Es ist 3.51 Uhr, als ich zum ersten Mal seit langer Zeit ganz alleine aufwache.
Das ist im engeren Sinne nicht mal „Morgen“, sofern man nicht als Bäcker oder Zeitungsausträger arbeitet, sondern ganz eindeutig noch Nacht. Aber der alte Wecker neben meinem Bett kommt aus einem Werk in Wladiwostok und hat immer recht. Er geht vielleicht nicht auf die Sekunde oder Minute, aber auf die akademische Viertelstunde genau. Ich war zwar nur sehr kurz Akademikerin, aber diese Zeitangabe hat mir immer vollkommen genügt. Wie mir der Kontrollblick unter der Blümchengardine hindurch verrät, ist es draußen stockdunkel.
Eigentlich keine Zeit zum Aufstehen. Aber vielleicht eine gute Zeit, um ungestört nachzudenken. Das bleibt im turbulenten Alltag leider zu oft auf der Strecke, und in der letzten Woche erst recht. Kann man vom Campen Jetlag haben?
3.52 Uhr. Ich strecke mich aus, bis meine Fingerspitzen an die Linolverkleidung über dem Bett stoßen, gähne, bis die Kiefergelenke knacken, und dann verschränke ich die Arme unter dem Kopf und fange mit dem Wichtigsten an. Da ich das Nachdenken so lange habe schleifen lassen, tut eine gewisse Zusammenfassung not. Wie ich mich kenne, werde ich dabei ganz automatisch vom Hundertsten ins Tausendste geraten.
Guten Morgen also, mein Name ist Linda Lewandowski. Meinen Nachnamen kann man hinten auch mit „a“ schreiben, dann handelt es sich um die korrekte weibliche Form in Polen, wo mein Vater herkommt. Aber es macht mir nichts aus, wenn jemand das „i“ benutzt – in der letzten Zeit ist es in meinem Leben derart drunter und drüber gegangen, dass ich manchmal selber nicht mehr wusste, ob ich Männlein oder Weiblein bin und wie das eigentlich alles läuft mit den Bienchen und Blümchen …
Vor einer Woche war ich noch eine harmlose Löwenbütteler Campingplatzbetreiberin mit vielen Tieren, komischer Ersatzfamilie und der vermutlich größten Schlafsacksammlung der Welt. Okay, mittlerweile bin ich eine Löwenbütteler Campingplatzbetreiberin mit vielen Tieren, komischer Ersatzfamilie, weltgrößter Schlafsacksammlung UND einem Verlobten. Und das mit dem Verlobten ist zwar das Wichtigste, aber nicht unbedingt das Aufregendste, was sich in dieser Zeit ergeben hat. Meine Harmlosigkeit zum Beispiel, die hat sich erledigt.
So ganz nebenbei, mehr oder weniger aus Versehen, habe ich auch noch ziemlich viele Straftatbestände erfüllt: Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Autodiebstahl, Hehlerei, illegale Einreise in verschiedene EU-Länder ohne gültiges Ausweisdokument, unerlaubter Handel mit geschützten Tierarten, Missbrauch von Medikamenten, Gefährdung von Schutzbefohlenen, Amtsanmaßung, Erregung öffentlichen Ärgernisses und wer weiß was sonst noch. Ach ja, Fahren ohne Fahrerlaubnis natürlich auch noch. Wenigstens war ich dabei nicht besoffen. Hätte vielleicht geholfen …
Aber jetzt keine falsche Bescheidenheit. Diese Geschichte soll ja da anfangen, wo sie spannend wird. Der Rest ergibt sich dann schon.
Alles begann mit einem sehr gut gekleideten Mann mit sehr schlechter Laune.
