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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Andreas Neumann

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-8423-9308-0

I. Inhalt

I.

Einstieg

II.

Abfahrt – Anfahrt – Ausfahrt

III.

Das Erwachen

IV.

Mühle, Schloss und Wald

V.

Lokalkolorit

VI.

Auf dem Rathaus

VII.

Zufallsinformationen

VIII.

Es ist nicht alles alt, was glänzt

IX.

Trickgesellschaft

X.

Hoher Besuch

XI.

Lasst Neues alt aussehen!

XII.

Wem schlägt das letzte Stündlein?

XIII.

Der Hahnenschrei

I. Einstieg

Was es zu meiner Person zu wissen gibt.

Auch schon mal auf die Empfehlung eines Menschen hin – sei es ein guter Bekannter oder Verwandter – zu einem Urlaubsort aufgebrochen? Nun, ich möchte denjenigen kennenlernen, der das nicht von sich behaupten könnte. Doch unabhängig davon, ob es sich dabei um eine lange Reise oder einen Kurztrip gehandelt haben mag – Hand aufs Herz: Wer fährt gerne einem freundschaftlichen Tipp hinterher, ohne genau zu wissen, wohin es eigentlich geht und was einen am Ziel erwartet? Das ist den wenigsten recht.

Ich bin da übrigens nicht anders. Auch ich suche mir das Reisedomizil gewöhnlich lieber selbst aus und informiere mich halbwegs im Voraus, was am Urlaubsort geboten wird – gewöhnlich, wie gesagt. Nur einmal, ein einziges Mal habe ich meine bewährte Gewohnheit außer Acht gelassen und schon sollte alles anders werden!

Anfang alles Andersartigen, das war damals der Fingerzeig eines Arbeitskollegen gewesen: »Das glaubst du nie – war reiner Zufall! Ich weiß auch nicht mehr, wie – ganz unter uns, nimm dir mal etwas Zeit, fahr für drei, vier Tage hin und schau dich um. So etwas gibt’s eigentlich gar nicht!« Das letzte Wort hing noch in der Luft, da hatte er mir schon ein zusammengerolltes Zettelchen in die Hand gedrückt.

Mein Kollege – das sei an dieser Stelle noch schnell zwischengeschoben – ist mit mir für einen kleinen namhaften Verlag im norddeutschen Raum tätig, dessen Publikationsschwerpunkt auf anspruchsvoller humoristischer Lektüre liegt. Unsere Tätigkeit in diesem Haus trägt zwar viele Bezeichnungen, etwa die sportlich-aggressive des »Talent-Scouts«, jene geheimnisumwitterte des »Literaturagenten« oder die vollkommen aussagefreie des »Personal Advisors«, trotzdem lässt sie sich für den Laien in wenigen Worten erklären: Wir machen möglichst interessante Erstlingsmanuskripte ausfindig, aus den dahinter stehenden Debütanten anschließend etablierte Autoren oder aber aus Letzteren auflagenstärkere Namen. Und das ist alles andere als lustig, weil es nicht nur gilt, kindisch verletzbaren Künstlerstolz, sondern auch die lächerlichen finanziellen Erwartungen vieler Spaßmacher zu ertragen, Erwartungen, die heutzutage leider mit nüchternen, gelegentlich allzu ernüchternden Absatzzahlen in Einklang gebracht werden müssen. Denn die ehemals potentiellen Kunden haben in der heutigen Zeit durch das sprichwörtlich explodierte Medienangebot sowie das globalisiert beschleunigte Arbeitsklima zunehmend weniger Lust und Muße zum Lesen. Der Renner sind inzwischen vielmehr knappe Multimediainfos. Flott geschnittene Netz- und Handybeiträge kommen an. Warum hingegen die Printmedienbranche darauf jahraus, jahrein mit einer steigenden, geradezu inflationären Anzahl von Veröffentlichungen reagiert und dabei um ihr Überleben kämpft, bleibe ein internes Geheimnis.

