Thomas W. Schmidt

 

 

 

 

DIE SILBERSTRASSE

 

 

 

 

 

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Impressum:

1. Auflage

www.karinaverlag.at

Bilder: Thomas W. Schmidt

Lektorat: Waltraud Seidel

Layout: Martin Urbanek                  

Covergestaltung: Karin Pfolz, Martin Urbanek

2019, Karina Verlag, Vienna, Austria             

Print: ISBN: 9783966615679

 

 

 

 

 

Thomas W. Schmidt

 

 

 

 

DIE SILBERSTRASSE

 

 

 

 

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Die sogenannte griechische Liebe, die platonische, ist im Grunde die höchstmögliche Zuneigung überhaupt.
(Oscar Wilde)

 

 

 


Die Silberstraße

 

 

Inhalt

Kapitel I: Der Acht-Stunden-Kontakt

Kapitel II: Die Silberne Straße

Kapitel III: Der Alltag der Rita Paulsen

Kapitel IV: Hals über Kopf nach Iraklion

Kapitel V: Feldzug gegen den Erpresser

Kapitel VI: Entführt

Kapitel VII: Rita Paulsen lässt sich nicht ausbooten

Kapitel VIII: Die Entscheidung ist gefallen


Kapitel I: Der Acht-Stunden-Kontakt

Frankfurter Buchmesse, Mittwoch, 19. Oktober 2016. Am Stand der Edition Schaffrath, Berlin tummelten sich die Besucher. Sie stöberten in den Neuerscheinungen des Verlages. Rita Paulsen, Hausautorin, groß, schlank und brünett, stand etwas abseits und wartete. Schließlich wollte sie einen der Verlagsmitarbeiter unter vier Augen sprechen. Ein Messebesucher, um die dreißig, blätterte in einem Taschenbuch und schaute dabei abwechselnd auf Paulsen. Er war ein mediterraner Typ, dunkelhaarig, braunäugig. Paulsen dachte für Sekunden an ein Techtelmechtel. Dieser Mensch war genau ihre Kragenweite. Er schlug das Buch zu und kam ein paar Schritte näher:

„Sie interessieren sich für Literatur?“ Der Mann sprach akzentfrei, seine Stimme klang angenehm.

„Kann man sagen“, so Paulsen. „Und für welche, wenn ich fragen darf?“

„Mich interessieren vor allem menschliche Schwächen und Konflikte.“

Paulsen verschwieg, dass sie die Verfasserin eines Kriminalromans war, veröffentlicht eben in der Edition Schaffrath.

„Nach Ihrer Antwort zu urteilen, schreiben Sie selbst“, so der Fremde. Paulsen faszinierte das Auftreten dieses Mannes.

„Sie liegen richtig, ich schreibe. Ich hab’ heute Urlaub genommen, weil ich einen Messetag einlege. Außerdem muss ich mit meinem Verlag noch etwas klären. Ich hoffe, man hat Zeit für mich. Von mir gibt es nämlich einen Debüt-Roman.“

„Ein Buch schreiben ist wohl auch mit großem Zeitaufwand verbunden.“

„Klar. Ein Hobby nebenbei kann man sich da kaum leisten. Dennoch interessiert mich auch klassische Musik. Als ich noch zur Schule ging, hatte ich Klavierunterricht. Was ich besonders bevorzuge ist Beethoven. Ich will mich aber nicht aufspielen. Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man Klassiker bevorzugte.“

Der Fremde hörte aufmerksam zu. Nach einer Pause sagte er:

Verzeihung, hab’ mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Florakis, Alexander Florakis. Man spricht mich eigentlich mit Alex an. Ich bin Grieche oder genauer gesagt Kreter.“

„Hab’ gehört, dass die meisten Kreta-Bewohner Familiennamen mit der Endung -akis tragen. Ich weiß es von Bekannten, die auf Kreta waren.“

„Stimmt! Das hängt mit unserer Geschichte zusammen.“

„Und ich bin Rita Paulsen. Was mich wundert, Sie sprechen perfekt Deutsch.“

„Meine Mutter hat mich zweisprachig aufwachsen lassen – sie stammt aus Darmstadt. Da ist sie gerade wegen eines Verwandtenbesuchs. Um die Zeit zu nutzen, hab’ ich einen Abstecher zur Buchmesse gemacht. Da ich über Nacht bleibe, habe ich ein Hotelzimmer auf der Frankfurter Zeil gemietet. Meine Mutter und ich treffen uns morgen auf dem Flughafen. Unsere Maschine startet 11 Uhr nach Iraklion. Von da aus geht´s per Auto weiter in Richtung Heimat. Ich wohne in Matala, einem Ferienort im Süden. Kennen Sie ihn zufällig? Für viele Deutsche ist er ein Ferien-Eldorado.“

„Hab’ davon gehört. Zumindest haben Sie mich neugierig gemacht. Wie gelangte Ihre Mutter auf die Insel Kreta?“

„Vor über dreißig Jahren hat sie sich in einen Griechen vergafft. Und wie das Leben so spielt, wurde daraus eine feste Beziehung.“

„Wie fest?“

„Es kam zur Heirat. Ich hab’ auch noch ‘nen Stiefbruder. Er heißt mit Vornamen Riki. Drollig, nicht? Mein Vater war verwitwet und hat ihn einjährig mit in die Ehe gebracht. Wir kommen gut miteinander aus.“

„Und wo genau haben sich Ihre Eltern kennengelernt?“

„Bei uns in Matala, eben in diesem Ferienort. Meine Mutter war mit ihrer Freundin im Urlaub.“

Florakis blätterte in einem Taschenbuch, das er in die Höhe hielt. „Ich hab’ darin gelesen. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte auf Kreta. Ich werde den Standinhaber fragen, ob ich das Buch erwerben kann. Dann muss ich es nicht erst bestellen oder eine Buchhandlung ausfindig machen. Wissen Sie, es macht mich stolz, dass so viel über meine Heimat geschrieben wird. Tun Sie´s doch auch mit dem nächsten Roman!“

„Ich weiß nichts von Kreta – ich müsste erst recherchieren. Und wenn ich schreibe, dann wird es wohl ein Krimi.“

„Das wäre kein Problem, wenn Sie uns besuchten. Ich würde Ihnen dabei helfen, Land und Leute kennenzulernen. Zudem haben wir einen weitreichenden Freundeskreis. Außerdem führen meine Eltern ein Hotel in Matala, in dem ich natürlich auch tätig bin. Es trägt den Namen ‚Sunny Side’.“

„Sunny Side? Wäre ein griechischer Name nicht besser?“

„Übersetzt ist es “Die Sonnenseite“. Englisch verstehen die Touristen besser. Fast alle versuchen, sich damit verständlich zu machen. Und wir Kreter gehen natürlich darauf ein. Englisch ist bei uns so etwas wie eine Zweitsprache. Wenn sie auch nicht perfekt beherrscht wird, dient sie der allgemeinen Verständigung. Kommen Sie zu uns – ich könnte jederzeit ein Zimmer reservieren. Falls Sie nicht allein reisen auch zwei. Ich gebe ihnen meine Karte. Darauf steht auch meine E-Mail-Adresse.“