Er stand eines Morgens um 7.21 Uhr in der Einfahrt und suchte nach etwas. Ich konnte ihn von meiner Lieblingstonne aus gut beobachten, und wenn ich in der vorangegangenen Nacht nicht so schrecklich schlecht geschlafen hätte, dann wäre die ganze Sache sicherlich anders ausgegangen. Normalerweise schlafe ich nämlich um 7.21 Uhr noch und krieche erst um fünf vor neun hinüber ins Büro, wo die Kaffeemaschine steht. Vor allem, wenn der vorangegangene Abend ein lauer Sommerabend gewesen ist, an dem ein oder zwei Camper bis tief in die Nacht auf der Bistroterrasse gesessen, ein Bierchen nach dem anderen bestellt und mir dabei ihre Lebensgeschichte erzählt haben. Weil ich selbst meine einzige Angestellte bin, kann ich für so etwas nur mich ausbeuten. Ich zapfe also Bier und höre zu, und wenn ich mich dabei allzu sehr langweile, rechne ich im Hinterkopf meinen Lohn aus: Sechs große Pils in zwei Stunden, das macht dann insgesamt achtzehn Euro brutto und ungefähr sechs Euro netto, solange ich das Toilettenputzen nicht mitrechne. Goldene Kloschüsseln verdient man sich mit so etwas nicht. Manchmal gebe ich auch psychologisch fundierte Ratschläge, aber nur bei mehr als drei Euro in der Stunde und wenn einer nett fragt. Die Lebensgeschichte von Herrn Wiesloch aus Niedereschborn am Tag zuvor war sogar ausnahmsweise recht spannend, aber trotzdem gehen unsere offiziellen Öffnungszeiten von neun bis achtzehn Uhr. Auf einem Campingplatz wird schließlich Urlaub gemacht und kein Kadettentraining!
Dazu muss ich erwähnen, dass es mit meinem Schlafrhythmus eh nicht mehr so weit her ist, seit ich mein Bett im Bürohäuschen für eine neue Tiefkühltruhe eintauschen musste. Es war eh nur ein Klappbett. Aber weil das Bürohäuschen gleichzeitig auch die Küche für mein kleines Camper-Bistro und natürlich die weltgrößte Schlafsacksammlung beherbergt, fiel die Entscheidung zu seinen Ungunsten. War nicht meine Idee, das mit der Tiefkühltruhe. Der Kontrolleur vom Amt für Lebensmittelhygiene meinte, das müsse so sein, wenn ich meine Gastronomielizenz nicht verlieren wolle. Neue EU-Verordnung. Vor allem, weil er bei der Fritteuse (zu alt) und der Kaffeemaschine (kein GS-Prüfsiegel) schon beide Augen zugedrückt habe.
Und da Pommes, Bier und Currywürste nun mal das Einzige waren, was an meinem Campingplatz wirklich Umsatz brachte, bestellte ich mir zähneknirschend so eine neue Tiefkühltruhe im Gegenwert eines kleinen Gebrauchtwagens, mit Tuten und Blasen und supernervigen Piepstönen zum Stromsparen, sobald man sie nur anguckt. Mein altes Bettgestell wanderte auf den Sperrmüll, die Matratze schenkte ich unserem paranoiden Hausmeister Horst und seither schlief ich eben reihum da, wo gerade ein Bett frei war. Auf so einem Campingplatz gibt es immer irgendwo Kapazitäten. Und wozu verfüge ich schließlich über die womöglich weltgrößte Sammlung von Schlafsäcken?
So ohne eigenes Bett weht einem gleich der Duft der großen weiten Welt um die Nase, auch wenn man es selten über die Stadtgrenze von Löwenbüttel hinaus schafft. Ich mag die Unabhängigkeit und Freiheit. Es ist auch gut, wenn ein Vermieter seine Räumlichkeiten regelmäßig testet. So fand ich zum Beispiel rechtzeitig heraus, dass der Stromverteiler bei den regulären Zeltstellplätzen einen Wackelkontakt hatte, die Terrasse der Bungalows an einer Stelle morsch war und das Dach von Tante Theas Wohnmobil bei Hagel undicht war. Jetzt nicht mehr.
Am liebsten schlief ich aber im hintersten der drei Tonnenhäuschen aus Holz. Diese Tonnen sind der Renner bei den Gästen. Ist ein Trend aus Skandinavien, obwohl unsere Tonnen von einem örtlichen Schreiner stammen, und ich kann das total nachvollziehen. Man fühlt sich einfach wohl, sobald man so ein Tonnenhäuschen nur sieht: In ein enges, rundes Loch zu schlüpfen muss ein Urinstinkt sein. Wie ein gemütlicher Kaninchenbau oder der unterirdische Geheimgang einer Burg. Löst sofortige Geborgenheitsgefühle aus, jedenfalls bei mir. Ich überlegte, im nächsten Jahr eine dazu passende Saunatonne zu erwerben. Vorausgesetzt, die von der Tiefkühltruhe ins Geschäftskonto geschlagene Kerbe wäre bis dahin wieder ausgeglichen. Jedes Mal wenn alle drei Tonnen vermietet waren, ärgerte ich mich fast ein wenig. Dann musste ich mir mit meinem Schlafsack ein anderes Plätzchen suchen. Eines, das einen Tick weniger gemütlich war.