Aber zurück zum Beginn meiner Ausführung, zum besagten »Anfang alles Andersartigen«. Oder wie hätte ich das überschwängliche Gebaren meines beruflichen Leidensgenossen sonst einordnen sollen, da nicht nur Besonnenheit und Realitätsnähe in der heutigen Zeit Maximen sind, sondern auch, weil er normalerweise einen ausgeprägt verschlossenen Charakter hat? Warum dieses übertrieben symbolische Papierröllchen? Und was, bitte, sollte ich nach seinem Empfinden nicht glauben, was sollte es »eigentlich gar nicht« geben, das es jedoch seinen Worten nach zu urteilen noch irgendwo oder irgendwie zu finden gab? Schlicht Ungesehenes, Kurioses gar oder etwa Abenteuer in unserer durchorganisierten Welt – war es das? Selbst heute noch beschäftigt mich gelegentlich die Frage, wie mein Kollege überhaupt darauf kommen konnte, ausgerechnet mir sein Geheimnis mitzuteilen. Da er mich aber aus unerfindlichen Gründen niemals nach meinen Reiseerfahrungen zwecks fruchtbaren Austausches fragte, habe ich auch nie wieder in seiner oder anderer Kollegen Gegenwart jenes Thema angesprochen, geschweige denn etwas berichtet, sei es aus Vorsicht, durch meine Tipp-bedingten Erlebnisse Neid auf mich zu ziehen, oder aus Angst, man würde mich dann im Verlag für einen Märchenerzähler halten. Bleibt mir aus diesen Gründen folglich nichts anderes übrig, als hier und heute meine Erlebnisse unter einem Pseudonym bei der Konkurrenz zu veröffentlichen.

Dastehend mit jenem inzwischen zaghaft aufgerollten Zettelchen in der Hand, das Stück Papier zwischen meinen Fingern stumm musternd, hatte ich versucht – das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen –, mir einen Reim auf dieses Wort zu machen, welches handgeschrieben zu lesen gewesen war: ein Ortsname – ohne jeden Zweifel. Leicht ersichtlich aus einer der typischen Silben, auf welche Siedlungsbezeichnungen nur allzu oft in Deutschland zu enden pflegen, in der hier dargebotenen Gesamtlautung jedoch mir noch nie zu Ohren gekommen. Wie auch immer, ich meine, einen banalen Ortsnamen in Einklang zu bringen mit Unverhofftem, Unerwartbarem unter solchem karnevalistischem Abrakadabra von Übergabe …?! Selbstverständlich, das macht jeden neugierig, nachdenklich sowieso. Aber nein und nochmals nein, nachgehakt war von mir damals nicht weiter worden. Stattdessen hatte ich meinen Kollegen lediglich wortlos angesehen, prüfend, ob etwas aus seinem Gesichtsausdruck zu lesen sei, hatte dann gegrinst und mich mit einem gespielt lässigen Nicken auf das Spielchen eingelassen. Diesem orakelhaften Geheimtipp sollte zu gegebener Zeit, ohne weitere Nachfragen und ohne jede Recherche im Vorfeld nachgespürt werden.

II. Abfahrt – Anfahrt – Ausfahrt

Wie ich zu einem unvergesslichen Wochenendtrip aufbreche.

Keine Hand voll Wochen nach diesem Ereignis – früher zu fahren hatte es die Situation im Verlag nicht erlaubt – machte ich mich an einem Donnerstagnachmittag auf den Weg. Das begann damit erst so richtig, dass ich nach Heimkunft aus dem Büro eine schnelle Dusche nahm, kurz darauf die abends zuvor bereits gepackte, kleine Reisetasche auf den Rücksitz meines Autos warf und jenen – für mich eher Klang als Bezeichnung – unerhörten Ortsnamen zum ersten Mal in das mobile Navigationsgerät an der Windschutzscheibe eintippte.

