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Danksagung

Autorin, Verlag und Lektorat danken Herrn PD Dr. Winfrid Halder für seinen umfassenden und vielschichtigen Kommentar.

In memoriam Prof. Dr. Horst-Peter Hesse, der den Erstkontakt zur Autorin ermöglicht hat.

Für meinen Sohn Klaus
und meine Enkelin Janina

Inhalt


Prolog

Neunzehnhundertzweiundneunzig

Hintergründe: Wolfskinder

Eine Einführung von Heike Wolter (Lektorat)

Ich war ein Wolfskind aus Königsberg

Woher ich komme

Kinderwelt in Königsberg?

Kleine Fluchten

Im Krieg

Leben im Dunkel

Bleiben oder gehen?

Die Russen kommen

Wie Viehzeug getrieben

Ins Ungewisse

Auf dem Treck

Zurück nach Königsberg

Vogelfrei

Wo ist Oma?

Überleben

Betteltouren

Die Geschichte mit dem Hund

Hungerwinter 1946

Nur weg von hier

Nach Hause

Mit Mutter von Königsberg nach Kaunas

Raus aufs Land

Nimm dich in Acht!

Zwischen Sehnsucht, Angst und Trauer

Einsiedelei

Immer nur weiter

Über Litauen

Ein kleines Menschenkind

Tägliches Drama

Herberge gegen Arbeitskraft

Ein wenig Sonne

Ewig im Kreis?

Womit haben wir das nur verdient?

Endlich eine Bleibe

So was wie Alltag

Wiedersehen und Abschied

‚Du Germansky?’

Russland, Polen oder Deutschland?

In der Heimat? In der Fremde?

Lager Siebenborn

Gerade das Allernötigste

Ein Neuanfang

Suchdienst München: ‚Herbert Wedigkeit sucht seine Eltern.’

Epilog – Was danach geschah …

Die Last der Erinnerung

Ein Kommentar von PD Dr. Winfrid Halder

Kooperationspartner

Prolog


Neunzehnhundertzweiundneunzig

Brief an den Präsidenten der Litauischen Republik, Vytautas Landsbergis, am 5. Februar 1992

Sehr geehrter Herr Präsident!