In der Nacht vor der Ankunft des gut gekleideten Mannes aber schlief ich schlecht, obwohl durch eine Stornierung in letzter Minute meine Lieblingstonne frei geworden war. Ich wachte ständig auf, trank einen Schluck Wasser, wühlte mich in mein Zusatzkopfkissen, drehte mich wieder um, ging pinkeln, kratzte mich am linken Schienbein, kippte das Fenster, trank noch einen Schluck Wasser, wälzte mich auf den Bauch, machte das Fenster wieder zu, legte mich auf den Rücken, fluchte. Das lag weniger an einer düsteren Vorahnung, sondern an meinem Schlafsack.
Jede Woche teste ich einen anderen Schlafsack aus meiner Sammlung (abgesehen von denen mit historischem Wert – wie dem Expeditionssack vom Nanga Parbat – und natürlich dem peruanischen Totensack). So bleiben die guten Stücke in Benutzung und werden wenigstens alle drei, vier Jahre mal gewaschen, ohne dass sie überstrapaziert werden. Der aktuelle war ein Modell unbekannten Ursprungs, das ich in der Woche zuvor vom Apfelbaum hinter dem Zeltplatz geklaubt hatte. Ob der Schlafsack dort zum Trocknen hingehängt und vergessen oder absichtlich ausgesetzt worden war, wusste ich nicht, auch wenn das Testergebnis Letzteres vermuten ließ. Der Sack hatte eine unbequeme, verrutschende Füllung aus lauter Knötchen und Bollen, kratzte wie ein Jutesack und war zu allem Überfluss auch noch schwitzig. Ich würde ihn trotzdem aufbewahren und dem Besitzer genug Zeit geben, ihn zurückzufordern. Wie immer. So war ich über die Jahre zum ursprünglichen Grundstock meiner Sammlung gekommen, deren Wachstum sich irgendwann verselbstständigt hatte: Durch Langstreckenwanderer, die ihren Sack bei mir zwischenlagern wollten und sich dann nie wieder meldeten. Durch Besucher aus fernen Ländern, die so viele Souvenirs gekauft hatten, dass sie das Übergepäck im Flugzeug mehr gekostet hätte als der Schlafsack-Neukauf im Heimatland. Durch Stammgäste, die von meiner Sammlung wussten und mir ungefragt Ergänzungen mitbrachten: „Weil Sie diese Farbe noch nicht hatten, die gab es nämlich nur bei Aldi Süd!“
Außerdem fing ich an, auf Flohmärkten, im Internet und bei Wohnungsauflösungen nach Schlafsäcken zu stöbern. Auch die städtische Fundsachenversteigerung und die Kleiderkammer entpuppten sich als hilfreich, wenn mir das nötige Kleingeld fehlte, wozu man aber sagen muss, dass ein gebrauchter Schlafsack – ähnlich wie getragene Unterwäsche – üblicherweise äußerst günstig in der Anschaffung ist. Von wenigen Einzelfällen abgesehen. Es kommt halt immer darauf an, wer den Schlafsack oder die Unterwäsche benutzt hat.
Seit dem Tod meiner Mutter füllen die Säcke zwei Reihen von Schwerlastregalen in ihrem Zimmer, und da ist noch Luft nach oben. Bei diesem Umzug zählte ich die Säcke erstmals und kam auf zweiundsechzig. Mittlerweile sind es hundertsiebenunddreißig, von Reinhold Messners Originalsack der Nanga-Parbat-Expedition 1970 über den handgewebten peruanischen Hängesack für Verstorbene und ein Modell in Eiform für stark Übergewichtige aus US-amerikanischer Produktion bis hin zum Hightechteil mit Silberionen-Ausrüstung gegen Fußgeruch. Ich besitze eines der ersten Probestücke aus der Werkstatt von Faltbootpionier Carl Joseph Luther, dem Erfinder des Daunenschlafsacks, ersteigert aus einem Nachlass. Ich habe Schlafsäcke mit Ärmeln und welche mit einschiebbarer Isomatte, welche aus Hanf und welche aus kompostierbarer Naturwolle, einen auf Maß gestrickten und einen mit Beinen, in dem man aufstehen und davonrennen kann, falls der Eisbär angreift.