Zu meiner großen Enttäuschung wies der elektronische Routenplaner prompt einen Treffer aus, einen einzigen! »Enttäuschung« sage ich an dieser Stelle deswegen, weil jene Eindeutigkeit, mit der das Ziel namentlich im alphabetischen Register angezeigt wurde, jene allzu schnelle Nennung ohne irgendwelche Umschweife, sich meiner gewachsenen Spannung förmlich entgegenstemmte. »Wenn etwas derart leicht aufzufinden ist«, so dachte ich mir, »worin liegt dann das Besondere, Geheimnisvolle?« Meiner geweckten »Das glaubst du nie«-Neugier, der »So etwas gibt’s eigentlich gar nicht«-Phantasie und einem damit vielleicht einhergehenden Abenteuer stand diese plötzliche Entzauberung jedenfalls komplett im Weg. Und eben dieser Weg wurde nach weiterem, Zielort bestätigendem Knopfdruck unnachvollziehbar schnell von der Software kilometerweise aus diversen Streckenabschnitten zusammengestückelt, während auf dem Display ein Balken von links nach rechts wuchs, bis nach wenigen Augenblicken die Route von einer Frauenstimme für »berechnet« erklärt wurde. Richtung Süden sollte es also gehen, so viel war klar. Das wunderte mich allerdings wenig, denn nach Norden bietet Deutschland kaum noch Spielraum, wenn man nicht weit von Hannover entfernt wohnt.

Dann also los!

In der Frühe hatten Sonne und Bodennebel zunächst ebenbürtig gegeneinander gekämpft, hatte dann aber Letzterer gegen Mittag handstreichartig die Vorherrschaft errungen und seitdem alles mit seinen einlullend-blassen Berührungen betäubt, sodass der Spätfrühlingstag in ausdrucksloser Dauerdämmerung erstarrt wirkte. Das war kein ideales Fahrwetter, nein, zumal von diesen recht einschläfernden Umständen auch meine Aufmerksamkeit für das dichte Verkehrsgeschehen ordentlich in Mitleidenschaft gezogen war. Ich ertappte mich nämlich – eigentlich müsste es unerwähnt bleiben – bereits nach wenigen Kilometern dabei, überhaupt nicht bei der Sache zu sein. Vielleicht aber lag das letztlich doch nicht nur an den genannten Wetterverhältnissen, sondern ebenfalls am alltäglichen Einerlei, an den zunächst noch gewohnten Ampeln, allzu bekannten Abbiegungen und Ausfallstraßen? So ergossen sich meine Gedanken bald schon in das Meer zurückliegender, geschäftiger Wochen mit deren Terminen, Vorausplanungen und Deadlines. Auf den Punkt gebracht: Ich hatte, vollends versunken in meinen Job, gleich auf erstem Streckenabschnitt den Faden verloren, wohin der Weg mich führte.

Erst irgendwann später wieder mit sämtlichen Sinnen hinter dem Steuer, unbeirrt auf mehrspurigem Asphaltstrom der A7, unterwegs durch die Strudel motorisierten Gewühles, sah ich die einen oder anderen Raststättenlichter zäh in der Dunkelheit vorbeistreifen, welche an eine Konzentrationspause zu gemahnen schienen. Doch anstatt etwaiger Müdigkeit mit einer kurzen Rast vorzubeugen, schob ich ein laut Medienumfragen seit Wochen schon in der Konsumentengunst weit oben rangierendes Hörbuch in den CD-Spieler, das spannende Unterhaltung verhieß. Allein zu meinem großen Bedauern wurde die ersehnte Darbietung allzu oft vom aktuellen Verkehrsfunk – jener bereits hessisch gefärbt – unterbrochen, drangen die literarischen Dialoge unselig zerstückelt aus den Lautsprechern an meine Ohren. Denn diverse Warnungen vor widrigen Sichtverhältnissen, wiederkehrende Unfallhinweise, monotone Gute-Fahrt-Wünsche – all jene Meldungen blendeten sich für mein Verständnis nicht nur überreichlich, sondern zum größten Ärgernis stets automatisch ein. Die Ursache für diese ungewollte Informationsdurchlässigkeit darf leserseits jedoch nicht vollends darin vermutet werden, das Radio müsse ab Werk entsprechend eingestellt gewesen sein. Zu einer Hälfte war jene missliche Situation auch meiner eigenen Ignoranz geschuldet, weil ich bis zum heutigen Tag nicht einsehen will, warum es zur Umprogrammierung eines Autoradios des Studiums romandicker Bedienungsanleitungen bedarf.