„Ich hab’ einen Job, ich kann nicht reisen, wie ich lustig bin. Und dann ist 2016 so gut wie rum. Ich selbst hab’ den Großteil des Jahresurlaubs schon weg. Und da ich alleinstehend bin, muss ich auf verheiratete Mitarbeiter der Firma Rücksicht nehmen. Ich glaube, unser Boss würde mich dieses Jahr gar nicht mehr beurlauben.“

Florakis horchte auf. „Auch ich bin alleinstehend, genauer gesagt ledig, – ich will’s Ihnen nur gesagt haben. Ich bin anderweitig gebunden, und zwar an unser Hotel und an mein Elternhaus. Ansonsten bin ich ein freier Mann. Wenn Sie alleinstehend sind, wären sie flexibel und brauchten privat auf niemanden Rücksicht zu nehmen.“

„Nicht ganz, denn ich hab’ noch eine Mutter, um die ich mich kümmere. Sie ist im Rentenalter. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Ansonsten hab’ ich noch ´ne Freundin in meiner Nähe.“

„Bringen Sie Ihre Mutter mit, sie wird sich bei uns wohlfühlen! Gerade im Oktober haben wir ein passables Klima. Verzeihen Sie, dass ich mich in Ihre Angelegenheiten mische, doch vielleicht finden Sie in Ihrer Firma ´ne Regelung. Ich würde mich freuen.“

„Mir scheint, als hätten Sie Probleme mit der Belegung Ihres Hotels. Ihr Auftritt sieht mir ganz nach Werbung aus. Wir kennen uns gerade mal fünf Minuten und schon werfe ich all meine Pläne über den Haufen.“

Florakis ließ nicht locker. Er hob beide Hände und sagte:

„Sie tun mir Unrecht! Sagen wir es so: Ich fand Sie auf den ersten Blick sympathisch. Dumm ist nur, dass wir so weit auseinanderwohnen.“

Florakis trat zwei Schritte zurück: „Falls Sie mir eine scheuern wollen – aus uns könnte etwas werden.“

„Was Sie nicht sagen! Ich werd’ Ihnen keine scheuern. In Anbetracht der Sachlage verstehe ich Sie sogar.“

„Könnten Sie mir das näher erläutern?“?“

„Ganz einfach: Bis zu Ihrem Abflug nach Iraklion bleiben Ihnen keine vierundzwanzig Stunden. Also müssen Sie sich betreffs Anmache sputen. Nun, es geschah dezent und Gesprächsstoff gibt es an einem Messestand immer.“

„Ja, Sie haben mich entlarvt, und irgendwie bin ich erleichtert. Um noch mal auf Kreta zurückzukommen: Der Oktober auf Kreta ist eigentlich der schönste Monat im Jahr.“

Paulsen und Florakis sahen schweigend auf die Bücherregale. Für einen Moment spielte Paulsen mit dem Gedanken, Florakis einfach stehenzulassen und zu gehen, doch dieser Typ zog sie an.

Florakis brach das Schweigen, ganz im Sinne Paulsens:

„Ich lade Sie zum Essen ein – in Messehalle 3 gibt es ein ansprechendes Restaurant.“

„Machen Sie sich keine Umstände, mir genügt ein Fast Food zwischen Tür und Angel!“

„Nur das nicht! Machen Sie mir die Freude, gehen Sie mit mir essen!“

„Aus Ihnen spricht der Hotelier. Gut, gehen wir, aber ich bezahle meine Zeche selbst!“

„Das fehlte noch! Sie sind eingeladen.“

„Gut, Sie haben gewonnen!“

Paulsen und Florakis suchten also das Messerestaurant auf. Als Florakis zwei Schoppen Wein bestellen wollte, wehrte Paulsen ab: „Kommt gar nicht in Frage, für heute bleibe ich abstinent! Erzählen Sie mal noch von sich! Haben Sie schon immer im Hotel Ihrer Eltern gejobbt?“

„Ich besuchte das Gymnasium, um dann zu studieren, – mein Interesse galt Sprachen. Sie werden fragen, warum ich es nicht tat. Ich habe lediglich einen Abschluss als Hotelkaufmann. Gut, das war eigentlich nicht in meinem Sinn, doch meine Eltern haben mich überredet, für unser Hotel zu arbeiten. Dabei haben sie das Argument vertreten, ich könnte mich in der elterlichen Firma wie zu Hause fühlen. Außerdem hätte ich eine Perspektive. Allerdings ist das Führen eines Hotels auf Kreta kein Zuckerschlecken. Ich arbeite manchmal sechzehn Stunden am Tag. Die Konkurrenz ist groß und an jeder Straßenecke gibt es eine gastronomische Einrichtung. Klar, meine Eltern würden mir das Hotel eines Tages überschreiben. So weit wollte ich aber gar nicht vorausplanen, denn ich bin erst dreißig.“

„Ihr Stiefbruder würde dann aber als Erbe infrage kommen.“

„So ist es, aber nur dafür. Riki hat nämlich kein Faible für das Hotelwesen. Es ist ja nicht nur das Hotel oder die Unterbringung der Gäste von April bis Oktober. Auch die Küche samt deren Belieferung muss gemanagt werden. Hinzu kommt die Bewältigung des Postverkehrs. Die meisten Korrespondenzen erledigt meine Mutter. Mein Vater und ich sind für die Einkäufe zuständig und Riki jobbt als Kellner. Es lohnt sich schon wegen des Trinkgeldes, denn die Urlauber sind großzügig. Das hat seinen Grund. Viele Hotels und Pensionen auf Kreta warten mit günstigen Preisen auf. Um Gottes Willen, ich will keine Werbung betreiben.“

Dann war die Bedienung vor Ort. Paulsen und Florakis bestellten ein Tagesessen, was schon nach wenigen Minuten kam.

