder wenigstens ihr Haar anständig zu flechten, bevor sie Lady Bridget davongelaufen war.

Colin schien sich aber nicht an ihrem Aufzug zu stören. „Was kann man denn hier so machen?“, fragte er und kaute auf einem Strohhalm herum.

„Wir … könnten … zum Fluss runtergehen?“

„Darfst du das denn? Ich meine, deine Arbeit einfach liegen lassen?“

„Och, das ist kein Problem.“ Sie stemmte sich hoch. Vorsichtig spähte sie aus der Box in Richtung Stallausgang. Es war niemand zu sehen. „Lass uns gehen. Aber sei leise. Wir dürfen uns nicht erwischen lassen.“

Sie verließen die Stallungen und gingen hinter dem Haus der MacRaes die Ringmauer bis zum Tor entlang. Von dort aus schlüpften sie hinaus und kamen über einen kleinen felsigen Pfad hinunter zum dicht bewachsenen Uferstück des Sees. An dieser Stelle waren sie von der Burg aus nicht zu sehen. Joan hatte sich schon oft an diesen Platz geflüchtet, doch diesmal war sie nicht allein – das machte es umso aufregender. Über dem Fluss hingen noch immer vereinzelte Nebelfetzen. Dampfend hingen die Schwaden wie geisterhafte Wesen über dem Wasser, das ruhig dahinfloss. Joan ließ einen Stein nach dem anderen über den Fluss springen. Eine Weile beobachtete Colin sie dabei, dann suchte auch er am Ufer nach geeignetem Wurfmaterial. „Es ist echt toll hier!“, befand er, während er einen Stein übers Wasser hüpfen ließ.

„Bist du zum ersten Mal bei uns?“

Colin bückte sich nach einem besonders flachen Kieselstein und hielt ihn ins Licht. „Ich war schon hier, aber das ist lange her. Damals war ich ganz klein.“ Er hielt den Stein noch etwas in der Hand, bevor er ihn schwungvoll aufs Wasser hinaus schmetterte. Einen Augenblick lang sah es aus, als würde der kleine graue Klumpen den Nebel zerreißen.

„Nach Mutters Tod hat mich Vater nicht mehr oft auf Reisen mitgenommen“, fuhr Colin fort. „Ich bin meistens zu Hause geblieben. Unter vielen Menschen fühle ich mich nicht wohl.“

„Das geht mir genauso“, warf Joan ein. Colin betrachtete sie kurz, dann lächelte er und warf einen weiteren Stein ins Wasser. „Eigentlich wollte ich auch heute nicht mitkommen, aber mein Vater hat mich gezwungen. Er hat gemeint, dass es wichtig wäre … um die Zukunft Schottlands gehen würde und so was. Ich hasse diese Anstandsbesuche genauso sehr wie die Engländer.“ Er warf noch einen Stein aufs Wasser hinaus. Joan verfolgte gespannt seinen Weg, während sie über Colins Worte grübelte. Ihre Ansichten ähnelten sich sehr. Nie zuvor war sie jemandem wie ihm begegnet. Sechsmal hüpfte sein Stein über die dampfende Wasseroberfläche, bis er nicht mehr zu sehen war. Es war, als wäre er vom Dunst verschluckt worden oder auf der anderen Seite angekommen. Joan war beeindruckt.

„Sieht so aus, als hätte ich dich geschlagen.“ Colin stemmte die Hände in die Hüfte und grinste überlegen.

„Ich wusste nicht, dass es ein Wettkampf ist.“

„Wir sind Schotten. Für uns ist alles ein Wettkampf.“

„Na dann.“ Joan ging zu dem dichten Gebüsch, über dem sich die Burg erhob und holte ihren Köcher mit den Pfeilen und dem Bogen hervor. Beides hielt sie dort vor Lady Bridget versteckt. „Wollen wir doch mal sehen, wie gut du darin bist.“ Sie winkte Colin zu einem knorrigen Baum, auf dessen Stamm in leuchtend roter Farbe eine Zielscheibe aufgemalt war.

„Nicht, dass du dir wehtust“, neckte Colin sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Joan reagierte nicht auf seinen Spott. Sie zählte zwanzig Schritte vom Baum ausgehend, stellte sich hüftbreit neben Colin und spannte einen Pfeil in die Bogensehne.

„Du zielst zu hoch!“, ermahnte Colin sie.

Joan nahm einen tiefen Atemzug, nahm den Baum ins Visier und ließ den Pfeil los. Dieser zischte durch die Luft und traf, zu Colins Verblüffung, direkt in die Mitte der Scheibe. Stolz wandte Joan sich Colin zu, der wie gebannt auf den noch wackelnden Schaft starrte.

„Und?“

„Du warst viel zu nah! Da hätte jeder getroffen.“

„Ach wirklich? Dann ist es ja sicher ein Leichtes für dich, es mir nachzumachen.“

„Na schön! Wenn du unbedingt willst.“ Brummend nahm Colin ihr den Bogen ab und bediente sich an den Pfeilen im Köcher. „Aber heul nicht rum, wenn mein Pfeil deinen in der Mitte spaltet.“

„Keine Angst. Werde ich nicht.“

Colin spannte den Bogen.

„Du zielst zu tief.“ Joan ließ es sich nicht nehmen, ihm ihre Meinung zu sagen, so wie er es bei ihr getan hatte. Anders als bei ihm war sie sich jedoch sicher, dass ihre Belehrung richtig war.

„Schhht“, machte Colin nur und schielte angestrengt nach vorn. Im nächsten Moment sauste sein Pfeil los, verfehlte den Baum um nicht weniger als zwei Meter und landete irgendwo im ufernahen Gebüsch.

„Sieht so aus, als hätte ich diesen Wettkampf gewonnen“, tönte Joan überlegen.

„Das war doch nur Glück.“ Grummelnd zog Colin einen zweiten Pfeil aus dem Köcher, spannte ihn in die Sehne, zielte und ließ los. Diesmal streifte er zumindest den Baum – wenn auch nur an der Rinde.

Joan konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Ich weiß nicht, aber Bogenschießen ist wohl nicht so deine Stärke.“

„Ach, halt den Mund“, grummelte Colin und nahm sich einen weiteren Pfeil, den er erneut auf die Zielscheibe losließ – auch diesmal ohne Erfolg.

„Ich könnte es dir beibringen“, schlug Joan beschwichtigend vor.

„Ich werde mir von einem Mädchen bestimmt nichts sagen lassen. Du hattest Glück. Sonst gar nichts.“

„Ach so. Dann hattest du wohl einfach nur Pech, vermute ich?“