Nachdem also auf wenig genussreiche Weise die CD verstrichen war, das letzte Kapitel unter einem musikalisch dramatisch aufgemachten Abspann sein Ende gefunden hatte, durchsuchte ich unschlüssig die Radiolandschaft nach entspannender Unterhaltung. Doch drängten sich dabei – als sei es nicht schon genug der unliebsamen Erfahrungen gewesen – schmeißfliegenartig Regionalsender mitsamt typischem Chart-Hit-Einerlei auf. Alle wurden sie hektisch moderiert von nichts sagenden Personen, die – je nach Empfangslage – ihr Sprechgewand erneut zu wechseln schienen, sofern ich die Dialektfärbungen denn richtig auseinanderhielt. Und so nahm alles seinen Lauf: Missgelaunt über das zuvor zerhackstückelte Audiokunstwerk sowie den momentanen Singsang, nutzte ich die Gunst des Augenblicks, um der längst überfälligen Suche nach jener Option für die Verkehrsfunkunterbrechung nachzugehen, wählte unter Drehen und Drücken in der vermeintlich zuständigen Menüseite des Radios herum, als es passierte: Ich überhörte die Aufforderung der Navigationsstimme, die Autobahn sei mit der nächsten Abfahrt zu verlassen. So musste folglich die übernächste – gesperrt: Nachtbaustelle! – also die überübernächste genommen werden, was ich auch tat.

Warum aber unterließ ich ein Schleifedrehen, warum fuhr ich nicht einfach auf die A7 zurück, um nach entsprechendem Wegstück retour just wieder dort anzuknüpfen, wo der Fahrfaden verloren gegangen war? Ganz einfach: Der Routenplaner bot mir, noch während ich die Autobahn in einer scharfen Kurve verließ, unerwartet eine mehr als nur pfadfinderische Alternative an, nämlich eine neue Streckenführung, welche zwar hinsichtlich der verbleibenden Restfahrzeit etwas gedehnter ausfiel, kilometerbezogen jedoch um einige Längen kürzer sein sollte. So entschied ich mich abwechslungshalber gegen die schnellere Option, fuhr folglich weiter auf der Bundes-?, nein, Land-?, ja, Landstraße, überquerte irgendwann einen Fluss, eine Brücke, später nochmals einen Fluss … Bald kam eine Gabelung, noch eine …, vom Gas gehen, abwarten …, weiter …

Etliche Wiederholungen der streckenbedingt oft nötigen Automatismen, wie Blinken, Bremsen, Kuppeln und Beschleunigen waren vergangen, da war mir als – aber bildet man sich zur Nacht- und Nebelzeit nicht allzu leicht etwas ein? Jedenfalls hatte ich den Eindruck, zu beiden Seiten immer wieder dicht bewaldete Hänge und Waldschneisen zu erkennen. Auch verlief die Strecke in unregelmäßigen Abständen mal ausgiebig bergab, um sich dann desto steiler bergauf zu verlaufen. Aus meiner mittlerweile kurvigen Straße wurde ein noch gewundeneres Sträßchen, und mir wurde zunehmend bewusst, trotz Navigationshilfe ziemlich sicher vom Weg abgekommen sein zu müssen; vielleicht oder auch gerade deswegen, weil zwei zwischendurch noch erfolgte Hilfshinweise einer blechern dünn klingenden Frauenstimme von mir aus Frust sowie aufziehendem Konzentrationsmangel missachtet worden waren. Und schließlich ist man zwischen Missmut und Müdigkeit zu sehr aufgerieben, als dass …

III. Das Erwachen

Warum ich nicht weiß, wo ich angekommen bin, und auf wen ich zuerst treffe.