„Schade, dass wir schon bedient werden.“

„Wieso? Ist doch gut so.“

„So bleibt uns aber weniger Zeit zur Unterhaltung. Es sei denn, Sie würden mit mir den Rest des Tages verbringen.“ Paulsen bekam Herzklopfen. „Wie stellen Sie sich das vor? Womöglich würde uns der Stoff für die Konversation ausgehen.“ Paulsen schaute zur Uhr. „Wir kennen uns jetzt sage und schreibe fünfunddreißig Minuten.“

„Warum soll uns der Stoff ausgehen. Sie haben von sich kaum etwas verlauten lassen. Ich weiß lediglich, dass Sie für einen Berliner Verlag arbeiten. Hauptberuflich?“

„Nein, ich bin nur Autorin nebenbei.“

„Nur, sagen Sie? Schreiben ist doch eine tolle Sache. Leider komme ich nicht dazu. Wie ich schon angedeutet hab’ – der Job in unserem Hotel ist nicht ohne.“

„Das leuchtet mir ein. Zum Schreiben bleiben mir auch nur die wenigen Stunden nach Dienstschluss.“

Florakis schaute Paulsen fragend an, und Paulsen reagierte: „Was mich betrifft, jobbe ich als Rechtsanwaltsfachangestellte. Auch ich hab’ ein Abitur in der Tasche. Auch ich wollte studieren, und zwar Jura. Jetzt ist der Ofen aus, denn ich bin schon achtundzwanzig.“

„Aber nicht in diesem Alter!“

„Doch, denn ich wüsste nicht, wie ich mein Studium finanzieren soll.“

„Mit einem zuverlässigen Partner würde es Ihnen sicher gelingen.“

„Wie Sie mitbekommen haben, lebe ich allein und momentan wird sich daran auch nichts ändern.“

Paulsen ärgerte sich über sich selbst, war doch dieser Beitrag fehl am Platz. Florakis sagte ihr in jeder Hinsicht zu. Er sah nicht nur gut aus, sondern war auch eine gepflegte Erscheinung. Sein Kurzlebenslauf war inhaltlich plausibel. Allerdings fragte sich Paulsen, ob der Job eines Hotelkaufmannes für einen Typen wie Florakis die Erfüllung war. Familiären Besitz zu erben, konnte allerdings lukrativ sein. Paulsen träumte davon, denn mehr als der Hausrat der Mutter und ein bescheidenes Sparguthaben war nicht zu holen.

Florakis riss Paulsen aus ihren Gedanken.

„Sie haben mir noch gar nicht verraten, wo Sie zu Hause sind.“

„Ich bin hier in Frankfurt gebürtig und auch wohnhaft.“

„Ob Sie mir ein paar Sehenswürdigkeiten zeigten? Haben Sie so viel Zeit?“

„Ich nehme sie mir. Außerdem wohne ich im Stadtzentrum, genaugenommen auf dem Römerberg.“

Dann waren Florakis und Paulsen mit dem Speisen fertig. Florakis rief den Kellner und zahlte. Paulsen und Florakis nahmen ein öffentliches Verkehrsmittel und fuhren in die Innenstadt.

„Nett von Ihnen, dass Sie sich als Stadtführer betätigen wollen“, so Florakis. „Als Stadtführerin möchte ich mich nicht bezeichnen“, erwiderte Paulsen. „Dazu bin ich nicht qualifiziert, aber ich mach mit Ihnen gern einen Rundgang im Stadtzentrum.“ „Wobei ich nicht abgeneigt wäre, Sie anschließend in ein nettes Café zu führen“, ergänzte Florakis.

„Sie denken sicher an das Kaffeehaus Metropol“, so Paulsen. „Wir stehen direkt daneben.“

„Um ehrlich zu sein, ja.“      

„Ich passe, wenn Sie schon wieder zahlen wollen – die Reihe wäre an mir. Lassen Sie uns noch ein Stück gehen, zumal ich Ihnen noch gar nichts gezeigt hab!“

Paulsen führte Florakis zum Römerberg, zum Dom und wieder zurück zum Kaffeehaus Metropol. Dabei machte sie Florakis mit der Stadtgeschichte vertraut. Paulsen spürte seine gedankliche Abwesenheit. Er hatte es wohl eher darauf abgesehen, händchenhaltend im Dämmerlicht eines Lokals zu sitzen. Außerdem war sich Paulsen sicher, Florakis würde sie bitten, über Nacht im gleichen Hotel zu campieren. Dann kam urplötzlich Sturm auf, dem Hagel und Regen folgte. Dies war wohl im Sinne Florakis`.

„Das Wetter schlägt uns ein Schnippchen“, so Paulsen.

Florakis schmunzelte: „Schade um ihre Mühe. Wir könnten doch im Metropol warten, bis der Spuk vorüber ist. Wie man durch die Fensterscheiben sieht, erwartet uns dort eine passable Atmosphäre. Kommen Sie, machen Sie mir die Freude!“

„Ich schlage vor, dass wir uns heute Abend noch mal treffen. Sagen wir gegen 17 Uhr hier vor dem Eingang. Ich gehe erst mal nach Hause, denn auf mich wartet ein ungemachter Haushalt. Heute noch jemanden kennenzulernen war ganz gegen meinen Zeitplan.“

Florakis` Blick verriet Enttäuschung. „Ich wäre ja froh“, sagte Florakis, „wenn Sie sich noch mal Zeit nähmen. Ich geb‘ Ihnen meine Handynummer für den Fall, dass Sie sich´s anders überlegen.“

„Das könnte durchaus sein.“

Paulsen war zu stolz, Florakis’ Annäherungsversuchen ohne Widerstand nachzugeben. Andererseits war sie mit sich selbst nicht zufrieden. War es nicht unklug, den Mann ihrer Träume unnötig hinzuhalten? Gegen drei Uhr kam Paulsen zu Hause an und dachte nach.

Dann griff sie zum Telefonhörer:

„Hier Paulsen! Herr Florakis, ich rufe Sie an, weil …“

An dieser Stelle wurde sie unterbrochen:

„Schade, schade! Dann alles Gute für Sie! Ich sag Ihnen gleich noch meine E-Mail-Adresse durch. Vielleicht haben Sie irgendwann doch Lust auf eine Kreta-Reise.“

„Ich war ja noch gar nicht fertig! Ich würde schon gegen 16 Uhr am Kaffeehaus Metropol sein. Sie geben mir dann Ihre Karte.“

„Ach, das gibt´s doch nicht!“

„Doch, allerdings müssen wir uns bald trennen – ich muss morgen zeitig aus den Federn.“

„Ich freu mich.“

Paulsen stylte sich auf. Als sie das Haus verließ, lief ihr Florakis in die Arme.