Sie werden sicher erstaunt sein, von einer einfachen Frau aus dem Land Deutschland Post zu bekommen. Aber ich musste es einfach aus meinem Herzen heraus tun.
Hier ist kurz mein Vorleben!
Ich bin 1935 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren und habe den schrecklichen Krieg 1945 voll miterlebt, war dann 10 Jahre alt. Nach 1945 trat die schwerste Zeit meines jungen Lebens an. Mein Vater war Soldat in Russland und ist bis heute noch als vermisst gemeldet. Meine Mutter hatte 5 Kinder, das älteste war ich. In der Zeit von April 1945 bis Ende 1946 waren 2 dann verhungert, und ich habe mich als 10-jähriges Kind in einen russischen Munitionstransportzug, der bei Nacht und Nebel per Bahn nach Russland über Kanas/Litauen fuhr, reingeschmuggelt und bin dann so auf dem Bahnhof von Kanas in Litauen gelandet. Nun stand ich mutterseelenallein da in einer total fremden Welt für mich. Ich machte mich fortan auf den Weg in ungewisse Etwas. Ich musste feststellen, dass die Leute alle so gut waren und mir überall, wo ich hinkam immer zu Essen und Trinken gaben. Auf diese Weise habe ich bis Oktober 1948 ihr Land und Leute als Kinder-Bettlerin und jeden Tag eine Strecke von bis zu 20 Kilometern und mehr kennen- und liebengelernt. Habe auch große Gefahren überstehen müssen, wenn sich in manchen Ortschaften und Wäldern nachts Partisanenkämpfe abgespielt haben und ihre Landsleute und kleine Bauern im Land ermordet wurden, bei denen ich manchmal nachts Quartier bekommen hatte. Es waren für mich furchtbare Augenblicke, die ich bis heute nicht vergessen kann. So wie die Erlebnisse in Königsberg. 1948 wurde ich dann mit vielen, vielen Tausenden deutscher Kinder von den russischen Besatzern in LKW's nach Kanas transportiert, die sie überall im Land aufgesammelt hatten und zum größten Teil elternlos waren. Von dort aus wurden wir dann registriert und dachten, es geht ab nach Sibirien, aber es war anders. Wir wurden über Königsberg und Polen in verblombten Güterzügen nach Eisenach/Thüringen in die ehemalige DDR gebracht. Wurden dann nach 5 Wochen Quarantäne im Land aufgeteilt. Ich bin dann noch 5 Jahre in der damaligen DDR gewesen und habe da die Schule besucht. Konnte überhaupt kein Deutsch mehr, sondern nur etwas russisch und perfekt Litauisch. Es war sehr schwer für mich, habe sehr fleissig geübt und gelernt, auch noch einen Beruf erlernt und bin dann 1953 in den westlichen Teil von Deutschland geflüchtet über Berlin.
Seit dieser Zeit lebe ich hier und bin verheiratet sowie berufstätig und habe einen Sohn, der es weitaus besser hat als wie es mir ergangen ist.
Nun, Herr Präsident, es war weitaus viel mehr, aber das war die Kurzfassung.
Nun zum eigentlichen Brief: Ich möchte, und das ist mein sehnlichster Wunsch im Sinne bestimmt vieler tausender, heute erwachsener, deutscher Menschen, die das gleiche schwere Schicksal in ihrem Lande erlebten und von den liebevollen, freundlichen litauischen, gastfreundlichen Menschen praktisch vor dem Tod gerettet wurden, ein großes Dankeschön aussprechen. Und bitte geben Sie das auch mal ganz öffentlich im Fernsehen bekannt, damit das auch alle ihre Landsleute mal erfahren, was die alle Gutes an unseren Kindern nach 1945 getan haben. Danke, Danke, Danke.
Hiermit habe ich mir, was mir schon lange im Herzen lag, runtergeschrieben. Auch möchte ich mal sehr gerne wieder ihr Land besuchen, das wäre ein großer Herzenswunsch von mir. Es ist für mich, bei aller Liebe zu Königsberg, mehr Heimat geworden als mein Geburtsort.

Nun hoffe ich, Herr Präsident, dass Sie diesen für mich wertvollen Brief auch lesen dürfen und ihn auch veröffentlichen. Vielleicht schreiben Sie mir auch mal, dass ich weiß, ob der
Brief angekommen ist.

Es grüßt Sie und ihre lieben Landsleute von ganzem Herzen ihre

Hintergründe: Wolfskinder


Eine Einführung von Heike Wolter (Lektorat)

Wolfskinder

Wie hungrige Wölfe schlugen sich nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges deutsche Kinder durch Polen und Litauen, um sich selbst am Leben zu erhalten oder mit ihren Bettelzügen das Nötigste für ihre Familien zu finden. Von einer behüteten Kindheit war nichts zu spüren. Elend und Angst prägten die Entwicklung der Kinder.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Einnahme Ostpreußens durch sowjetische Truppen 1945, fanden Kinder oft ihre Familien nicht mehr wieder oder Mutter und Vater waren verhungert, vertrieben oder ermordet worden. Sie waren auf sich allein gestellt.

Die historische Forschung geht von etwa 25.000 solcher Kinder aus, die allein oder in kleinen Gruppen durchs Land zogen. Etwa 5.000 von ihnen gelang die Flucht nach Litauen. Dort wurden sie meist von den Litauern für einige Zeit mit versorgt. Doch nur kleine Kinder, die sich ihrem neuen Leben rasch anpassten, Litauisch lernten und ihren deutschen Hintergrund vergaßen, blieben dauerhaft in den Familien. Alle anderen wurden, nachdem man sie eine Zeitlang aufgenommen, aber auch als billige Arbeitskräfte eingesetzt hatte, weiter geschickt. Dies geschah vor allem aus der eigenen Not und der Angst heraus, von sowjetischem Militär gestellt zu werden. Dann drohte nämlich die Deportation der eigenen Familie.