Ich erwachte, weil mich fror, fest angeschnallt am Fahrersitz.

Was war geschehen?

Nach langem gedanklichem sowie händischem Augenreiben ließ sich auch bei strengen und noch angestrengteren Blicken durch die Scheibe nichts anderes feststellen, als dass nichts zu sehen war da draußen: eine Hexenküche aus dichtesten Schwaden, wenngleich nach mehreren Minuten vielleicht etwas heller, lichter, bald ein bläulicheres anstatt mattgraues Wabern.

Was tun?

Meine Uhr am Handgelenk zeigte Viertel vor sieben – morgens.

Der Routenplaner, offensichtlich nicht mehr von mir ausgeschaltet worden, bevor mich der Schlaf übermannt hatte, zeigte eine graue Gerade auf strukturloser Fläche. Das konnte einen Weg, ebenso einen Pfad repräsentieren oder aber nur eine bedeutungslose Linie im Überall darstellen, alles und nichts – keine wirkliche Hilfe …

Hatte das Gerät eigentlich noch Empfang? Doch, das schon.

War es technisch auf dem aktuellen Stand? Nein, das nicht.

Ich stieg also fröstelnd aus, streckte mich ausgiebig und nahm das Draußen in mich auf: viel frische Kühle, leichter Harzduft, keinerlei Geräusche. Fast schien es mir ein kurioser Witz zu sein, meine Umgebung, die Wirklichkeit, derart deckungsgleich mit jener elektronischen Darstellung auf dem Display zu sehen. Waren doch bei diesen sinnvernebelnden Wetterverhältnissen sämtliche Farben, Kontraste und damit Konturen in ihrem Insgesamt auf eine solch undifferenzierte Zweidimensionalität reduziert, dass ich mich nicht nur halbwegs, sondern vielmehr gänzlich im undefinierbaren Nirgendwo befindlich glaubte. Lediglich der spürbar aufgeweichte, erdige Grund unter meinen Schuhsohlen sowie der Wagen an meiner Seite bedeuteten sinnlich wahrnehmbare Orientierungspunkte. Ich tat probeweise zwei, drei Schritte nach links, als der Erdboden von Wiese abgelöst wurde, wie mir zunächst das bloße Gefühl und anschließend auch – ich musste mir erneut die verschlafenen Augen reiben – die sich ändernde optische Textur zu meinen Füßen signalisierte … Hingegen machten nach einigen ertasteten Metern rechts vom Wagen dicht stehende Bäume ein Weiterkommen unmöglich. Das war es auch schon.

Nochmals: Was tun?

Der Nase nach? Starten und weiterfahren? Im Schritttempo? Gut, im Schritttempo – wie auch sonst, wenn nahezu nichts zu sehen ist.

Ich schwang mich wieder ins Auto, schaltete das Navi aus und holperte eine Weile im ersten Gang über Schlaglöcher sowie Bodenwellen bergauf, bis ich mich unversehens auf einer T-förmigen Wegkreuzung befand. Vereinzelte Wolkenkissen trollten sich vor der Motorhaube, kugelten linkisch hinfort, schufen zunächst Vorder-, dann ausreichend Hintergrund, um so eine knorrige Eiche und einen hüfthohen Grenzstein erscheinen zu lassen, während sich rechter Hand eine dunkelgrün bewaldete Kuppe heranschob. Na also, das erinnerte schon wieder mehr an die gewohnten drei Dimensionen.

Ich stieg ein weiteres Mal aus. Die Sicht weitete sich nun endgültig und voraus im Licht lagen lang gestreckte, verästelte Nebeltäler, zwischen denen sich Hügelketten emporreckten. »Das glaubst du nie – war reiner Zufall! So etwas gibt’s eigentlich gar nicht!«, quollen jene Worte in meinem Kopf hoch, wirkten wie laut gesprochen, hallten lauter nach, drehte ich mich hastig um – nanu?! Dann wäre ich also doch am freundschaftlich empfohlenen Ort angelangt? Oder hatte ich mich komplett verfahren, mein Ziel verfehlt?