„Ich wollte Ihnen nicht nachspionieren – hab’ mir lediglich das Umfeld angesehen. Ich wusste gar nicht, dass der Römerberg nur wenige hundert Meter vom Metropol entfernt ist. Jedenfalls hab’ ich einen Zweiertisch bestellt.“

„Schön. Ich konnte Sie doch nicht einfach so sitzen lassen. Wie ich schon am Telefon andeutete, muss ich morgen früh raus. Gerade donnerstags ist viel Trubel bei uns. Mein Chef hat es noch nicht geschafft, diesen Tag ruhig angehen zu lassen.“

„Uns geht es nicht besser. Der Hotelbetrieb ist anstrengend vor allem wegen der vielen Überstunden. Wenigstens haben wir ausreichend Personal, das wir auch bezahlen können. Das ist in der Hotelbranche nicht immer so. Jeweils Ende Oktober schließen wir. Allerdings gibt es Ausnahmen. Ab November haben wir Mieter, die mit der Olivenernte und dem Fischfang beschäftigt sind. Die Anzahl derer hält sich aber leider in Grenzen. Ach wenn Sie es doch möglich machen könnten, zu uns zu kommen! Auch bis in den November hinein haben wir noch ein erträgliches Klima. Selbst im Winter haben wir Kreta-Urlauber.“

„Ich werde mit meinem Chef sprechen. In unserer Kanzlei geht´s auch deshalb turbulent zu, weil eine Kollegin in den Schwangerschaftsurlaub gegangen ist.“

„Klingt nicht gut. Wenn es nichts wird, könnten Sie ja Ihren Urlaub vielleicht im Mai nehmen. Im Juli und im August haben wir Außentemperaturen bis zu vierzig Grad im Schatten. Aber in unserem Alter stecken wir sowas weg. Ansonsten sind unsere Zimmer klimatisiert.“

„Klingt verlockend. Sie haben mich schon so gut wie überzeugt, auf Kreta Urlaub zu machen.“

„Ich würde mich riesig freuen, wenn Sie kämen. Wollen wir uns nicht duzen?“

„Na Sie gehen ja ran! Gut, an mir soll´s nicht liegen, zumal wir bald Adieu sagen müssen. Ich heiße Rita.“

„Ich nannte Ihnen ja schon meinen Vornamen. Wie gesagt, man nennt mich Alex. Meine Mutter wollte einen deutschen Vornamen.“

Der Kellner kam und brachte die Karte. Rita Paulsen und Alex Florakis bestellten Schwarzwälder Kirschtorte und Kaffee, – der Kellner servierte in wenigen Minuten. Dann entfernte er sich, blieb aber vor dem Tresen stehen. Alex schnippte mit den Fingern, und es erklang das bekannte Klavierstück „Für Elise“ von Ludwig van Beethoven. Paulsen lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie ließ sich nichts anmerken und starrte auf den Kuchen.

„Gefällt´s dir?“, fragte Alex. „Aber ja. Bist du der Initiator dieser musikalischen Einlage?“

„Bin ich. Nachdem du mich anriefst, bin ich in dieses Café gegangen und hab’ sie für uns bestellt. Samstags ist hier immer jemand am Piano. Stimmt es, dass konservative Menschen glücklicher sind als progressive.“

Rita gefiel Alex` Art. Wer machte schon einer Dame den Hof, indem er einen Klassiker präsentiert. Befand sich Alex auf der Sonnenseite des Lebens?

Und wieder kam der Kellner. „Sie haben einen Wunsch?“

„Bringen Sie uns die Weinkarte?“

„Gern!“

„Du stürzt dich in Unkosten“, so Rita Paulsen.

„Sagen wir es so“, entgegnete Alex, „ich genehmige uns ein wenig Luxus, da wir uns bald trennen müssen. Wir hätten schon noch Zeit, wenn du über Nacht bei mir im Hotel bliebst.“

Darauf hatte Rita Paulsen nur gewartet. Sie war sich von vorn herein darüber im Klaren, dass sie dies ablehnen würde.

„Das geht natürlich nicht, mein Lieber!“

„War dieser Vorschlag ein Fehler?“

„Eher nicht!“

„Ich bin froh, dass du es so siehst.“

„Und ich möchte dir entgegenkommen.“

„Inwiefern?“

„Ich schlage vor, dass wir hier den Abend verbringen.“

Alex atmete auf. Dann kam der Ober und Alex bestellte eine Flasche Champagner.

„Und ich spendier uns ein Abendessen – keine Widerrede!“

„Gut, dann entscheide ich mich für eine kalte Platte.“

„Da schließe ich mich an.“ Rita Paulsen rief den Ober und gab die Bestellung auf. „Wo übernachtest du eigentlich?“, fragte sie.

„Im Frankfurter Hof, gelegen am Mainkai, zehn Gehminuten von hier.“

„Ich kenne dieses Lokal, es ist eins mit vier Sternen.“

„Stimmt, billig sind die Zimmer nicht. Jedenfalls hat sich meine Investition gelohnt – ich hab’ dich kennengelernt. Bis zu meinem nächsten Trip nach Frankfurt besorgst du mir eine Bleibe hier in der Nähe. Voraussetzung, ich bin willkommen.“

„Das bist du bestimmt, falls sich nichts ändert.“

Alex schaute finster drein.

„Du machst mir Angst. Gott, was will ich! Wir sind über zweitausend Kilometer voneinander getrennt. Bis zum Wiedersehen vergeht Zeit. Du lebst in einer Großstadt und hast ständig Möglichkeiten, dich zu binden. Außerdem machst du als Frau etwas her.“

„Danke! Und du hast rund um die Uhr Kundschaft, mit der du Kontakt pflegen musst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du dich in eine Urlauberin verguckst.“

„Du willst aber nicht in Abrede stellen, dass wir zueinander passen!“

„Natürlich nicht – nach fünf Stunden Kontakt bin ich da ganz sicher!“

Ritas Beitrag klang ironisch, doch dann fügte sie hinzu:

„In deiner Nähe kann man sich durchaus wohlfühlen, so viel sei gesagt. Ich arbeite ja in einer Anwaltskanzlei, wo mir allmögliche Typen über den Weg laufen. Meinen Traummann habe ich bis jetzt nicht gefunden. Es ist aber auch illusorisch, einen zu finden, wenn man danach sucht.“

„Wir haben uns rein zufällig getroffen. Vielleicht sind Buchmessen am besten geeignet, seinen Traumpartner zu finden.“

„Kann schon sein.“

„Ich darf also hoffen, dass du kommst?“

„Ich sehe zu, was sich machen lässt. Viel Hoffnung habe ich nicht, so kurzfristig Urlaub zu bekommen. Ich werde trotzdem mit unserem Boss reden – vielleicht hab’ ich Glück. In punkto Urlaubsplanung hab’ ich mich bisher immer nach betrieblichen Interessen gerichtet. Er wird es mir bestimmt anrechnen.“

Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Der Ober kam und kassierte.

Alex brachte Rita bis vor die Haustür.

„Falls du nach Matala kommst, bring deine Mutter mit, – sie ist ja wohl an keinen Zeitraum gebunden. Übrigens wäre der Urlaub für euch beide gratis. Weiß du was? Ich will gar nicht wahrhaben, dass die Zeit für uns schon zu Ende ist.“

„Für heute!“

Rita gab Alex einen Kuss und verschwand in der Haustür. Dann verharrte sie, weil sie der Meinung war, er habe einen schöneren Abschied verdient. Also kehrte sie um und lief auf die Straße – Alex war wie vom Erdboden verschluckt. Rita vermied es, ihm nachzulaufen. Schließlich gab es eine Perspektive, sofern beiderseitiges Interesse nicht versiegte.

Rita Paulsen dachte noch lange über diesen Abend nach. Dann ging sie zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.