Viele Wolfskinder sind auf ihren Wanderungen ums Leben gekommen – verhungert, entkräftet, erschlagen. Andere blieben in Litauen, bauten sich dort ein Leben auf. Wieder andere – etwa 200 – siedelten nach Deutschland um. Oftmals mit dem Lebensmotto: ‚Sei froh, dass du lebst; vergiss, was war; schau nach vorn!’

Nur vorsichtig suchen sie nun nach den Spuren ihrer Identität. Das Zurückblicken aber ist es, was dieser ‚vergessenen Generation’ (Sabine Bode), die zwischen allen Fronten stand, helfen könnte.

Das hat auch die Autorin, Frau Dorn, erkannt, wenn sie schreibt, sie habe sich mit diesem Buch alles ‚runtergeschrieben’.

Ich war ein Wolfskind aus Königsberg


Biographischer Roman von Ursula Dorn

Woher ich komme

Meine Eltern waren Asta Wedigkeit, geborene Hauke, und Franz Wedigkeit. Meine Mutter war das zwölfte Kind ihrer Eltern Irma und Gustav Hauke. Es waren selbstständige Schiffersleute, und meine Mutter heiratete meinen Vater Franz am 13. April 1935 in Königsberg.

Am 19. April 1935 wurde ich, ebenfalls in Königsberg, geboren. Nach mir kamen noch vier Geschwister. Eine Schwester und drei Brüder. Ich wuchs dann bis zu meinem sechsten Lebensjahr auf einem Kahn meiner Großeltern auf, denn meine Eltern fuhren zu dieser Zeit auch auf dem Kahn mit. Als ich dann zur Einschulung kam, mieteten meine Eltern eine Wohnung in Königsberg. Wir wohnten am Unterhaberberg. In der Nähe war auch die Schule, in die ich dann bis zu meinem fast zehnten Lebensjahr reinging. Zwischendurch zogen wir noch mal um. Zur Stadtmitte, Vorstädtische-Langgasse 139. Meine Großmutter Irma zog dann auch in die Stadt, weil mein Großvater zwischendurch verstorben war, und ihre Söhne übernahmen die zwei Schifferkähne. Oma Irma zog zum Kontiner Weg, und da war auch ein Schrebergarten mit Häuschen dabei, in dem sie dann alleine wohnen wollte.

Wir Kinder waren ganz froh darüber, immer zu Oma hinfahren zu können. Ich habe mich oftmals in die Straßenbahn gesetzt, die genau vor unserer Haustür hielt. Ich bin dann ohne zu bezahlen nach Oma hingefahren. Ich bin auch sehr oft über Nacht dageblieben und von dort aus zur Schule gefahren, aber immer ohne Geld. Die Schaffner kannten mich schon und lächelten immer, wenn ich da saß. Meine Oma bekam ja auch nur wenig Rente und konnte uns nicht immer Geld schenken. Für einen Groschen von ihr waren wir schon überglücklich und gingen uns dann ein paar Bonbons kaufen. Oma hatte im Garten etliche Beerensträucher, und die räuberten wir immer leer im Sommer. Es schmeckte uns eben alles, was da so wuchs.

Mein Vater wurde 1939 zum Militär eingezogen, und somit war er gleich nach Frankreich hintransportiert worden mit vielen anderen Männern, die ihre jungen Familien allein lassen mussten. Keiner ahnte, dass damit das große Leiden für alle beginnen sollte. Auch für meine Mutter mit ihren, zu der Zeit, vier Kindern ging es los. Der Ernährer für die Familie fehlte hinten und vorne, obwohl mein Vater auch nicht viel verdiente. Er kam auch aus einer kinderreichen Familie mit noch weiteren acht Geschwistern. Da hatte eben auch nur jeder das Nötigste.