Natürlich ist so eine Sammlung niemals komplett. Erst der erfahrene Sammler kennt seine Objekte gut genug, um die unzureichende Lächerlichkeit seiner bisherigen Sammlung einschätzen zu können. Man ist zum Perfektionismus verdammt. Das ist die Tragik, aber auch die Herausforderung beim Sammeln. Was mir zum Beispiel noch fehlt, ist ein Weltraumschlafsack. In der Schwerelosigkeit würden die Bettdecken einfach davonschweben, also kriechen die Astronauten zum Schlafen in einen dünnen Sack, der an der Wand festgeschnallt ist. Leider ist der Markt für Weltraumschlafsäcke äußerst überschaubar. Wenn die Dinger überhaupt am Stück aus der Stratosphäre zurückkehren, heben die Amerikaner sie lieber selbst zu Erinnerungszwecken auf. Und die Russen … schwieriges Thema.
Schlafsäcke sind wie Raupenhüllen oder abgestreifte Schlangenhäute. Schützende Panzer, Pelze und Stacheln, die wir Menschen nicht haben und die uns in der Nacht an einem fremden Ort die Möglichkeit geben, uns in ein neues, anderes Ich zu verwandeln. Manchmal schlüpft daraus am Morgen ein wunderschöner Schmetterling, manchmal leider auch ein giftiger Skorpion.
Am betreffenden Morgen war ich eher den Skorpionen zuzurechnen. Schlecht gelaunt saß ich im unteren Bett meiner Lieblingstonne und versuchte zu ergründen, mit was zur Hölle dieser Neuzugang in meiner Sack-Sammlung gefüllt war. Rosshaar? Stroh? Er musste auf jeden Fall einem Asketen gehört haben, einem Geizkragen voller Selbstverachtung, dem sein körperliches Wohl nicht viel bedeutete. Der Größe und Farbgebung nach – hellrot mit marineblau abgesetzten Seiten – einem Mann. Ich fand kein eingenähtes Etikett mit Angaben und wunderte mich über die doch recht starken Abnutzungserscheinungen des Schlafsacks. Über den Nähten und Klettverschlüssen glänzte der Stoff schon fadenscheinig. Der Vorbesitzer, der so oft in dem unbequemen Ding geschlafen hatte, tat mir leid. Dann fiel mir ein, dass der ihn vielleicht gar nicht so oft benutzt, sondern nur ganz oft in die Waschmaschine gesteckt hatte. Doch beim verzweifelten Versuch, das Ding durch häufiges Waschen und Trocknen weich und gemütlich zu kriegen, hatte sich das biestige Innenleben nur noch mehr verknotet und verzogen. Ne, ganz sicher würde ich nicht noch mal darin schlafen. Eine Fehlkonstruktion. Dieser Schlafsack war mit Fug und Recht zurückgelassen worden und somit ein klarer Fall für das Kann-man-haben-muss-man-aber-nicht-Regal. Nachdem ich das beschlossen hatte, gähnte ich erst mal herzhaft.
Dabei fiel mir draußen eine Bewegung auf und ich entdeckte den sehr gut gekleideten Mann in unserer Einfahrt.
Er mochte vielleicht Mitte vierzig sein, hatte keine Haare, aber ein sehr breites Kreuz und einen Knackpo. Sein schwarzer Anzug saß für meinen Geschmack eine Spur zu eng, und zwar überall. Da er einen weißen Briefumschlag bei sich trug, ging ich davon aus, dass es vermutlich der Briefkasten war, den er suchte. Den konnte er aus drei Gründen nicht finden: Erstens, weil er eine Sonnenbrille trug. Was trug der Kerl an einem Donnerstagmorgen um kurz vor halb acht eine Sonnenbrille? Selber schuld. Zweitens würde er den Briefkasten nicht finden, weil ich ihm nicht dabei helfen würde, unausgeschlafen und im Kleiner-Maulwurf-Nachthemd, wie ich war. Und drittens konnte er den Briefkasten nicht finden, weil der Campingplatz keinen Briefkasten hatte, nur eine an beiden Seiten offene Plastikrolle für die Zeitung, auf der „Zeitung“ stand.