 

Kapitel II: Die Silberne Straße

Der Arbeitstag am Donnerstagmorgen begann ruhig, gut für Rita Paulsen. War es dieser Florakis überhaupt wert, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen? Rita dachte über die Urlaubsplanung von 2016 nach. Sie war jetzt fest entschlossen, ein paar Tage auf Kreta zu verbringen. Bei passender Gelegenheit würde sie den Chef um ein Gespräch bitten. Dann wurde sie aufgeschreckt. Ralf Gumbrecht, Fachanwalt für Strafrecht, geschieden, hatte die Tür aufgerissen.

„Was ist mit Ihnen? Es scheint, als wären Sie gar nicht bei der Sache. Bitte kommen Sie zum Diktat!“

Es war nicht das erste Mal, dass Gumbrecht ohne Gerät diktierte. Ihm kam es viel mehr darauf an, mit Paulsen über Privates zu schwatzen.

„Anstrengenden Abend verbracht?“, fragte Gumbrecht.

Paulsen lokalisierte Eifersucht.

„Eigentlich nicht – hab’ letzte Nacht nur mies geschlafen.“

„Soll vorkommen. Dann kochen Sie doch erst mal Kaffee für uns.“

Paulsen ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Dann begab sie sich wieder in das Büro des Chefs.

„Ihre Einsatzbereitschaft in allen Ehren“, so Gumbrecht, „doch Sie dürfen ruhig warten, bis der Kaffee durchgelaufen ist.“

„Ich hab’ gedacht, Ihr Diktat ist dringend.“

„Ja, aber nach dem Motto: Eile mit Weile.“

Gumbrecht lachte, weil er glaubte, einen originellen Witz gerissen zu haben.

„Also, es handelt sich um den Fall unseres Mandanten Kaminski.“

„Ich hole die Akte“, so Paulsen.

Gumbrecht trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte.

„Lassen Sie uns erst mal unseren Kaffee genießen, Kaminski läuft uns nicht davon! Eigentlich brauche ich gar nichts zu diktieren. Sie geben mir nachher die Akte und ich schreib den Sachverhalt auf einen Zettel. Sie basteln dann einfach nur ein Anschreiben an die Staatsanwaltschaft. Ich gedenke den heutigen Tag ruhig anlaufen zu lassen.“

Gumbrecht schien guter Laune zu sein, also nutzte Paulsen die Gelegenheit:

„Ich hab’ ein Anliegen.“

„Immer raus damit!“

„Es geht um meinen Urlaub noch für 2016. Ich benötige ein paar Tage, und zwar kurzfristig.“

„Und wann wollen Sie sie nehmen?“

„Noch im Oktober.“

Gumbrecht zog die Stirn kraus.

„Und wie lange wollen Sie uns den Rücken kehren? Immerhin sind Sie die Bürovorsteherin.“

Es war das erste Mal, dass Gumbrecht von der Allgemeinheit sprach. Bisher war es ihm wurst, ob die Arbeit überhandnahm oder nicht. Dieses Mal zeigte er sich von der kollegialen Seite:

„In unserer Kanzlei sind ja fünf Mitarbeiterinnen beschäftigt. Die gegenseitige Vertretung ist also gesichert. Bis jetzt haben Sie ja auch immer zur Stange gehalten. Und dann sollten Sie mal Ihren Packen Überstunden abfeiern! Sie nehmen drei Tage Urlaub und für den Rest den Sie brauchen, stelle ich Sie frei. Und wann wäre Ihr Urlaubsbeginn?“

„Wenn möglich ab 24. Oktober. Ich hoffe, dass es mit der Buchung für den Flug klappt.“

„Und wo soll´s hingehen?“

„Geplant ist Kreta.“

„Ganz am Rande: Gibt´s einen Verehrer, der sie zu dieser doch kurzfristigen Reise animiert hat?“

Gumbrecht, untersetzt und Halbglatze, schaute finster drein – seine Mine strotzte vor Unbehagen. Er hatte Paulsen hin und wieder zum Essen eingeladen, doch diese fand immer wieder Ausflüchte. Jetzt brauchte sie einen plausiblen Grund für die Reise.

„Meine Mutter ist die Initiatorin. Sie hat sich schon immer Griechenland gewünscht. Und nun haben wir uns für Kreta entschieden. Von Bekannten hörten wir, dass es dort noch freie Ferienplätze gibt. Wir müssen natürlich sofort reagieren. Auch das Klima würde meiner Mutter guttun. Seit mein Vater verstorben ist, hat sie sich keinerlei Luxus geleistet, geschweige denn einen Auslandsurlaub.“

Gumbrecht lehnte sich in seinem Drehsessel zurück.

„Dann haben Sie ja wohl ein gutes Verhältnis zu Ihrer Frau Mama.“

„Kann man sagen.“

„Schon aus diesem Grund genehmige ich Ihren Urlaub.“

In Paulsen kam Freude auf, bei passender Gelegenheit würde sie Florakis benachrichtigen.

Gegen drei Uhr verabschiedete sich Gumbrecht unter der Maßgabe, er habe noch einige Behördengänge zu erledigen.

Paulsen nutzte diese sturmfreie Zeit, um Florakis eine E-Mail zu senden:

Hallo Alex,

Ich bekomme kurzfristig Urlaub, und zwar vom 24. bis zum 28. Oktober. Ich hoffe, du freust dich. Allerdings muss ich mich noch um den Flug kümmern. Für die Anreise in Iraklio ist Samstag, der 22. Oktober geplant und die Abreise eine Woche später. Melde dich bitte!

Herzliche Grüße, Rita

 

Nach wenigen Minuten kam die Rückantwort:

 

Liebe Rita,

Ich habe soeben an dich gedacht und auf ein Wiedersehen gehofft, und nun wird es wahr. Ich sagte doch, dass du deine Mutter mitbringen sollst. Ich verspreche mir davon, dass dir die Reise dann leichter fällt. Außerdem wäre die Übernachtung für euch beide kostenfrei. Wenn ihr in Iraklion ankommt, meldet ihr euch einfach nur beim Autoverleih Theodoros Agras. Er befindet sich gegenüber dem Flughafen. Du musst nur die Straße am Ausgang überqueren. Auch Agras spricht Deutsch. Auch er ist vor vielen Jahren mit seinen Eltern auf Kreta gelandet. Er verständigt mich dann sofort, denn ich werde euch abholen. Es dauert etwa eine Stunde, bis ich vor Ort bin. Von Matala nach Iraklion sind es etwa siebzig Kilometer. Ich freue mich riesig.

Also – ich denk an dich!

Schau mal auf unsere Homepage! Da findest du die Fotos von der gesamten Hotelbesatzung. Ich bin natürlich auch dabei.

Liebe Grüße, Alex.

PS: Wenn du hier bist, hab’ ich eine Überraschung parat. Ich zeig dir die Silberne Straße.

 

Was hatte es mit diesem Eigennamen auf sich? Paulsen begann zu grübeln. Am liebsten hätte sie Alex gleich wieder angerufen.