Und was gab es da um mich herum im weiten Kreis der Himmelsrichtungen nicht alles zu sehen? Keine Hochfrequenz-Sendemasten, keine Starkstrom-Überlandleitungen oder gar XXL-Windräder, rein gar nichts gab es, was den Augen Halt gegeben, ein Einrasten während des Rundumschweifens ermöglicht hätte – ungewöhnlich. Stattdessen verschwammen die Wipfel unglaublich sanft in der Ferne, bildeten Ausblicke mitsamt Gedanken einen gemeinsamen Horizont.

Nun, wer über ausreichend topographisches Wissen verfügt, der könnte an dieser Stelle irritiert Vermutungen anstellen, ob man denn geradewegs im sogenannten Wittgensteiner Land sei oder ob es einen vielleicht doch in die Rhön verschlagen habe. Moment mal – oder gar noch weiter, weiter noch …?

Überrascht bemerkte ich mich irgendwann heftig den Kopf schütteln, wie man es gelegentlich tut, um lästige Überlegungen loszuwerden, ließ meinen Blick wieder aus dem Weitläufigen zurückkehren, die näher gelegenen Hänge entlang talwärts schwingen, auspendeln, bis ich mich gesammelt hatte und still, ganz still bei mir war … Aber welches Schauspiel! Formte sich doch in diesem Moment, unten, direkt voraus in wallendem Luftgespinst ein Wetterhahn, quoll mit ihm – so als sei alles in das Gewölk hineingezaubert – allmählich auch die glänzende Spitze eines Kirchturmes herauf: ein Zeichen? Ein Zeichen für mich?

Bedauerlicherweise wäre mit dem Auto in jene Richtung kein Vorankommen gewesen – nur nach links, rechts oder aber zurück. Also machte ich mich kurzerhand mit Brieftasche und allem Geld – wie man es eben aus Sicherheitsgründen im Urlaub handhabt – zu Fuß auf, ging schnurstracks bergab, dem tierisch sakralen Wegweiser entgegen, mit der Absicht, nach zwei, drei Stunden wieder zurückzukommen.

Nachdem bei ausfallendem feinem Niesel von mir mitten durch einen Wald hinab, über das Weglose mit dessen unzähligen Wurzeln gestolpert und schließlich auf eine glanznasse, abschüssige Straße mit Kopfsteinpflaster gelangt worden war, schien nach vielleicht hundert Schritten ein allzu sehr verblasstes, daher unleserliches Ortsschild der einzige Hinweis auf Leben zu sein. Ich blieb davor stehen, schaute etwas ratlos um mich, starrte wieder auf das Schild, hielt dabei so lange den Atem an, bis es in den Lungenflügeln schmerzte, und lauschte – nichts, kein Laut … doch! Da erklang vernebelt unsichtbar ein Mensch. Das heißt, es musste da irgendjemand sein, und das offenbar mit hastigem Gang, wie aus dem matten Klackern von harten Schuhabsätzen herauszuhören war. Ich fragte mich, warum die Evolution nichts Besseres für den Menschen vorgesehen hatte als dieses bedauernswert unzureichende Sehorgan. Ein Ultraschallsystem, wie es etwa Fledermäuse besitzen, wäre an jenem Morgen mit seinen optisch ungünstigen Wetterverhältnissen ohne Frage praktikabler für mich gewesen. Gezwungenermaßen verließ ich mich zunächst weiterhin auf mein Gehör und erahnte wenig später schemenhaft voraus eine kleinere Person mit dunkler Aktentasche in der einen Hand, in der anderen offensichtlich ein Mobiltelefon. »Dem Gestus nach ein Mann, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit«, versuchte ich die Eindrücke zu sortieren. Kaum aber war ich zu dieser ersten Vermutung gelangt, hatte ich mich weiter genähert, stellte sich heraus, dass ich mich wohl getäuscht haben musste. Denn das, was zunächst eine Aktentasche gewesen zu sein schien, stellte sich als Bündel, als schwarzes Lederbündel heraus. Auch war man nicht in ein Telefonat vertieft, sondern hielt sich vielmehr einen seltsam länglichen Gegenstand an das rechte Ohr.