Der alte Briefkasten war vor Jahren an Altersschwäche gestorben und ich hatte keine Notwendigkeit gesehen, ihn zu ersetzen. Werbeprospekte brauche ich nicht. Alle Buchungsanfragen kommen per E-Mail oder Telefon, niemand schickt heute noch Briefe aus Papier an einen Campingplatz. Und wenn es doch einmal passiert, steckt unser Postbote den Brief eben einfach mit in die Zeitungsrolle oder gibt ihn direkt bei mir im Büro ab.
Doch der sehr gut angezogene Mann war nicht unser Postbote und hatte offenbar den Auftrag, sein Schreiben persönlich zuzustellen. Ich schaute ihm zu, wie er durch die Fußgängerschwingtür in der Einfahrtsschranke stieg und näher kam. Er suchte immer noch nach dem Briefkasten, das konnte ich am ständigen Drehen und Wenden seines Kopfes sehen. Das würde rote Scheuerlinien an seinem Hals hinterlassen, der Hemdkragen war etwas zu unelastisch dafür. Trotzdem blieb ich reglos in meinem Schlafsack sitzen und überlegte, ob ich mich nicht einfach wieder hinlegen und so tun sollte, als ob ich schliefe. Der optische Gegensatz zwischen mir und dem Fremden kam mir so unüberbrückbar vor. Das kannte ich gar nicht.
Normale Besucher erreichen unseren Campingplatz in kurzen Jeans und T-Shirt, manchmal auch in Jogginghosen und Socken in Sandalen. Sie steigen verschwitzt und von der langen Anreise zerknittert aus dem Auto, bereit, mit Zeltstangen zu hantieren und in einen Schlafsack zu kriechen. Sie kommen, um den Alltags- und Bürostress von sich abzuwerfen und sich zu entspannen. Da ist es dann egal, wie ich aussehe. Wenn ich wie aus dem Ei gepellt im korrekten Kostüm daherkäme, wäre das sogar geschäftsschädigend, deshalb passe ich mich gerne an (bis auf die Socken in den Sandalen, da habe ich ein Trauma). Jerseykleid und Leggings oder uralte Jeans und Strickweste. So was halt. Darin bin ich für alle Lebenslagen gerüstet, kann sowohl Pommes braten und Bier ausschenken, als auch den Rasen mähen oder mal spontan mit anpacken, wenn jemandem das Vorzelt umkippt. Bloß nichts bügeln!
Jetzt aber fühlte ich mich in meinem Kleiner-Maulwurf-Nachthemd zum ersten Mal gewaltig underdressed. Meine langen braunen Locken standen in alle Richtungen ab wie die Regenwürmer bei Tauwetter, mein Gesicht war noch verquollen vom Schlafen, und zum Zähneputzen würde mir auch keine Zeit bleiben.
Der Mann hatte jetzt das Bürohäuschen als solches identifiziert, was nicht schwierig war, da in großen Buchstaben „BÜRO“ darauf stand. Er beschleunigte seinen Schritt, bremste vor der Tür zackig ab, klingelte und rüttelte gleich an der Klinke, ohne abzuwarten, ob jemand aufmachen würde. Wie konnte man bloß so früh so hektisch sein?
Vermutlich fühlte er sich einfach nicht wohl in seiner Haut. Steckte in der falschen Beziehung, der falschen Wohnung, dem falschen Job natürlich auch und im falschen Anzug sowieso. War vielleicht gar kein Frühaufsteher, aber sein Chef zwang ihn dazu. Hätte vielleicht viel lieber ein olles T-Shirt und eine Jogginghose getragen und kam sich deshalb immer irgendwie fehl am Platz vor.