Nach Dienstschluss suchte Paulsen ihre Mutter auf: „Hattest du nicht Lust, mal wieder zu verreisen?“

„Nach wie vor.“

„Dann komm mit nach Kreta!“

„Du lieber Himmel. Da muss ich ja in ein Flugzeug steigen und so kurzfristig.“

„Du hast doch jetzt keine Termine. Der Flug dauert, so viel ich weiß, keine drei Stunden.“

„Genug Zeit, abzustürzen. Hast du diesen Urlaub etwa schon geplant?“

„Ich hab’ lediglich mit meinem Chef, Herrn Gumbrecht, gesprochen. Er gewährt mir kurzfristig eine Woche. Ich hab’ ihm gesagt, du wärst mit von der Partie.“

„Ohne dich vorher mit mir abzustimmen?“

„Ich dachte, du wärst begeistert.“

„Wie kamst du auf Kreta?“

„Ich hab’ einen Herrn auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt – er ist Grieche. Er lebt mit seiner deutschen Mutter schon seit seiner Geburt auf Kreta.“

„Was ist das für ein Typ, dass er dich einfach so anbaggert?“

„Er hat mich nicht angebaggert – wir kamen durch die Buchauslagen unseres Verlages ins Gespräch. Du weißt doch, dass die Edition Schaffrath auch Griechenlandromane verlegt hat. Das hat ihn begeistert. Er fragte mich, ob ich nicht auch so etwas schreiben könnte. Natürlich hat er einen Grund gesucht, anzubändeln. Am Ende machte er mir ein Ferienangebot, um Land und Leute kennenzulernen. Sowas nennt man recherchieren.“

„Dieser Typ will dich locken.“

„Ich weiß. Ich hab’ ihm gesagt, dass ich noch ´ne Mutter hab, um die ich mich kümmere.“

„Ja, das tust du. Und was hat dieser Mensch geantwortet?“

„Dass ich dich mitbringen soll.“

„Intelligent eingefädelt. Er weiß, dass sowas Eindruck macht.“

„Na und? Jedes seiner Worte klang überzeugend.“

„Gut, ich trau dir ja auch Menschenkenntnis zu – bist ja schon achtundzwanzig. Und Erfahrungen hast du ja auch in deiner Anwaltskanzlei gesammelt. Wenn ich dich so höre, sehe ich diesen Typen vor mir. Vielleicht ist dieser Florakis gar romantisch veranlagt.“

„Sicher. In seinem Leben scheint alles paletti zu sein. Die Eltern betreiben ein Hotel in Matala, einem Ferienort im Süden der Insel. Dort arbeitet er auch.“

„Und was hat ihn nach Frankfurt verschlagen?“

„Seine Mutter stammt aus Darmstadt. Dort hielt sie sich ein paar Tage wegen eines Verwandtenbesuchs auf. Ihr Sohn ist mitgereist, doch gestern war sein Abstecher auf die Buchmesse hier in Frankfurt.“

„Klingt gut. Bestimmt besitzt dein neuer Verehrer einen kaum auszusprechenden Namen.“

„Es geht. Er heißt Florakis und mit Vornamen Alexander, Kurzform Alex. Ist doch gut zu merken.“

„Das ist auch das einzige, was ich an diesem Herrn gut finde.“

„Komm mit, dann schwinden deine Vorurteile! Florakis hat Manieren wie kein Zweiter. Und überhaupt, eine Woche Kreta-Urlaub ist doch kein Risiko.“

„Hast du ein Foto von diesem Herrn?“

„Nein, aber man findet es auf der Homepage des Hotels. Es trägt den Namen ‚Sunny Side’, was so viel bedeutet wie Sonnenseite.“

„Es wäre ja schön, wenn du mit achtundzwanzig einen vernünftigen Kerl fändest, bist noch immer solo. Trotzdem solltest du nichts überstürzen. Was mich ein wenig stört ist, dass du dich in einen Ausländer verguckt hast. Wenn er wenigstens in Deutschland leben würde und nicht am Arsch der Welt. Verzeih meine Direktheit – ich hab´s nicht böse gemeint. Ich vermute eher, dass euch die Entfernung ein Schnippchen schlagen wird.“

„Ja, sie könnte zum Hindernis werden.“

„Ich hoffe für dich das Beste. Ich glaube es ist müßig, dir diese Reise ausreden zu wollen. Jedenfalls ehrt es mich, dass du mich mitnehmen willst.“

„Wovor hast du Angst? Du bist doch schon so oft geflogen.“

„Ich hab’ keine Angst vorm Fliegen, sondern vorm Abstürzen. Also lass mich daheim bleiben, die eine Woche kriege ich auch ohne dich rum! Außerdem hab’ ich ja noch meine Freundinnen.“

„Schade. Ich wollte Florakis nämlich glauben machen, dass du die Initiatorin dieser Reise bist. Wenn ich allein Urlaub mache, nimmt er womöglich an, dass ich mich in ihn verrannt habe. Das will ich keinesfalls. Ich mag ihn natürlich, dagegen kann ich nichts tun.“

„Dann sag doch einfach, ich sei kurz vor der Abreise krank geworden.“

„Das kommt gar nicht infrage. Außerdem bin ich abergläubisch.“

„Auch ein guter Zug von dir. Ich hab`s! Er hat dir doch geraten, einen Griechenland-Roman zu schreiben. Sag ihm, dein Verlag habe dir inzwischen eine Auftragsarbeit verpasst. Was weiß der schon. Außerdem ist´s glaubhaft und eine Notlüge ist kein Verbrechen.“

Noch am gleichen Tag rief Paulsen ihre Freundin Suzi Karnagel an.

„Stell dir vor, ich war auf der Frankfurter Buchmesse und hab’ jemanden kennengelernt.“

„Irgendeinen?“

„Natürlich nicht.“

„Erzähl mal!“

„Der Typ lebt auf Kreta. Seine Mutter ist Deutsche. Sie war mit ihm wegen eines Verwandtenbesuchs in Darmstadt. Während dieser Zeit machte er einen Abstecher auf die Buchmesse. Wir kamen am Stand meines Verlages in Gespräch. Langer Rede kurzer Sinn: Wir sind noch am gleichen Abend ausgegangen.“

„War etwas?“

„Nicht, was du denkst! Aber ich hab’ mich in ihn verliebt.“

„Aber gesagt hast du´s ihm nicht!“

„Nein. Er meinte, ich sei für ihn die Frau des Lebens. Und dann wäre die Zeit zu knapp, um damit hinterm Berg zu halten. Er ist über Nacht im Frankfurter Hof am Mainkai geblieben.“

„Ohne dich.“

„Klar. Er hätte es freilich gern gesehen, wenn ich bei ihm übernachtet hätte. Er war überhaupt nicht aufdringlich. Übrigens besitzen seine Eltern ein Hotel im Süden Kretas. Er arbeitet dort.“