Auf jeden Fall, wir Kinder haben unseren Vater sehr vermisst und ich besonders, denn ich hing sehr an ihm. Konnte mich immer mit Vater sehr gut unterhalten. Er nahm auch meinen Bruder Herbert und mich oftmals auf Landtouren mit dem LKW mit, wenn er die Bäcker mit Mehl beliefern musste oder von den Mühlen vor Königsberg das Mehl holte, um die Silos am Pregel wieder aufzufüllen. Es machte uns große Freude, wenn wir mitfahren durften. Aber das war nun alles Vergangenheit für uns. Der Vater war weg, und wir trauerten alle um ihn. Ab und zu kam ein Brief von der Front an uns, und so bekamen wir wenigstens ein Lebenszeichen von ihm. Urlaub war nicht zu erhoffen, aber eines Tages kam was ganz Besonderes. Er schickte aus Frankreich ein Paket an uns mit ganz toller Schokolade und noch anderen Süßigkeiten, und für meine kleine Schwester Eva und mich waren zwei schöne Kleider ganz in weiß drin. Die sahen so schön aus, und wir waren darüber ganz stolz. Meine Brüder Herbert und Hans hatten jeder ein kleines Holzauto bekommen. Die Freude war ganz groß für uns alle, aber der Vater fehlte uns trotzdem.

Kinderwelt in Königsberg?

Die Zeiten wurden immer schlechter. So langsam begannen bei uns die militärischen Luftangriffe der russischen Armee über unserer Stadt, und man musste überall aufpassen, wenn man auf der Straße war. Das ganz Gefährliche waren die Bordwaffenbeschüsse. Die Flieger kamen immer im Tiefflug über die Hausdächer. Es war ganz schlimm.

Auch die Lebensmittelversorgung wurde für uns alle immer schlechter. Es gab alles auf Lebensmittelmarken, wie Butter, Zucker, Mehl und Brot. An Obst war überhaupt nicht mehr zu denken. Auch Kleidung gab es kaum noch und wenn, dann nur auf Bezugscheine. Es war schon furchtbar. Ich hatte kaum noch ein Paar Schuhe zum Anziehen. Zu uns kam auch immer ein Mann von der Kreisverwaltung und forderte meine Mutter auf, doch auf dem schnellsten Weg die Stadt zu verlassen. Weil wir ja eine kinderreiche Familie waren, hatten wir Vorzug vor allen, aber meine Mutter stellte sich auf stur und dachte gar nicht daran, Königsberg zu verlassen. Wenn sie es gemacht hätte, wäre uns allen viel Unheil erspart geblieben, das noch auf uns zukommen sollte.

Unsere Kinderwelt sah für uns alle sehr traurig aus. Gespielt haben wir fast gar nicht mehr, draußen ging es nicht, wegen der Granateneinschläge, und somit wurden wir ganz automatisch Kellerkinder, die kaum noch an die Luft kamen. Einmal hatte ich großes Glück. Bei uns vor der Haustür hielt ein großes Militärauto und war randvoll mit Schuhen beladen. Ich erkannte die glückliche Lage und fragte einen Soldaten nach einem Paar Schuhe für mich und meine Geschwister. Er sagte, geh rauf und such dir welche aus. Ich wühlte so lange, bis ich etwa meine Größe gefunden hatte und für meine Geschwister habe ich ungefähr die Größen erwischt, die passen könnten. Die waren alle mit Schnüren zusammengebunden. Ich habe mich dafür bedankt und lief mit vollen Armen zu meiner Mutter hoch, die hat nicht schlecht gestaunt, was ich da anschleppte. Nun ging das große Anprobieren los. Sie passten nicht hin und nicht her, aber wir trugen sie, auch wenn es anschließend Blasen an den Hacken gab.