Dafür habe ich Verständnis, denn schon meine Eltern sind solche Fälle gewesen. Zwischen-den-Stühlen-Sitzer. Nicht unbedingt am Rande der Gesellschaft oder gar von ihr ausgestoßen, aber doch auch alles andere als mittendrin – so wie ich seitdem auf dem Campingplatz. Meine Mutter war das einzige Ossimädchen in unserer Kleinstadt, mein Vater ein Spätaussiedler. Ein sehr später Spätaussiedler. Meiner Meinung nach ein Viel-zu-spät-Aussiedler. Er hatte im Sommer 1989 aus Polen rübergemacht, als es eigentlich eh schon wurscht war. Die paar Wochen bis zum endgültigen Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs hätte er auch noch warten können. Oder gleich dableiben! Für ein Kind ist es nämlich schwer genug, sich mit einem ostdeutschen UND einem richtig ausländischen Elternteil in Westdeutschland zurechtfinden zu müssen, auch wenn man nicht dreimal im Jahr zurück in die alte polnische Heimat fährt und es „Urlaub“ nennt.
Dieses Hin und Her hat mich ganz wuschig gemacht. Immer wenn ich gerade ansatzweise in Löwenbüttel angekommen war und den Unterschied zwischen Nutella, Nusspli und Nudossi wieder draufhatte, bekam Papa erneut Heimweh und nahm mich mit nach Polen, wo es damals nichts als Rübensirup gab. Kein Wunder, dass ich heute noch ab und zu Albträume von alten Mütterlein in geblümten Kittelschürzen habe, die mich mit Gewalt ins Unterholz zerren und mir selbst gepflückte Blaubeeren in den Mund stopfen, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wenn ich dann schweißgebadet aufwache, schreie ich laut: „Die Russen kommen!“
Nein, das war ja gar nicht ich. Das war immer nur der Horst, unser Hausmeister mit dem Verfolgungswahn.
In dieser Nacht hatte der Horst auch wieder geschrien. Ein Grund mehr, weshalb ich bei der Ankunft des gut gekleideten Mannes leicht derangiert war. Denn wenn der Horst schreit, ist es meine vornehmste Pflicht, den Schlaf unserer zahlenden Gäste zu retten. Seit letzter Saison haben sie es schon tagsüber schwer genug, weil der Campingplatz auf drei Seiten von Bürohochhäusern umzingelt wird. Wir sind hier immer noch am Stadtrand von Löwenbüttel, aber da ist nicht mehr viel mit Naturidyll und Erholung. Die Klimaanlagen in den Bürotürmen laufen leise, aber ständig, und fünf Meter hinter dem Dauercamper-Bereich mit den feststehenden Wohnmobilen geht es vierspurig die Tiefgarage runter. Viele von den Bankern und anderen Anzugträgern machen Überstunden bis tief in die Nacht, sodass man zu jeder Zeit mit einem erleichtert davonröhrenden Porsche rechnen muss. Wenigstens fahren die Banker keine frisierten Motorräder.
Die drei Hochhäuser sind blau verglast, was grundsätzlich nicht so schlecht aussieht, und von der Höhe her abgestuft. Die beiden äußeren haben nicht so viele Stockwerke, vielleicht zehn oder zwölf, das ist von außen bei der reflektierenden Fassade nur schlecht zu zählen. Soweit ich weiß, sind die äußeren Türme an externe Firmen vermietet, jedenfalls stehen an den Schildern mit den Gebäudenummern ganz unterschiedliche Namen, meistens mit fantasievollen Wortneuschöpfungen auf Englisch oder sogar Latein.
Der mittlere Turm ist der größte. Bei dem besteht das Firmenschild nur aus drei Buchstaben: KGB. Steht nicht für den russischen Geheimdienst, das musste ich aus Sorge um den Horst natürlich gleich mal abchecken, sondern für Konkret Gesellschaft Bau GmbH. Die haben das Ding geplant und sitzen jetzt selber drin, weil es ihnen so gut gefällt. Verständlich, denn das mittlere Drittel besteht nicht aus Büroräumen, sondern aus einem Garten. Komplett mit zehn Meter hohen Bäumen und frei schwebenden Terrassen, von denen allerlei Grünzeug herabhängt. Sogar Vögel fliegen da drin herum. Kann man von außen erkennen, weil das Glas in dem Bereich durchsichtiger ist als sonst.
Ich war noch in keinem der Gebäude drin, obwohl mich der hängende Garten schon interessieren würde. Aber mich hat noch nie jemand eingeladen. Die Angestellten, die reingehen, haben alle sehr wichtige Zugangskarten umhängen. Wahrscheinlich würde sofort irgendein Alarm losgehen, sobald ich ohne Berechtigung da illegal eindringe. Ich finde ja, dass die Neubauten von unserem Campingplatz aus stark an einen riesigen blauen Stinkefinger erinnern. Gut, man gewöhnt sich an alles.
