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Seit einigen Jahren gibt es in der Linken – Sozialdemokraten, Grüne, Linke oder Parteilose – immer wieder Debatten darum, was der richtige Weg sei: Die einen kämpfen für Minderheitenrechte und das Klima, die anderen kümmern sich vor allem um ökonomische Fragen. Und zwischen beiden Seiten vergrößert sich der Riss. Die einen glauben, dass die »kleinen Leute« vernachlässigt werden, die anderen fürchten, dass die Umweltfragen oder die Rechte von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund vergessen werden.

In diesen Konflikt greift Jan Korte ein und fordert: Es muss wieder ein Gleichgewicht zwischen den kulturellen und sozial-ökonomischen Ansichten der Linken hergestellt werden. Er plädiert für Verständnis, auch für die Menschen, die nicht in den urbanen Zentren leben. Alle, die sich als Linke betrachten, müssen wieder Verantwortung übernehmen – für die ganze Gesellschaft. Denn es gilt: Niemals herabblicken!

Jan Korte, geboren 1977 in Osnabrück, Politikwissenschaftler M.A. Korte wurde bereits als Schüler Mitglied bei Bündnis 90 / Die Grünen. 1999 trat er aus der Partei wegen der Zustimmung zum Jugoslawienkrieg und ihrer Rechtsentwicklung aus. Noch im selben Jahr trat er in die Partei des Demokratischen Sozialismus ein. Seit 2004 ist er in der Bundespolitik aktiv. Zudem ist er Mitglied des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zu politischen und historischen Fragen und einige Bücher, zuletzt zusammen mit Dominic Heilig »Kriegsverrat. Vergangenheitspolitik in Deutschland. Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte« (2011) und »Geh doch rüber!« (2013).

JAN KORTE

DIE VERANTWORTUNG DER LINKEN

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Erste Auflage

ISBN: 978-3-95732-428-3

Printed in Germany

Der Verlag dankt Lealina Grün.

Inhalt

Einleitung

I.Rechtsverschiebung in der etablierten Politik

II.Die kleinen Träume

III.Die Verantwortung der Linken

IV.Was könnte man denn nun tun?

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Einleitung

Es gibt in der Welt der Bücher kaum etwas Schlimmeres als Werke von Politikern, die ihre eigene Bedeutung und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolge feiern. Doch dies ist eine Ausnahme. Dass ich keine Lösung für alle Probleme bieten kann, ist mir genauso wie Ihnen völlig bewusst. Aber gerade heute ist es vielleicht hilfreich, erst einmal ein Problem zu erkennen und dafür die Berliner Politikblase, in der ich mich Tag für Tag bewege, zu verlassen. In den sozialen Medien grassiert der Hass, etwa auf Flüchtlinge und Andersdenkende, manchmal reicht es schon, eine Frau zu sein, um heftig attackiert zu werden. Allerorten wird die Verrohung und Spaltung der Gesellschaft beklagt, und das zu Recht. Die Frage ist nun: Woher kommt die Resignation und die Wut und was macht das mit der Gesellschaft?

Gleichzeitig allerdings wird, außer vor und nach wichtigen Wahlen, in den Beiträgen zum Zustand dieser Gesellschaft, die täglich in den Zeitungen publiziert und in den Fernseh- und Radiosendern produziert werden, nur selten ein Wort darüber verloren, dass es in einigen Regionen Deutschlands kein vernünftiges Internet gibt, keine zuverlässige Busverbindung und schon gar keine Arbeit. In den Städten explodieren die Mieten, in den Supermärkten steigen die Lebensmittelpreise und die demokratischen Parteien bemühen sich verzweifelt und zugleich vergeblich darum, den Kontakt zu ihren Wählerinnen und Wählern wiederherzustellen.

Dass das alles irgendwie zusammenhängt, liegt auf der Hand. Doch wie genau, das soll Thema dieses Buches sein.