Mit der Schule ging es jetzt auch immer mehr bergab wegen der vielen Luftangriffe. Mal war Unterricht und dann mal wieder nicht. Oftmals mussten wir, wenn die Sirenen heulten, in den Schulluftschutzkellerräumen das Ende der Luftangriffe abwarten. Das war dann ein Gekreische von den Kindern da unten.

Eines Tages war dann ganz Schluss, und wir durften nicht mehr zur Schule gehen. Ich konnte es nicht begreifen, dass ich nicht mehr dorthin konnte und schlich mich heimlich von zu Hause weg, um nur zu gucken, ob sie wieder auf war.

Kleine Fluchten

Manchmal, wenn es ruhig in den Straßen war, dann lief ich schnell zu meiner Tante Agnes hin, die wohnte nur ein paar Blöcke weiter, das war von meiner Muter die ältere Schwester. Dort fühlte ich mich immer ganz wohl. Es war dort immer so gemütlich. Wir haben dann mit ihrer Tochter Karin, die schon 16 Jahre alt war, manchmal schön gefrühstückt und uns was erzählt, was ich bei meiner Mutter nie erlebt habe. Ich weiß auch nicht warum, aber so was hat sie mit uns Kindern nie gemacht. Auch habe ich Agnes beim Nähen an der Nähmaschine zugesehen, wenn sie für ihre Tochter was schneiderte. Mich hat das alles schon interessiert. Was Karin zu klein wurde, bekamen ich und meine kleine Schwester geschenkt. Es wurde dann von Tante Agnes umgeändert. Wir freuten uns über die schönen Sachen.

Bei uns zu Hause sah es nämlich nicht so rosig aus. Meine Mutter war dazu noch eine starke Raucherin, und da wurden sogar unsere Buttermarken für umgetauscht, um ans Rauchmaterial dranzukommen. Da ich die ältere Tochter war, musste ich immer in der Nachbarschaft los und die Marken umtauschen. Den Kindern wurde somit das bisschen, was ihnen ja zustand, auch noch entzogen. Deshalb haben Tante Agnes und meine Mutter auch oftmals Auseinandersetzungen gehabt. Die konnte das wohl auch nicht verstehen.

Sie hatte dann auch eine Bekannte namens Sahm kennen gelernt, und die gingen dann auch mal öfters weg und wir blieben bei den schwierigen Verhältnissen mit den Luftangriffen im Keller oder in der Wohnung zurück. Ich musste immer aufpassen, weil ich ja die Ältere war und hatte selbst furchtbare Angst gehabt, dass uns was passieren könnte.

Meine Mutter hat dann einen Soldaten kennen gelernt. Er und andere hatten sich bei uns im Schrebergartengelände als Einheit einquartiert. Dort hatten wir eine schöne, große Laube und waren auch oftmals im Sommer vor den Angriffen dort gewesen, um dort Wochenenden zu erleben. Nun aber ging das nicht mehr. Wenn es noch still über der Stadt war, haben wir uns rausgewagt, und das war selten der Fall. Nur meine Mutter ging jetzt öfters dorthin wegen ihres Freundes. Aus dieser Beziehung wurde dann mein kleiner Stiefbruder Max geboren. Für meinen Vater, der lange Zeit nicht dagewesen war und eines Tages auf Urlaub kam, brach wohl die ganze Welt zusammen, als er das Kind sah. Ich kann mich genau an den Gesichtsausdruck erinnern. Darauf folgte ein fürchterlicher Ehekrach zwischen Vater und Mutter, und wir wussten gar nicht, was da los war, mussten alles voll großer Angst miterleben. Wir haben alle fürchterlich geweint, und dann ist mein Vater weggegangen und kam ein paar Tage nicht wieder, obwohl wir immer sagten, wo ist unser Papa? Er kam aber nicht heim. Dann stand er doch plötzlich vor uns. Wir hingen alle an Papa. Jeder hatte wohl ein Recht darauf, mal bei ihm auf dem Schoß zu sitzen und ihn zu liebkosen. Ich glaube, er hat es auch genossen, von allen Kindern umarmt zu werden. Nur für den Kleinsten war kein Gefühl da. Der wurde noch nicht mal richtig angeguckt, aber wir Kinder hatten ihn alle so lieb und verwöhnten ihn. Er war dann noch ein paar Tage bei uns, und dann musste er wieder weg. Wir waren alle sehr traurig darüber und hätten ihn so gerne bei uns gehabt.