Ganz offensichtlich: An jenem denkwürdigen Morgen war auf erste Eindrücke kein Verlass.

»Entschuldigung, guten Morgen. Sagen Sie, bitte, ich muss mich verfahren haben. Mein Wagen steht da oben, ich bin zu Fuß da hinten runter …«, sprudelte es aus mir heraus, als ich auf der Höhe des Mannes – als den ich ihn nun erst sicher erkannte – angelangt war. Und während es mich noch vor Müdigkeit fröstelte, bemerkte ich eine gewisse Hitze in meinem Gesicht aufsteigen. Er wandte sich zu mir, wobei es in seinem Bündel wie von Metall klimperte: »Wie haben Sie sich denn hierhin verirrt? Guten Morgen.« Halb belustigt, halb erschrocken klang seine Stimme und er hielt noch immer – jetzt erst löste sich auch dieses Rätsel – eine Stimmgabel dicht an sein Ohr, ließ den Arm allerdings in diesem Moment ruckartig sinken, blieb kurz stehen.

Wir stellten uns einander vor, er sich als »Hofmeier mit ei« und ich mich mit »Neumann, angenehm. Ich weiß nicht, verirrt, sagen Sie? Ob das der richtige Ausdruck für …«.

»Ein wirklich treffender Name«, unterbrach er mich, »wissen Sie, ich bin etwas spät dran, begleiten Sie mich doch einfach«, ging dann auch schon wieder zügig weiter und wies mit dem metallenen Instrument voraus. »Unsere Kapellen-, die Viertelstundenglocke hat einen Riss. Das Uhrwerk macht ebenfalls Sorge. Wenn ich nicht schnell – aber, Sie wollten etwas sagen?«

Sicher wollte ich das! Während es mir allerdings nicht unerheblich Mühe bereitete, Schritt zu halten, mich kurzatmig an einer Schilderung versuchte, über welch Weg und Wege ich »hierhin« gelangt war – selbstverständlich ohne das »hierhin« geographisch genauer einordnen zu können –,schien ihm das Tempo trotz seiner zierlichen Statur nichts auszumachen.

Langsam!, langsam!, wird manch einer an dieser Stelle vielleicht bremsen und genauer wissen wollen, ob meine Ausführungen nichts als alberne Geheimniskrämerei seien, ob es vor Ort wirklich keinerlei Eindrücke gegeben habe, die der sich aufdrängenden Frage nach einer Lokalisation nützlich gewesen wären, ob denn nicht wenigstens kleinste einer Zuordnung behilfliche Fingerzeige hätten ausgemacht werden können, wohin ich da gekommen war. Sollte es tatsächlich nichts an sachdienlichen Hinweisen gegeben haben?

Zu meinem großen Bedauern – genau so war es, leider. Alles, was ich wahrzunehmen vermochte und was einer regionalen Eingrenzung eventuell hätte zuträglich sein können, war dieser offenbar typische Baustil jener Gegend; fielen mir doch zumindest die kleinen, ähnlich gestalteten Fachwerkhäuser auf. Aber wenn man kein Architekt, Historiker oder gar Volkskundler ist, so hilft einem das nicht viel weiter – also …?