„Ich kann Gedanken lesen und meine, er hat dich eingeladen. Und wie fühltest du dich?“

„Glücklich – der Mann ist kein Macho – ich fühle mich zu ihm hingezogen. Außerdem vertrau ich ihm. Ich hab’ ihm gesagt, dass ich noch ´ne Mutter hab’ und dass ich mich um sie kümmere. Da hat er gemeint, dass ich sie mitbringen soll.“

„Wenn es so ist? Der Auftritt dieses Mannes hat Seltenheitswert.“

„Meine Mutter will nicht fliegen. Ich habe ihr nämlich gesagt, dass sie eingeladen ist.“

„Soll ich mal mit ihr reden? Vielleicht lässt sie sich von Außenstehenden überzeugen.“

„Lass man – es wird nicht funktionieren! Du rätst mir also, dieser Einladung zu folgen? Mein Chef gewährt mir eine Woche Urlaub.“

„Nachdem, was du mir berichtet hast, nimm die Einladung an! Fühl dem Typen auf den Zahn, lern seine Eltern kennen! Geht´s dir gegen den Strich, dampfst du ab. Natürlich darfst du dir kein Kind andrehen lassen – ich sag´s als Freundin! Vielleicht machst du ´ne gute Partie und es wird mehr als ein Abenteuer. Jedenfalls beneide ich dich. Du wärst nicht die Einzige, die nach Griechenland auswandert. Ich wünsch dir was und ruf mich an, wenn du zurück bist.“

Zwei Tage später hatte Paulsen einen Hin- und Rückflug nach Kreta gebucht. Für die Anreise war also der 22. und für die Rückreise der 29. Oktober vorgesehen. Paulsen sandte Florakis sogleich eine SMS:

 

Lieber Alex,

mein Verlag hat mir wider Erwarten den Auftrag erteilt, einen Kreta- oder Griechenland-Roman zu schreiben. Ich bin darüber nicht böse. Diesen Auftrag habe ich zum Anlass genommen, meinen Chef um Urlaub zu bitten – er hat zugestimmt. Was sagst du dazu? Die Ankunft in Iraklion ist für den kommenden Samstag gegen 17 Uhr vorgesehen und die Abreise eine Woche später.

Herzliche Grüße, Rita.

 

Die Antwort kam prompt:

 

Hab’ deine Nachricht bekommen. Alles Weitere per Mail – sieh in dein Postfach! Gruß Alex!

 

Rita erschrak, denn die Antwort war kühl und sachlich. Hatte es sich Alex Florakis anders überlegt? Rita fuhr ihren Computer hoch, doch da war nichts. Die Antwort kam jedoch zwei Stunden später:

 

Liebe Rita,

sei nicht böse, dass ich nicht sofort reagiert habe. Als ich deine Nachricht bekam, saß ich gerade am Lenkrad. Ich war mit dem Auto nach Tymbaki unterwegs. Dort erledigen wir alle Einkäufe für das Wohl unserer Gäste. Es gibt dort auch Sehenswürdigkeiten, die ich dir zeigen werde.

Ich freue mich riesig auf dich. Aus deiner Nachricht entnehme ich, dass du allein reist. Vielleicht kannst du deine Mutter doch noch überzeugen. Auch die Flugkosten für euch beide werden von uns übernommen. Du schreibst, dass du gegen 17 Uhr in Iraklion landest. Ich bin schon früher vor Ort und warte in der Vorhalle auf dich.

Wie geht es dir sonst? Na ja, in der kurzen Zeit gibt’s wohl nichts Neues. Zurzeit haben wir ein Traumwetter. Hoffentlich hält es sich, bis du kommst.

Alles Liebe, Alex

 

Rita Paulsen antwortete:

 

Hallo Alex,

ich will nicht, dass ihr für die Flugkosten aufkommt. Ich habe mein Ticket bezahlt und dabei bleibt es – behandle mich wie eine Urlauberin!

Ich konnte meine Mutter nicht überzeugen, mitzureisen. Sie passt, obwohl sie schon öfter geflogen ist.

Liebe Grüße, Rita.

 

Obwohl sich Rita Paulsen in die Arbeit stürzte, wollten die Tage in der Kanzlei nicht vergehen. Dann war der 21. Oktober heran.

Gumbrecht betrat am frühen Nachmittag Paulsens Büro:

„Und wie ist das Befinden kurz vorm Urlaub?“

„Ich kann nicht klagen. Bin gerade mit dem Übergabeprotokoll fertig. Möchten Sie´s gleich haben?“

„Nö – legen Sie´s in meinen Postkasten! Vor Montag komme ich sowieso nicht dazu, damit zu arbeiten. Hab’ heute noch einige Behördengänge zu erledigen.“

Gumbrecht schaute auf die Uhr:

„So, ich muss los. Dann wünsche ich Ihnen erholsame Tage.“

Rita Paulsen verbiss sich das Lachen. Der Chef hatte wieder mal ein Alibi parat, um sich ein verlängertes Weekend zu gönnen.

Am Vortag der Abreise kaufte Paulsen ein Geschenk für Alex Florakis und dessen Familie. Die Wahl fiel auf eine gerahmte historische Ansicht der Frankfurter Innenstadt. Dann suchte sie ihre Mutter auf.

„Schön, dass du dich noch mal sehen lässt!“, sagte diese. „Gehen wir mal davon aus, dass du auf Bildungsreisen gehst. Ansonsten hätte ich gemeint, du lässt dich von einem Menschen bezirzen, den du nur wenige Stunden kennst.“

„Immerhin hat er uns beiden einen Urlaubsplatz angeboten.“ Paulsen vermied, sich mit der Mutter zu streiten, denn in wenigen Sekunden würde sie sich von ihr verabschieden.

 

22. Oktober. Gegen 12 Uhr erfolgte Paulsens Check-in bei Condor auf dem Frankfurter Flughafen und gegen 14 Uhr der Abflug. Rita Paulsen war in Gedanken versunken. Sie hatte weder den rasanten Steigflug noch das Getöse der Triebwerke registriert. War es nicht doch töricht, der Einladung eines wildfremden Menschen zu folgen, noch dazu ins Ausland? Paulsen bereute, ihre Mutter nicht ernsthaft zur Mitreise bewegt zu haben. Würde sich Florakis am Ende nicht doch Schwachheiten einbilden und sich für unwiderstehlich halten? Klarer Fall, Rita war auf Alex programmiert. Allerdings wollte sie sich dies nicht anmerken lassen.

Es war gegen 17 Uhr, als Rita aus ihren Gedanken gerissen wurde:

„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnt der Landeanflug.“

Als Rita Paulsen aus dem Flugzeug stieg, schlug ihr ein warmer, angenehmer Lufthauch entgegen. Sie begab sich zum Gepäckband, nahm ihren Reisekoffer entgegen und ging in die Vorhalle, – von Alex keine Spur. Sie nahm auf einer Bank Platz und wartete. Nach etwa zwanzig Minuten verließ sie das Flughafengebäude und begab sich zum Vorplatz. Dem gegenüber befand sich ein großes Schild mit der Aufschrift Carrental (Autovermietung) Theodoros Drimakis. Rita Paulsen entschloss sich, Alex nun doch über Drimakis zu verständigen.