Jetzt wurde mein Vater nach Russland versetzt mit seiner Einheit, und keiner wusste für wie lange. Wie mag es wohl zwischen meinen Eltern gewesen sein? Der Abschied! Wir wussten es nicht, nach der ganzen Enttäuschung für unseren Vater.

Im Krieg

Unsere Spiele auf der Straße wurden vonTag zuTag gefährlicher für uns. Manchmal schafften wir es noch, bis zu unserer Oma Irma zum Schrebergarten hinzukommen und haben dann auch bei ihr geschlafen, wenn es uns zu gefährlich war, wieder nach Hause zu gehen. Denn die Straßenbahnen fuhren auch nicht mehr regelmäßig wegen der Luftangriffe. Irgendwie schafften wir es immer, hin und her zu kommen.

Am Kontiner Weg, wo Oma den Garten hatte, kamen fast täglich viele Matrosen vom Hauptbahnhof an, ihren Dienst im Hafen auf der Schichauwerft anzutreten, wo sie alle auf Kriegsschiffe mussten. Wir haben uns dann einen Spaß gemacht und sie gefragt, ob wir ihre Sachen ein Stück mittragen könnten? Sie lachten uns meistens an und gaben uns was zu tragen. Dafür bekamen wir dann auch etwas Geld oder Süßigkeiten, und wir strahlten vor Freude. Denn die Soldaten bekamen ja so was alles. Wir mussten aber immer aufpassen wegen der Tiefflieger von den Russen. Einmal mussten wir auch bei Oma bleiben und schafften es nicht mehr bis zum Luftschutzbunker, der vom Garten aus ganz in der Nähe stand. Mein Bruder Herbert sowie Bruder Hans, Oma und ich legten uns lang auf den Fußboden, den wir vorher mit einigen Decken ausgelegt hatten. Wir hatten alle Angst. Später sind wir dann eingeschlafen vor Müdigkeit. Dabei hatten wir gar nicht bemerkt, dass bei meinem Bruder Hans in der Nacht was an seinem linken Ohr rumgeknabbert hatte. Am Morgen lag er da und war ganz blutverschmiert und keiner wusste, was das wohl gewesen war. Dann sagte meine Oma, das wird wohl eine Ratte gewesen sein, und wir hatten auf einmal richtige Angst.

Das Holz und die Kohle wurden auch immer knapper, und wir gingen dann auf den, bei uns am Schrebergarten liegenden Verschiebebahnhof, wo manchmal Kohlewaggons abgestellt waren. Wir haben uns heimlich welche von den Waggons runtergeholt, aber das musste blitzschnell gehen, denn es liefen dort immer Bahnposten umher. Wir aber waren ja schon ganz schön pfiffig im Organisieren und hatten auch immer Glück dabei. Manchmal haben wir auch auf den Schienen zwischen den Waggons gespielt. Es war sehr gefährlich, aber es hat uns großen Spaß gemacht. Ein Onkel von mir, der ging immer im Hafenbecken bei den Schichauwerften mit einem Kahn, Kohle mit einem Kescher aus dem Hafenbecken fischen. Da fuhr ich immer mal mit. Dann bekamen wir auch ein paar davon ab. So hielten wir uns immer über Wasser.

