Platon: Der Sophist

 

 

Platon

Der Sophist

 

 

 

Platon: Der Sophist

 

Übersetzt von Friedrich Schleiermacher

 

Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Raffael, Die Schule von Athen (Detail)

 

ISBN 978-3-8430-5828-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-5180-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-5182-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden etwa nach 365 v. Chr. Erstdruck (in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino) in: Opere, Florenz o. J. (ca. 1482/84). Erstdruck des griechischen Originals in: Hapanta ta tu Platônos, herausgegeben von M. Musoros, Venedig 1513. Erste deutsche Übersetzung durch Johann Friedrich Kleuker in: Werke, 4. Band, Lemgo 1786. Der Text folgt der Übersetzung durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher von 1807.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940].

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Der Sophist

(Sophistês)

Theodoros · Sokrates · Fremder aus Elea · Theaitetos

Theodoros: Der gestrigen Verabredung gemäß, o Sokrates, Stellen wir selbst uns gebührend ein und bringen auch hier noch einen Fremdling mit, seiner Abkunft nach aus Elea, und einen Freund derer, die sich zum Parmenides und Zenon halten, einen gar philosophischen Mann.

Sokrates: Solltest du etwa, Theodoros, dir unbewußt nicht einen Fremdling, sondern einen Gott mitbringen nach der Rede des Homeros, welcher ja sagt, daß sowohl andere Götter solche Menschen, die an Recht und Scham festhalten, als auch besonders der gastliche Gott, zu geleiten pflegen, um den Übermut und die Frömmigkeit der Menschen zu beschauen: Vielleicht also begleitet auch dich auf dieselbe Art dieser, einer der Höheren, um uns, die wir noch so gering sind im Reden, heimzusuchen und zu überführen, ein überführender Gott?

Theodoros: Nicht ist dieses die Weise des Fremdlings, o Sokrates; sondern bescheidener ist er als die, welche sich auf das Streiten gelegt haben. Und es dünkt mich der Mann ein Gott zwar keineswegs zu sein, göttlich aber gewiß; denn alle Philosophen möchte ich so benennen.

Sokrates: Und mit Recht, o Freund. Nur mag wohl dieses Geschlecht, daß ich es heraussage, nicht viel leichter zu erkennen sein als das der Götter. Denn in gar mancherlei Gestalten erscheinen, wegen der Unwissenheit der andern, diese Männer, die nicht angeblichen, sondern wahrhaften Philosophen, und durchgehen, die Gebiete der Menschen betrachtend, von oben her der Niedern Leben, und einigen scheinen sie gar nichts wert zu sein, anderen über alles zu schätzen, und sie werden bald für Staatsmänner angesehen, bald für Sophisten; ja bisweilen sind sie einigen schon vorgekommen als gänzlich Verwirrte. Von unserm Fremdling nun möchte ich gern vernehmen, wenn es auch ihm gelegen wäre, was doch die Leute dortigen Ortes hiervon hielten und sagten.

Theodoros: Wovon denn?

[665] Sokrates: Vom Sophisten, Staatsmann, Philosophen.

Theodoros: Was doch eigentlich? Und was für Ungewißheit hast du hierüber, daß dir dies zu fragen eingefallen ist?

Sokrates: Diese, ob sie dies alles für einerlei hielten oder für zweierlei, oder ob sie, so wie die drei Wörter, so auch drei Gattungen unterscheidend, nach der Zahl der Namen mit jedem auch einen besonderen Begriff verknüpften?

Theodoros: Er wird ja, wie ich meine, kein Bedenken haben, dies durchzugehen. Oder was, o Fremdling, wollen wir sagen; fremder: Eben dies, Theodoros. Denn weder habe ich ein Bedenken, noch ist es schwer zu sagen, daß sie es ja wohl für dreierlei hielten. Einzeln aber genau zu bestimmen, was jedes ist, das ist kein kleines noch leichtes Geschäft.