Außer uns beiden war noch niemand auf der Gasse, obschon ich unterwegs zweimal glaubte, Schritte gehört zu haben. Als wir jedoch unerwartet abbogen und einen Kiesweg hinaufstiegen, der bald von grob vermauerten Steinen eingefasst war, kam ich zu dem Schluss, dass es unsere eigenen Schritte gewesen sein mochten, die da hinter uns nachhallten und sich mit dem mahlenden Takt der Schuhsohlen vermischten. Ich hätte nicht exakt erklären können, warum, doch fühlte ich mich zeitlich etwas wie zurückversetzt, kam es mir beinahe so vor, als ließen wir mit jedem Schritt gewissermaßen die Zeit hinter uns, während in den Mauern zu beiden Seiten Steintafeln zu sehen waren, auf denen sich Namen, Symbole, Zahlen sowie wenige Worte der Verwitterung längst ergeben hatten: Geburts-, Sterbedaten und Segenssprüche.

Ich stellte meinem Fremdenführer zwischendurch Fragen zum Ort, doch statt einer Antwort erntete ich süffisante Blicke. »Ha, das bin ich ja noch nie gefragt worden. Was glauben Sie denn, wo Sie hier sind!?« Und obwohl es mich ärgerte, erwiderte ich aufrichtig, gerade das nicht zu wissen, was ihn wiederum umso mehr belustigte. Bei alledem war aus seiner Stimme keinerlei Dialekt herauszufiltern: Zwar stellte ich eine außergewöhnliche Sprachmelodie fest, doch weder etwaige regionaltypische Satzrhythmen, vermeintlich richtungsweisende sprachliche Färbungen noch irgendwelche landschaftlich spezifischen Begriffe ließen sich bei dem Fremden dingfest machen. Das kam also als möglicher geographischer Fingerzeig ebenfalls nicht in Betracht.

Unabsehbar abgelöst von wenigen ausgetretenen Stufen, endete nun der Weg, und so standen wir vor der dunkelhölzernen Spitzbogenpforte einer kleinen Kapelle. Bedeutungsvoll hielt mein Begleiter den linken Zeigefinger an die Lippen, fixierte mich mit leicht gesenktem Kopf, öffnete daraufhin, indem er mit seiner Rechten die Tür bedächtig in das Gebäudeinnere drückte, und ließ mir den Vortritt. War es auf unserem bisherigen Weg bereits sehr still gewesen, so umfing uns nun erst recht Stille, eine Lautlosigkeit, welche in ihrer unerhörten Ausprägung bewirkte, dass sich das Hören und Horchen nach innen zu wenden begann ... »Die Treppe hinauf«, flüsterte er mir kurz nickend zu, »da!«

Während er die Holzstiege vorausging, krochen meine Blicke dichter an ihn heran: Seine kleine, knochige Gestalt, die recht farblose, grau in grau gehaltene Kleidung im Zusammenspiel mit dem bieder gescheitelten, schütteren Haar sowie der bedachte Gestus – das alles wirkte auf mich wie eine Mischung aus Küster und Rathausangestellter, als der er sich später tatsächlich auch herausstellen sollte.

Nachdem wir einige steile Stufen mühsam erklommen hatten, entriegelte er mit einem beinahe schon lächerlich märchenhaften Schlüssel ein morsches Türchen, das wider Erwarten nur wenig knarrte, und wir fanden uns auf dem staubigen, lediglich mannshohen Dachboden über dem Kapellengewölbe wieder. »Schauen Sie nur«, sprach er trotz ausgestreckten Armes mehr zu sich selbst als mir zugewandt. Voraus in einer der dunklen Nischen ruhte auf dicken Bohlen ein grob gearbeitetes Eisengerüst, in welchem sich etwas zu bewegen schien. Tatsächlich, dort inmitten jenes geschmiedeten Metallkäfigs hauste offensichtlich etwas, wälzte es sich ruckartig zwischen allem Gestänge, wurden beim Näherkommen unterschiedlich große Zahnkränze sichtbar. Ich umkreiste mit ihm nahezu in Taktschritten das gesamte Räderwerk und bemerkte, dass er offensichtlich auf etwas wartete, denn seine Hand bewegte sich nun zum Schlag eines großen Pendels mit, so als dirigiere sie es.