Dabei kann auf eine ganze Reihe von wirklich guten Analysen und Diskussionen zurückgegriffen werden. Zu nennen wäre etwa Nancy Fraser, die mit dem Modell des »progressiven Neoliberalismus« für die USA zu erklären versucht, warum sich die Masse der Arbeiter und ein Großteil der Bewohner der ländlichen Gebiete von den Demokraten ab- und Donald Trump zugewandt haben. Sie vertritt die These, dass der Neoliberalismus wichtige Anliegen der neuen sozialen Bewegungen, wie etwa den Kampf für Frauen- oder Homosexuellenrechte, übernommen hat und die Linke zugleich die ökonomischen Konflikte aus dem Blick verloren hat. Zugespitzt bedeutet das: Viele Menschen verbinden die Einforderung und Durchsetzung von Minderheitenrechten mit der Epoche von Privatisierung und dem Abbau des Sozialstaates.

Die notwendige Modernisierung und Maskierung des zuvor brutal, unversöhnlich und rückschrittlich auftretenden Kapitalismus’ wird von Fraser so beschrieben: »Die Lösung bestand darin, eine regressive Verteilungspolitik mit einer progressiven Anerkennungspolitik zu kombinieren. So entstand der ›progressive Neoliberalismus‹ als ein seltsames Bündnis zweier Kräfte: auf der einen Seite die dynamischsten, postindustriellen, symbolisch aufgeladenen Teile der US-Wirtschaft – Silicon Valley, Wall Street und Hollywood. Auf der anderen Seite der liberale Mainstream der ›Neuen sozialen Bewegungen‹ – liberaler Feminismus und LGBTQ-Rechte, Multikulturalismus und Umweltschutz.«1

Aus diesem Modell heraus analysiert Fraser treffend das Scheitern der Demokraten und ihrer Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, »einer Politikerin, die zwar die Sprache des Feminismus spricht, aber der Agenda von Goldman Sachs folgt«.2 Und da viele Kämpfe im Bereich von Gleichberechtigung und Minderheitenrechten in der Tat geführt und in Teilen – erfreulicherweise – gewonnen wurden, schreiben heute nicht wenige Mitglieder der Arbeiterklasse in den USA ebenjene Errungenschaften den Verheerungen des Neoliberalismus zu. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass Hillary Clinton nicht auch in ökonomischen Fragen manchmal eher linksliberale Positionen eingenommen hätte oder gar behauptet werden, Donald Trump hätte auch nur in einer Minute seines Wahlkampfes eine kapitalismuskritische Weltsicht verteidigt. Für jene unter seinen Wählerinnen und Wählern aber, die nicht von der Überlegenheit der »weißen Rasse träumen«, schien es manchmal dennoch so, als ob sich Trump eher mit ihren drängendsten Problemen beschäftige, als ob er sie zum Thema mache.

Dieses von Fraser beschriebene Modell ist mit einigen Differenzierungen auch auf die Zeit der rot-grünen Bundesregierung (1998–2005) anzuwenden. Deren »Agenda 2010« stand und steht ganz praktisch für den beschleunigten Rückbau des Sozialstaates (der schon unter dem Bundeskanzler Helmut Kohl begann), für noch gnadenlosere Privatisierung, für das endgültige Ende von der Planbarkeit des Lebens der »kleinen Leute« und von der Absicherung ihres Alters. Und gleichzeitig hat die damalige Regierung natürlich zu einer fortschrittlichen Modernisierung der Gesellschaft beigetragen, indem sie etwa Minderheitenrechte stärkte.

Frasers Analyse ist mittlerweile in allen möglichen Varianten auf die Debatten der Bundesrepublik übertragen worden. Wichtig – und das will ich gleich am Anfang klarstellen – ist, dass die ökonomisch-soziale Dimension niemals gegen sogenannte Minderheiten oder »Anerkennungsfragen« ausgespielt werden darf. So ist etwa durch das 2001 unter Rot-Grün in Kraft getretene Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft kein Arbeitsplatz verloren gegangen. Dagegen, soziale Sicherheit gegen Minderheitenrechte auszuspielen, wehrt sich auch Fraser entschieden.