Aber zurück zum gut angezogenen Mann. Der fluchte, weil die Bürotüre abgesperrt war und er gleich darauf das kleine Messingschild mit den Öffnungszeiten las: 9–18 Uhr. Wegen der Entfernung von bestimmt fünfzig Metern hörte ich nicht, was er fluchte, aber ich erkannte es an seiner Körperhaltung und den Mundbewegungen. Und daran, dass er gleich danach ausspuckte, direkt in meinen liebsten und einzigen rosa Hortensienbusch.
Was für ein Mistkerl! So schlimm war es ja wohl auch wieder nicht, wenn man mal einen Brief nicht sofort persönlich zustellen konnte. Was sollte da schon groß drinstehen? Soweit ich wusste, hatten wir keine unbezahlten Rechnungen, und da ich nie Auto fuhr, bekam ich auch nie einen Strafzettel. Vielleicht betraf diese dringende Postsendung einen unserer Dauercamper. Aber dafür fühlte ich mich auch nicht zuständig. Die Dauercamper schliefen noch, genau wie ich. Sollte er doch in zwei Stunden zu einer christlicheren Zeit wiederkommen!
Mein Handlungsbedürfnis setzte erst ein, als der gut angezogene Mann begann, an den Bungalows zu klingeln. Das konnte ich nicht zulassen. Die ersten drei Bungalows waren im Moment wegen eines kleinen Softwareproblems nicht belegt, aber im vierten der vier Bungalows schlief eine sympathische Camperfamilie aus Wunsiedel mit einem neugeborenen Säugling. Die konnten mit Sicherheit auch nichts dafür, dass der gut angezogene Mann hier dringend einen Brief zustellen zu müssen glaubte. Die brauchten ihren Schlaf noch mehr als ich. Ich musste sie vor dem Eindringling bewahren!
Ich sprang auf, wobei ich mich im Schlafsack verhedderte und mir eine Kopfnuss am oberen Etagenbett holte, riss dann die Tonnentür auf und rannte barfuß durch das taufeuchte Gras. Gerade noch rechtzeitig, bevor er bei den Wunsiedlern klingeln konnte, erreichte ich den Kerl und tippte ihm von hinten auf die Schulter.
„Ey!“, schrie er und fuhr herum wie ein Kampfroboter, die Fäuste geballt. Der Brief flatterte zu Boden.
„Suchen Sie mich?“, fragte ich in der ganzen unschuldigen Glorie meines Kleiner-Maulwurf-Nachthemds. Wenn ich mich schon ungewaschen und mit zerzausten Locken vor einem so formell gekleideten Herrn präsentieren musste, dann wenigstens mit so viel Sexappeal wie möglich. Ich drückte die Brust heraus und machte Kulleraugen, um noch etwas mehr Sympathiefaktor herauszuholen, und es wirkte. Der gut gekleidete Mann scannte mich von den Wuschelhaaren bis hinab zu den nackten Füßen und zurück, mit Zwischenstopp auf meiner Oberweite. Als er wieder bei meinem Gesicht angekommen war, zeichnete sich unter seiner Sonnenbrille ein kantiges Lächeln ab.
„Hoffentlich suche ich Sie“, sagte er mit leichtem Akzent, der mir sofort verdächtig russisch vorkam. „Wenn Sie Frau Linda Lewandowska sind. Mein Name ist Petrow von der KGB GmbH.“
Das bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen oder, besser gesagt, die von Horst. Ich antwortete nicht gleich, sondern biss mir auf die Lippen und linste am Bürohäuschen vorbei in den hinteren Teil des Campingplatzes. Puh, alles ruhig unter dem Tarnnetz. Der Horst schlief noch. Jetzt musste ich es nur noch hinkriegen, diesen Russen irgendwie abzuwimmeln, bevor er aufwachte.
Bisher hatte sich sein Albtraum nicht erfüllt. In den zwanzig Jahren mit Horst war kein einziger echter Russe auf unserem Campingplatz aufgetaucht. Ich hatte keine Ahnung, was bei einer direkten Konfrontation zwischen Horst und den Russen passieren würde – aber ich wollte es eigentlich auch gar nicht herausfinden. Ich bin nicht besonders erpicht auf Konflikte.