Theodoros: Recht glücklich, o Sokrates, hast du einen Gegenstand ergriffen, der dem ganz verwandt ist, worüber wir schon, ehe wir hierhergingen, diesen befragten. Er aber hat dasselbe, was jetzt gegen dich, auch vorher gegen uns vorgeschützt. Denn genug darüber gehört zu haben bekennt er, und auch, daß es ihm nicht entfallen ist.

Sokrates: Also, o Fremdling, bescheide uns ja nicht abschlägig, indem wir eben die erste Gunst von dir erbitten! Sondern nur dies sage uns zuvor, ob du gewohnt bist, lieber für dich allein in fortlaufender Rede sprechend dasjenige durchzuführen, was du jemandem darstellen willst, oder in Fragen; welcher Art und Weise ich einst den Parmenides sich bedienen und treffliche Sachen durchführen hörte in meinem Beisein, da ich noch ein junger Mensch, er aber schon ziemlich bei Jahren war.

Fremder: Mit einem, o Sokrates, der ohne Verdruß und lenksam mitzusprechen weiß, lieber leichter so gesprächsweise; wenn aber das nicht, dann allein.

Sokrates: Demnach nun steht dir frei, von den Anwesenden welchen du willst auszuwählen; denn alle werden dir willig folgen. Nimmst du aber meinen Rat an, so wirst du einen von den Jünglingen wählen, etwa hier den Theaitetos, oder welcher von den andern nach deinem Sinne sein mag.

Fremder: O Sokrates, eine gewisse Scham ergreift mich doch, daß ich, jetzt zum ersten Male unter euch, nicht soll kurzes Gespräch Wort um Wort mit euch führen, sondern mich ausbreitend[666] eine zusammenhängende Rede durchführen, geschehe es nun allein oder mit einem andern, als ob ich mich vor euch zeigen wollte. Denn das Aufgegebene ist in der Tat nicht so kurz, als einer, wenn es so gefragt ist, erwarten könnte; sondern es bedarf einer gar langen Auseinandersetzung. Auf der andern Seite aber dir und diesen nicht gefällig zu sein, zumal nach dem, was du gesagt, scheint mir ungastlich zu sein und ungesittet. Denn daß Theaitetos der Gesprächsgenosse sei, ist mir auf alle Weise genehm, sowohl infolge dessen, was ich schon selbst vorher mit ihm gesprochen habe, als auch, weil du ihn jetzt dazu empfiehlst.

Theaitetos: Wirst du so aber auch, wie Sokrates sagte, allen gefällig sein, o Fremdling?

Fremder: Hierüber scheint nichts mehr zu sagen nötig, Theaitetos, und an dich soll von nun an, wie es scheint, meine Rede ergehen. Wenn es dich aber auf die Länge anstrengt und dir beschwerlich wird, so gib die Schuld davon nicht mir, sondern diesen deinen Freunden!

Theaitetos: Ich hoffe ja, daß ich jetzt gerade nicht so ermüden werde. Sollte mir aber dergleichen begegnen, so wollen wir auch diesen Sokrates dazunehmen, der dem Sokrates dem Namen, mir dem Alter nach gleich ist und mein Übungsgenosse und dem daher mancherlei mühsam mit mir zu bestehen nicht ungewohnt ist.

Fremder: Wohlgesprochen, und hierüber magst du selbst mit dir zu Rate gehn im Verfolg unserer Rede. Jetzt aber mußt du gemeinschaftlich mit mir zur Untersuchung schreiten, zuerst beginnend, wie mich dünkt, vom Sophisten zu suchen und durch die Rede aufzuhellen, was er wohl ist. Denn jetzt haben ich und du von ihm nur erst den Namen gemein; die Sache aber, der wir ihn beilegen, mag vielleicht jeder von uns bei sich selbst besonders vorstellen. Immer aber muß man in allen Dingen über die Sache lieber durch Erklärungen sich verständigen als nur über den Namen ohne Erklärung. Der ganze Stamm aber, den wir jetzt vorhaben zu suchen, ist wohl nicht eben vor andern leicht zu ergreifen: wohin er gehört, der Sophist. Was aber Großes wohl gelingen soll, darüber sind alle von jeher einig, daß man es zuvor an Kleinem und Leichterem üben müsse, ehe als an dem Größten selbst. So auch jetzt, o Theaitetos,[667] rate ich wenigstens uns beiden, – weil wir die Art des Sophisten für mühsam und schwer einzufangen halten, zuvor an etwas anderem. Leichterem das Verfahren zu versuchen, wenn du nicht etwa anderswoher einen anderen, leichteren Weg anzugeben hast.