Meine Oma Irma zog dann zu ihrer Tochter Agnes in die Wohnung mit ein, denn die Luftangriffe wurden jetzt immer stärker, und sie konnte in dem Schrebergarten nicht mehr allein bleiben. Einen großen Angriff hatten wir ja schon hinter uns und zwar waren es die Engländer. Die hatten es geschafft, innerhalb von zwei Stunden in der Nacht, so um zwei Uhr, die ganze Innenstadt in Schutt und Asche zu legen. Es war furchtbar. Die Sirenen gingen los, jeder wurde aus dem Schlaf gerissen. Alles lief auf den Straßen umher. Es gab überhaupt keine Ordnung mehr. Die Menschen schauten zum taghellen Himmel hinauf, es glitzerte alles in der Luft von Stanniolpapier, das die Flugzeuge vorher abgeworfen hatten. Sie hatten sich zu einem riesigen Kreuz in der Luft über der Innenstadt verteilt, und wir liefen alle um unser Leben. Wir konnten es gerade noch bis zu dem Luftschutzbunker am Oberhaberberg (Hauptbahnhof) schaffen. Ich werde es nie vergessen. Durch die hohe Druckwelle von dem Bombenabwurf fielen die ganzen Menschen im Bunker um. Ich habe vor Angst gleich gebrochen und gedacht, jetzt sind wir gleich alle tot. Es folgten nacheinander Einschläge ohne Ende, und die ganze Innenstadt stand in Flammen. Aber keiner konnte helfen.

Zum Morgen hin hatte es dann nachgelassen, und einige mutige Leute verließen dann so langsam den Bunker. Wir standen noch voller Angst im Körper herum und trauten uns gar nicht raus. Es war auch noch keine Entwarnung gegeben worden. Da sahen wir auf einmal unsere Tante Agnes mit ihrer Tochter Karin und Oma, alle kreideweiß im Gesicht vor lauter Angst. Sie waren ganz baff, uns hier zu sehen. Die waren am anderen Ende vom Bunker reingekommen, und da auch alles dunkel war, konnten wir uns nicht vorher sehen. Nun fassten wir den Entschluss und gingen, wie alle anderen Leute, nach draußen. Es war furchtbar, alles brannte, und jeder tastete sich in die Straßen, soweit es möglich war. Wir hatten großes Glück gehabt. Das Haus, in dem wir wohnten, war heil geblieben. Tante Agnes war so aufgeregt; wir mussten dann erst alle mit ihr gehen und sehen, ob ihre Wohnung in der Knochenstraße heilgeblieben war. Aber wir sahen schon von weitem, dass die ganzen Häuser in Schutt und Asche lagen. Wir brachen alle in Tränen aus und haben uns alle aneinandergeklammert vor Verzweiflung.

Nun hatten die drei kein Zuhause mehr. Alles war weg, nur das nackte Leben hatten sie. Sie blieben erstmal vorübergehend bei uns, bis sich einigermaßen alles beruhigt hatte. Tante Agnes bemühte sich dann um eine andere Wohnung, und es dauerte nicht lange, dann bekam sie eine am Unterhaberberg zugewiesen. Sie waren sehr froh darüber, denn es wuchs uns über den Kopf mit so vielen Personen in unserer nicht allzu großen Wohnung und davon meistens noch im Luftschutzkeller. In unserer Verwandtschaft wurde alles für die Drei zusammengesucht, was noch übrig war, um es denen einigermaßen wohnlich zu machen.

Leben im Dunkel

Fortan war es schon schwierig, auf den Straßen umherzugehen. Es gab auch am Tage mehrmals schon Bordwaffenbeschuss aus der Luft und das immer im Tiefflug. Die Leute liefen fast immer an den Hauswänden entlang. Wenn ich bei uns gegenüber zum Bäcker hingehen wollte, dann musste ich ganz derbe aufpassen, dass ich nicht von einem Geschoss getroffen wurde. Die waren überall gegenwärtig in der Stadt.