Mit der Analyse von Fraser und der Kritik an der damaligen rot-grünen Regierung nähern wir uns der Debatte in Deutschland. Sie findet – leider – zumeist ausschließend statt. In der Frage, wie hierzulande linke Mehrheiten möglich werden können, fokussiert sich ein Teil von SPD, Grünen und Linken sowie vielen außerparlamentarischen Gruppen und Grüppchen entweder einseitig auf die lohnabhängig Beschäftigten, nennen wir sie die Arbeiterklasse, oder – das ist die andere Seite – auf die urbanen, akademischen Milieus. Dass beides zusammengebracht werden kann, hört man selten oder lediglich als Floskel. Die erbitterten Streitigkeiten über diese Fragen und die hanebüchene Rückkehr von Begrifflichkeiten wie etwa jenen von den »Haupt- und Nebenwidersprüchen« haben eine Vehemenz erreicht, wie man sie in linken und linksliberalen Kreisen sonst eigentlich nur von Debatten um die Politik Russlands oder Israels kennt.

Leider machen derartige Aufwallungen eine ruhige und zugleich streitbare Analyse nahezu unmöglich.

Folgende Begebenheit ist exemplarisch: Seit vielen Jahren stehe ich mit einem Infotisch auf den Wochenmärkten in meinem Wahlkreis. Der Wahlkreis liegt in Sachsen-Anhalt, bestehend aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld und Teilen des Salzlandkreises. Viele Leute kommen auf einen Kaffee vorbei, um zu diskutieren, aber auch um ihren Frust über die vorherrschende Politik abzulassen. Darunter sind von Zeit zu Zeit selbstverständlich auch Menschen, die Feministinnen oder Flüchtlingen den Tod wünschen – bei ihnen ist aller Kaffee und jede Debatte vergebens. Doch es sind ebenso Menschen dabei, um die es sich zu kämpfen lohnt. Immer wieder berichten Leute – völlig sachlich –, dass es seit 1990 in ihrer Stadt oder in ihrem Dorf nur noch bergab gehe: Kino und Freibad dicht, die Straßen sind kaputt, die Bahnlinie wird eingestellt und die Bibliotheken und Jugendclubs geschlossen, kurz: der Staat zieht sich zurück. Gleichzeitig erklären mir diese Bürger, dass für die Flüchtlinge von einem Tag auf den anderen reichlich Geld zur Verfügung gestellt worden sei und dass sie das als ungerecht empfinden.

Und das ist der Punkt, an dem wir das Gespräch nicht abbrechen, sondern weiterführen sollten. Mit einer klaren Haltung, doch die Tatsachen ernstnehmend, muss das Gespräch umgedreht werden: »Genau, es gibt genug Geld in diesem reichen Land. Wir sollten so viel Druck aufbauen, dass Schwimmbäder und Bibliotheken wiedereröffnet werden, damit alle etwas davon haben, die alte Stadtbewohnerin genauso wie die neu hinzugekommenen.« Das klingt leicht, ist allerdings schwer zu vermitteln. Denn es stehen ebenso einfache Fragen im Raum: Woher kommt das Geld? Wer nimmt das Geld? Wer ist hier der Staat? Welchen Prozessen sind die politischen Entscheidungen unterworfen? Warum wird das Freibad nicht im kommenden Sommer einfach wiedereröffnet? Trotzdem dürfen sich Linke diesen Gesprächen nicht entziehen. Wenn sie die Gespräche nicht führen, wer tut es dann? Natürlich wird es weiterhin Rassisten geben, auch wenn die Bahnstrecke, Bibliothek oder das Freibad wiedereröffnet wird. Doch vielleicht kann das Ressentiment zurückgedrängt werden.

Linke müssen wieder stärkere Sensoren dafür entwickeln, wie Menschen sich fühlen. Und ich meine wirklich »fühlen«: Man sollte versuchen, sich in jene hineinzuversetzen, die schlicht Angst haben, ihren Job zu verlieren, und die oft nur kleine Träume haben: Dass die Kleingartenanlage bleibt, dass das Kind eine Zukunft in der Region hat oder dass genug Geld da ist, um gemeinsam in den Zoo oder den Tiergarten zu gehen – soweit es ihn noch gibt. Man muss sich um diese Menschen auch bemühen.

Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, ist die Spaltung des Landes ganz konkret: Dort sind auf der einen Seite viele Leute, die sich täglich ehrenamtlich engagieren, die für ein positives Gemeinschaftsleben in den Dörfern sorgen, sich nachmittags um Flüchtlinge kümmern, abends zum Sportverein oder zur Freiwilligen Feuerwehr gehen, das Osterfeuer, das Maifest oder die Tombola zur Sanierung des Dorfgemeinschaftshauses organisieren. Und in derselben Stadt, im selben Dorf treffe ich Menschen, die mit diesem System so final abgeschlossen haben, dass sie für Diskussionen kaum noch erreichbar sind. Und letztere sind keineswegs allesamt »Absaufen«-Schreier3, sondern eigentlich unauffällige Menschen, die irgendwann zu der Auffassung kamen, in diesem System keinen Platz zu haben, und diesen wohl auch nicht mehr anstreben. Ihre Resignation ist erschreckend.

Diese Menschen eint das Gefühl, in den politischen Debatten nicht vorzukommen, nicht gehört oder gesehen zu werden. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, erfährt man einiges über die vielen zerplatzten Hoffnungen und die vielen nicht erfüllten Miniträume. Die Stimmung, »dass sich sowieso nichts ändert«, ist weit verbreitet, prägt Gespräche in allen Einkommensgruppen, in der Nachbarschaft und an den Theken, so sehr, dass die Substanz der Demokratie gefährdet ist. Das ist keine Schwarzmalerei. Denn ein System, das relevante Teile der Bevölkerung einfach abschreibt oder ihre Existenz kaum mehr zur Kenntnis nimmt, wird die Erosion der Gesellschaft nicht stoppen. Eine politische Gruppe, die die Augen vor den Nöten der von ihr regierten oder von ihr vertretenen Menschen verschließt, wird diese Not nicht bekämpfen können. Und sie will es dann auch nicht.

Viele Bürgerinnen und Bürger erkennen völlig richtig, dass es nicht ihre Interessen sind, die in diesem Land verfolgt werden. Bestes Beispiel ist der sogenannte Dieselskandal. Anstatt die verbrecherischen Machenschaften der Autokonzernbosse zu benennen und dagegen vorzugehen, winselt die Regierung vor den Konzernvorständen und bittet höflich um ein Zeichen des Entgegenkommens. Diese Hilflosigkeit der Staatsspitze ist den Regierten bewusst – und der Geschädigte ist nicht nur der Autobesitzer, sondern auch die Demokratie.

Gleichwohl gibt es einen verbreiteten Rassismus und Antisemitismus. Die Gleichheit der Menschen – auch ihre juristische Gleichbehandlung – ist wieder öffentlich abstreitbar geworden, gerade die Eliten in der Politik stellen sie immer wieder zur Disposition. Auch hier braucht es klare Gegenstandpunkte.

Das Problem bei all diesen Fragen ist, dass sie nicht zusammenhängend angegangen werden, sondern dass jede Gruppe, jede Sekte, jeder Stammtisch und jede WG ihre Vorlieben pflegt, um möglichst nicht mit der anderen Sichtweise zu kollidieren. Es gibt in der Linken und im linksliberalen Umfeld Menschen, die keinerlei Interesse mehr an ökonomischen Zusammenhängen haben, die im urbanen Umfeld leben und in einem kulturell und habituell goldenen Käfig sitzen. Anliegen, Nöte und Ängste derjenigen, denen es schlecht geht, denen täglich ökonomische und staatliche Gewalt angetan wird, dringen kaum noch zu ihnen durch. Extrem gesteigert wird das in einem Milieu, in dem besonders die Grünen zu Hause sind: Hier schaut man manchmal sogar mit Verachtung auf »die Unterschicht«, belächelt oder verachtet, wie sie sich ernähren, was sie für Kleider tragen und was sie im Fernsehen schauen – so verwendeten etwa der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch und der in akademischen Kreisen populäre Entertainer Harald Schmidt den Begriff »Unterschichtenfernsehen«, um ein Fernsehprogramm, das nicht ihren ästhetischen Grundsätzen entsprach, herabzusetzen. Dieses ökoaffine wohlsituierte Bildungsbürgertum wohnt – etwas überzeichnet – sozial abgeschottet in sanierten Altbauwohnungen, macht mehrmals im Jahr Urlaub in Übersee, hat hohe Bildungsabschlüsse, fährt im Volvo Kombi zum Biomarkt und bewegt sich kulturell in einer so abgeschlossenen Community, dass es oftmals gar nicht mehr sieht, wie es im armen Stadtbezirk nebenan zugeht. Sie verstehen nicht, was das gesellschaftliche Sein aus Menschen macht, oder eben nicht macht. Kein Klischee ohne Ausnahme: Natürlich gibt es auch in dieser Gruppe Leute, denen Kinderarmut und Ungleichheit nicht egal sind. Trotzdem ist dieses Milieu ein elitäres.

Dieses Milieu hat erheblichen Einfluss auf die Öffentlichkeit und wertet oft sogar ohne Absicht jene ab, die eben ganz anders sind, die in einer völlig anderen Welt leben. In diesen Kreisen gibt es nur noch moralische Entscheidungen, aber keine ökonomischen Grundlagen für eine Wut, die im schlimmsten Fall auch vor Menschenfeindlichkeit nicht mehr Halt macht. Wer Menschen verachtet, weil sie bei Primark einkaufen (müssen), der hat die Empathie aufgegeben und wird den Vormarsch rechter Demagogen nicht aufhalten.

Genauso unangenehm sind diejenigen, die sich selbst zu Anführern der Arbeiterklasse erklärt haben, obgleich ihnen diese nicht zuhört und sie jene Orte, an denen sie die Zielgruppe des »Unterschichtenfernsehens« vermuten, meiden wie die Pest. Sie verachten die Kämpfe und das Engagement etwa der Homosexuellenbewegung. Dass Schwule und Lesben in die Knäste gewandert sind, dass sie schlicht die Gleichheit der Menschen als Grundlage ihres Kampfes sehen, interessiert diese Salonmarxisten und vermeintlich proletarischen Revolutionärinnen nicht. Wer schließlich darüber redet, dass Flüchtlinge das Hauptproblem darstellen würden, und glaubt, dadurch verlorene Wähler und die sogenannten abgehängten Milieus zu erreichen, der ist ebenfalls Teil des Problems. Solche Leute befördern ungewollt den Rechtsrutsch, weil sie die Gesellschaft weiter spalten und der Uridee der Linken – der Idee des Gemeinsamen, der Idee der Gleichheit – zentral widersprechen – und manchmal steht zu vermuten, dass sie dies nicht nur strategisch, für schnelle Wahlerfolge, tun, sondern dass sie manche Menschengruppen tatsächlich abgeschrieben haben.

All das ist nicht einfach hinnehmbar. Wir müssen uns der gesellschaftlichen Veränderung folglich schnell und vehement stellen, denn die Zeit drängt. Der Grad an Entmenschlichung in sozialen Netzwerken, bei Facebook oder in Whatsapp-Gruppen oder auf den Marktplätzen ist erschreckend. Mich interessiert: Woher kommen diese Enthemmung, dieser Hass und diese unbändige Wut?

Wie so oft in der Linken (damit meine ich jene Parteien, die aus einer Tradition der Arbeiterbewegung kommen, also Linkspartei und SPD, doch auch all jene, die sich in Bündnissen und Bewegungen für eine gerechtere Welt engagieren) wird diese Debatte, wie schon gesagt, nur total, im Entweder- oder-Modus geführt. Kaum jemand macht sich die Mühe, den Entwicklungen auf den Grund zu gehen. Das möchte ich nachholen.

I.Rechtsverschiebung in der etablierten Politik

Anfang des Jahres 2019 fällt dem Verfassungsschutz auf, dass die AfD eventuell Schwierigkeiten mit der Verfassung haben könnte. Akribisch wurde zunächst der »Prüffall« AfD, später dann ein wesentlicher Teil der AfD unter die Lupe genommen.4 Doch spätestens seit den Bundestagswahlen 2017 lässt sich der rechte Dammbruch auch parlamentarisch beobachten; dafür braucht man keinen Verfassungsschutz, der seit seinem Bestehen den Feind immer vor allem links verortet hat. Er ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.