Theaitetos: Den habe ich nicht.

Fremder: Sollen wir uns also etwas ganz Geringes holen und daran versuchen, ein Vorbild aufzustellen für das Größere?

Theaitetos: Ja.

Fremder: Was sollen wir also vornehmen leicht zu Erkennendes und Kleines, dennoch aber nicht kürzerer Erklärung Bedürfendes als das Größere? Etwa der Angelfischer: ist der nicht etwas allen Bekanntes und viel Mühe auf ihn zu wenden gar nicht wert?

Theaitetos: So ist er.

Fremder: Ein Verfahren aber soll er uns, hoffe ich, zeigen und eine Erklärung gar nicht unangemessen für das, was wir wollen.

Theaitetos: Das wäre ja vortrefflich.

Fremder: Wohlan denn, laß uns so mit ihm beginnen: Sage mir, wollen wir ihn als einen Künstler setzen oder als einen Kunstlosen, dem aber irgend ein anderes Vermögen zukommt?

Theaitetos: Keineswegs doch als einen Kunstlosen.

Fremder: Für alle Künste aber gibt es etwa zwei Begriffe.

Theaitetos: Wie das?

Fremder: Der Ackerbau nämlich und jegliche Bemühung um einen sterblichen Körper, und wiederum, was sich auf das Zusammengefügte und Gestaltete bezieht, was wir Gerätschaft nennen, dann die nachahmende Kunst, alles dieses kann mit Recht durch eine Benennung bezeichnet werden.

Theaitetos: Wie und durch welche?

Sokrates: Wo nur immer jemand, was zuvor nicht war, hernach zum Dasein bringt, sagt man, daß der Bringende es mache, das Gebrachte aber gemacht werde.

Theaitetos: Richtig.

Fremder: Was wir nun eben angeführt haben, hatte sämtlich hierin seine Kraft.

Theaitetos: Hierin allerdings.

Fremder: So könnte man demnach dies alles zusammenfassend die hervorbringende Kunst nennen.

[668] Theaitetos: So sei es.

Fremder: Alle Arten des Erlernens aber auf der andern Seite und der Erkenntnis, alles Geldverdienen ferner und Kämpfen und Jagen, da keine davon etwas verfertigt, sondern nur das bereits Vorhandene und Gewordene teils durch Worte und Taten in ihre Gewalt bringt, teils es denen, welche es in ihre Gewalt bringen, nicht vergönnt: so könnte deshalb am besten eine Kunst, welche man die erwerbende Kunst nennte, alle diese Abteilungen beschreiben.

Theaitetos: Ja, das ginge wohl.

Fremder: Wenn nun alle Künste zur erwerbenden oder hervorbringenden gehören, unter welche, o Theaitetos, wollen wir den Angelfischer setzen?

Theaitetos: Unter die erwerbende offenbar.

Fremder: Gibt es aber von der erwerbenden nicht zwei Gattungen, deren eine jegliches auf beiden Seiten gutwillige Umsetzen ist durch Geschenk sowohl als Kauf oder Miete; das übrige insgesamt aber, jegliche Bezwingung, geschehe sie nun wörtlich oder tätlich, in sich Schließende hieße die bezwingende.

Theaitetos: Es ist deutlich aus dem Gesagten.

Fremder: Wie aber? Sollen wir die bezwingende nicht wieder in zwei zerschneiden?

Theaitetos: Auf welche Art?

Fremder: Indem wir nämlich alles Offenbare als Kampf setzen, das Heimliche in ihr aber insgesamt als Nachstellung.