Drimakis saß vor einem übervollen Aschenbecher, rauchte und telefonierte. Als er Paulsen sah, hielt er inne:

„Was kann ich für Sie tun? Wenn Sie ´nen fahrbaren Untersatz brauchen, bitte Platz nehmen – bin gleich für Sie da!“

Drimakis sprach perfekt Deutsch, so wie es Alex Florakis angekündigt hatte. Dann war dieser mit dem Telefonieren fertig und Rita hatte eine Idee. Vielleicht würde es gelingen, Drimakis auszuhorchen.

„Sie sprechen aber gut Deutsch!“

„Danke“, so Drimakis.

„Man kann`s gut gebrauchen. Ein Großteil der Urlauber stammt nämlich aus Deutschland. Ich bin in Zeitdruck. Wo soll´s den hingehen?“

„Nach Matala, und zwar zur Sunny Side.“

„Dort sind Sie gut aufgehoben. Hab’ dort ´nen guten

Bekannten, der mir schon eine Menge Aufträge vermittelt

hat.“

„Herr Florakis?“

„Genau der.“

„Seinen Eltern gehört das Hotel?“

„So ist es und irgendwann ihm.“

„Die Eltern sind seine Familie?“

„Sozusagen, denn er ist Junggeselle. So sagt man ja in Deutschland. Er ist ein Pfundskerl und hat trotzdem noch nicht die Richtige gefunden. Er ist zweisprachig aufgewachsen wie ich. Auch er hat ´ne deutsche Mutter und ´nen griechischen Vater, der einen Sohn mit in die Ehe gebracht hat.“

Florakis hatte die Wahrheit gesagt und Rita Paulsen atmete auf.

„Ich will nicht unhöflich sein“, so Drimakis, „doch ich muss in die Spur. Herr Florakis braucht meine Hilfe. Er liegt wegen einer Autopanne in Athanati fest, etwa 15 Kilometer von hier. Ich muss ihn herschleppen, denn wir haben hier eine Werkstatt. Wenn es ´ne größere Reparatur wird, muss ich ihm ein Auto geben. Ich soll für ihn eine Urlauberin ausfindig machen. Angeblich hält sie sich in der Vorhalle des hiesigen Flughafens auf. Sie ist wohl brünett mit ´ner Bobfrisur, schlank und etwa eins siebzig groß. Was der Florakis von mir verlangt – als ob ich hier nix zu tun hätte. Da muss ich wohl oder übel die ganze Halle durchforsten. Die betreffende Dame ist wohl nicht die einzige, die so frisiert ist. Ist das, was Sie haben, eine Bobfrisur?“

„Ja.“

„Komisch, Alex` Beschreibung passt auf Ihre Person. Der Knüller wäre, Sie hießen auch noch Paulsen.“ Paulsen atmete auf.

„Ich bin´s.“

Drimakis stemmte die Hände in die Hüften:

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“

„Doch, purer!“

„Dann kann ich mir den Weg zum Flughafen sparen.“

Drimakis schüttelte den Kopf:

„Sachen gibt´s! Dann sind Sie die Flamme Alexanders. Er hat schon am vergangenen Donnerstag von Ihnen gefaselt und gehofft, Sie kommen nach Iraklion. Er wollte Sie nämlich vom Flughafen abholen. Womöglich steckt er in ´nem Funkloch, denn er versuchte, Sie anzurufen.“

Paulsen, hochrot im Gesicht, durchsuchte ihre Taschen:

„Oh Gott, ich hab’ mein Smartphone zu Hause liegenlassen.“

„Pech. Und was mache ich jetzt mit Ihnen? Ich muss Florakis herschleppen. Wollen Sie mitfahren oder hier warten?“

„Ich warte.“

„Wollen Sie mit ihm sprechen?“

Paulsen nickte. Drimakis wählte und gab Paulsen das Telefon.

„Hier Rita! Kein Wunder, dass du mich nicht erreicht hast – hab’ mein Smartphone daheim liegenlassen. Herr Drimakis sagt, du hast ´ne Panne. Er ist schon auf dem Sprung – ich warte hier in seinem Büro.“

„Und wie hat Alex reagiert?“, fragte Drimakis.

„Überrascht, er hat kaum ein Wort herausbekommen.“

„Das ist ein gutes Zeichen und ein Kompliment für Sie. Alex reagiert immer so, wenn ihn etwas begeistert. Also, ich bin in einer halben Stunde zurück.“

Kurz vor 18 Uhr war Alex Florakis vor Ort, in der rechten ölverschmutzten Hand einen Strauß Hibiskus.

„Gott sei Dank, – bis auf meine Panne ist ja alles gutgegangen. Rita gab Alex einen Kuss.

„Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“

„Ich bin mal gespannt, welche Überraschung du für mich parat hast. Was hat es mit der Silbernen Straße auf sich?“

„Ich zeig sie dir noch heute Abend. Ich wasch mir schnell die Hände. Ich hab’ nämlich versucht, das Auto selbst zu reparieren. Ich nehme einen Leihwagen, denn es ist schon 18 Uhr. Möglicherweise wird´s ´ne größere Reparatur. Dann hätte ich sowie ein paar Tage Wartezeit.“

Nachdem Alex den Leihwagen übernommen hatte, ging es in die Startlöcher.

„Wir fahren erst einmal an den Strand nach Pitsidia – ich will dir die Silberne Straße zeigen. Um diese Zeit trifft man dort nur wenige Touristen. Und dann ist es heute windstill.“

Die Hälfte des Weges von Pitsidia zum Strand war asphaltiert, der Rest steinig und schlecht befahrbar. Dann waren Rita und Alex am Ziel.

„Das ist die Silberne Straße als meine Erfindung. Ich bin öfter hier unten, wenn es meine Zeit erlaubt. In Matala ist zu viel Trubel, also verziehe ich mich in die Einsamkeit.“

Das Libysche Meer glich einer silbernen Fläche. Leichter Dunst verlieh der untergehenden Sonne einen silbrigen Glanz. Dieser spiegelte sich im Wasser. Was war das für ein Anblick! Rita sah wie gebannt auf Meer und Horizont. Der Seesand ähnelte einer Mischung aus Zimt und Zucker. Paulsen zog die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und watete durch das Flachwasser.

„Das Wasser ist kaum zu spüren“, sagte sie.

„Die Temperatur beträgt um die 25 °C“, gab Alex zur Antwort.

„Mir scheint, es gefällt dir hier. Also gehen wir noch ein Stück!“ Dann tauchte die Silhouette eines Küstenortes auf.

„Was vor uns liegt, ist