Theaitetos: Gut.

Fremder: Die Nachstellung nun wäre es unvernünftig nicht wieder in zwei zu teilen.

Theaitetos: Sage, wie?

Fremder: Die eine für das Leblose absondernd, die andere für das Belebte.

Theaitetos: Warum sollte man nicht, wenn es doch beides gibt?

Fremder: Wie gäbe es das nicht? Und die des Leblosen, welche bis auf einige Teile der Taucherkunst und andere dergleichen kleinere unbenannt ist, müssen wir liegen lassen, die des Belebten aber, welche nun die Nachstellung gegen Tiere ist, die Tiernachstellung oder die Jagd nennen.

[669] Theaitetos: So sei es.

Fremder: Von der Jagd aber könnte man nicht eine zwiefache Art mit Recht anführen? Eine, welche, auf die Gattung der Landtiere gehend, in viele Arten und Namen geteilt ist, die Landjagd; die andere, ganz auf die schwimmenden Tiere gehend, die Jagd im Flüssigen.

Theaitetos: Allerdings.

Fremder: Von den schwimmenden Tieren aber sehen wir ein befiedertes Geschlecht und ein im Wasser lebendes?

Theaitetos: Wie sollten wir nicht?

Fremder: Und die gesamte Jagd auf das befiederte Geschlecht heißt doch wohl die Vogeljagd?

Theaitetos: So heißt sie allerdings.

Fremder: Und die auf das im Wasser Lebende insgemein die Fischerei?

Theaitetos: Ja.

Fremder: Und wie? Möchten wir nicht auch diese Jagd wiederum in zwei große Teile teilen?

Theaitetos: In was für welche?

Fremder: Inwiefern der eine durch Gehege allein den Fang vollbringt, der andere durch Verwundung.

Theaitetos: Wie meinst du das? Und wonach trennen sich beide?

Fremder: Die einen, weil alles, was etwas, um es zurückzuhalten, umgibt, wohl ein Gehege heißen muß.

Theaitetos: Freilich.

Fremder: Reusen also und Schlingen und Hamen und Grundnetze und dergleichen, soll man das anders als Gehege nennen?

Theaitetos: Nicht anders.

Fremder: Netzfang also würden wir diesen Teil der Jagd nennen, oder so ungefähr.

Theaitetos: Ja.

Fremder: Der aber mit Haken und Harpunen durch Verwundung geschieht, den würden wir von jenem unterscheidend jetzt mit einem Worte die Wundfischerei nennen müssen. Oder wie, Theaitetos, könnte man sie besser benennen?

Theaitetos: Laß es sein mit dem Namen; denn auch dieser ist gut genug.

Fremder: Die nächtliche Art Wundfischerei nun, die beim[670] Scheine des Feuers getrieben wird, heißt bei denen, die ihr obliegen, schon der Fackelfang.

Theaitetos: Freilich.

Fremder: Die aber bei Tage, mit Haken an der Spitze und mit Harpunen, heißt im allgemeinen die Hakenfischerei.

Theaitetos: So heißt sie.

Fremder: Was nun bei dieser zur Wundfischerei gehörigen Hakenfischerei von oben nach unten geschieht, das wird, weil man sich der Harpunen vornehmlich auf diese Art bedient, die Harpunenfischerei genannt.

Theaitetos: So nennen sie einige.

Fremder: Das übrige ist nun nur noch eine Art.

Theaitetos: Was für eine?

Fremder: Die durch den ganz entgegengesetzten Zug mit dem Angelhaken getrieben wird und die Fische nicht gleichviel an welchem Teile des Leibes trifft wie mit der Harpune, sondern allemal am Kopf und Munde und den gefangenen Fisch dann mittelst Rute und Rohr von unten heraufzieht. Und wie sollen wir sagen, Theaitetos, daß diese müsse genannt werden?

Theaitetos: Mich dünkt, was wir uns eben vorgesetzt hatten zu finden, nun wirklich vollbracht zu sein.

Fremder: