Charlotte Winter

Die Herrin der Pferde

Historischer Roman

I. Der Ruf der Dunkelheit

1.

So zärtlich lag der silberne Dunst des Spätsommers über allen Dingen, so weich strich der Wind über die Ähren, dass keiner der Menschen am Grund des Tals in diesem Augenblick an Schmerz zu denken vermocht hätte – oder an den Tod.

Auch die junge Elin, die sich aufrichtete und die Augen beschattete, um über das wogende Korn zu blicken, das sich an ihre Hüften drängte, fühlte nichts als ein Gefühl vollkommenen Glückes in sich, das ihre Brust weitete. Tief sog sie den Duft des warmen Staubes ein, in den sich ihre nackten Zehen drückten, das feine Aroma der Blumen, die hier und da zwischen den Getreidehalmen wuchsen. Was für ein Tag, dachte sie und brach einige der leuchtenden Blütenkelche ab, um sie sich in die Flechten zu stecken, zu denen sie ihr Haar gebändigt und um den Kopf gewunden hatte wie eine Krone, eine, die so golden war wie das Korn und ebenso schwer. Was für ein vollendeter Sommertag!

Die Rücken und Köpfe der anderen Schnitterinnen tauchten im Feld auf und versanken wie nickende, pickende Vögel in einem eifrigen Rhythmus. Alle Frauen des Dorfes waren an diesem Tag auf den Feldern, um die Ernte einzubringen. Sie fiel reichlich aus dieses Jahr, und alle dankten den Geistern dafür aus tiefstem Herzen. Der letzte Winter war hart gewesen, und nicht viele von den Alten und Kindern hatten ihn überlebt; Mordech hatte sie geholt mit seinem schwarzen Hungergesicht.

Diesmal aber konnten sie der Kälte mit Hoffnung entgegenblicken. Selbst wenn der Herr auf dem Hügel seinen Anteil geholt hatte, würde noch genug bleiben für das Dorf und seine Menschen.

Elin blickte zu der Erhebung nahe beim Fluss, die den Ausgang des Tales und die Ebene davor beherrschte und einen langen Schatten auf ihre Felder warf. Über ihrer Kuppe thronte eine abweisende Mauer aus Palisaden auf einem hohen, mit Steinen befestigten Rundwall. Dahinter verbarg sich das Haus des Herrn, seine Ställe und die Unterkünfte seiner Leute. Denn er hatte Männer dort oben, viele Männer mit Schwertern, die er fütterte und versorgte. Die wir füttern, dachte Elin mit einem leisen Hauch von Missbilligung. Und auch diese Mauer haben wir für ihn errichtet, mit unserer Hände Arbeit. Keine der Hütten im Dorf, die aus Holz oder lehmverputztem Flechtwerk errichtet waren, kein Garten, kein Anwesen besaß eine Befestigung, die dieser auch nur ähnlich war. Lediglich dichtes Weidengeflecht, mit Dornen gekrönt, schützte ihre Gärten vor Wildfraß und sie selbst im Winter vor hungrigen Wölfen.

«Kind, schaffen!», knarrte eine Stimme in der Furche neben ihr. Dort arbeitete die alte Anwin, war schief wie ein vom Wind gezauster Wacholderstock und hielt nicht inne und schaute nicht hoch, obwohl der Schweiß ihr von der runzlig gefurchten Stirn troff. Anwin erzählte manchmal Geschichten von wilden Horden, die plötzlich am Horizont eines Dorfes auftauchten, erschlugen, wen sie fanden, anzündeten, was sie erreichen konnten, und Frauen und Vieh mit sich schleppten. Schlimmer wüteten sie als Mordech, der Winterdämon.

Als junges Mädchen hatte Anwin mehr als einen solcher Überfälle erlebt. Doch Elin kannte derartige Gräuel nicht. Dafür eben sorgt der Herr auf dem Hügel, sagte Anwin. Seine Pfeile und Äxte schützten die Bauern, im Gegenzug gaben sie ihre Ernte her. Der Herr herrschte über einige Dörfer, und seine Herrschaft war erträglich. Er nahm nicht mehr Korn und Männer, als er brauchte, bestrafte streng, aber nach den Gesetzen, die sie kannten, und trieb es nicht zu wild, wenn er nicht gerade betrunken war. Darin waren sich alle einig. Er brachte die Opfer an der Quelle, um die Geister milde zu stimmen. Und wenn sie nach Blut verlangten, war er es, der das Opfer wählte und die Tat auf sich nahm, damit sie nicht auf dem Dorf lastete. Wer außer ihm hätte den Mut besessen, mit den Dämonen zu ringen? Die Alten etwa? Nein, sie brauchten ihn alle, den Herrn auf dem Hügel.

Hätte Elin laut ausgesprochen, dass seine Festung in ihr eher Unbehagen als Dankbarkeit weckte, wären die Dörfler ihr vermutlich mit erschrockenem Schweigen begegnet oder schlicht mit Unverständnis. Sie hätte ein mitleidiges Kopfschütteln geerntet und dann wieder diese vielsagenden Blicke, die sie schon kannte und die besagten, dass die Tochter von Crudd nun einmal ein wenig wunderlich war. Ameisen hatte sie im Kopf, diese Elin, fanden die Leute, irgendetwas Eigenartiges, das ihre Gedanken unruhig machte. Was für Ideen sie immer ausbrütete, kaum dass man nachkam! Und sie verdrehten die Augen gen Himmel, um anzudeuten, dass es das Mitdenken auch nicht verlohne.

Solche Blicke war Elin gewöhnt. Schon immer hatte es geheißen, Crudds Elin wäre anders, schon, als sie noch nicht begonnen hatte, ihre Fragen zu stellen. Aber was konnte sie dafür? Weder ihre schlanke Biegsamkeit noch ihr schmales Gesicht mit den so überraschend intensiven, bernsteinbraunen Augen, noch ihre schimmernde Haarfülle, die ihren Hals schmal wie einen Blumenstängel erscheinen ließ, kamen ihr selbst bemerkenswert vor. So war sie eben. Dass in ihrem Schritt ein Tanzen lag, eine Leichtigkeit in ihren Bewegungen, die der Beweglichkeit ihres Geistes entsprach, das bemerkte sie nicht. Und ihre seltsamen Gedanken – Elin zuckte mit den Schultern. Zugegeben, niemand außer ihr wäre auf die Idee gekommen, ein wildes Tier zu zähmen.

Was im Wald lebte, war gefährlich, so hatten sie es gelernt. Es gehörte zu Mordech und den wilden Geistern, denen nur wenige sich ungestraft stellten. Im letzten Winter, als die Wölfe bis auf ihre Schwellen vordrangen und die Wildschweine versuchten, ihre letzten, verzweifelt gehüteten Vorratsgruben aufzuwühlen, hatten sie es wieder schmerzhaft erfahren. Feind oder Futter, so teilte ihr Bruder Idris alles, was lebte, ein. Er war ein leidenschaftlicher Jäger und streifte lieber stundenlang durch die Wälder und übte sich im Schießen, als sich auf dem Feld zu plagen. Im Winter hatte er sogar einmal einen der Wölfe angeschleppt, die sich nächtens bis an ihre Hütten vorgewagt hatten. Tief befriedigt hatte er den blutenden Kadaver an den Hinterfüßen aufgehängt, um ihn zu häuten. Elin, die trotz der beißenden Kälte herausgekommen war, um dem Tier fasziniert die Hand auf die Schnauze zu legen, die Weichheit seines Fells zu spüren und in seine Augen zu blicken, die so geschweift und schillernd waren wie ihre eigenen, hatte er nur angeschnauzt, sie solle verschwinden.

Feind oder Futter, oder gar Diener der bösen Geister! Elin schüttelte den Kopf. Wer hatte je behauptet, dass das Gesetz sein sollte? Und in welche Kategorie hätte sie das junge Fohlen einordnen sollen, das verletzt am Grund der Grube umherstolperte, die sie im nahen Wald beim Brombeerpflücken entdeckt hatte? Seine verzweifelte Mutter wich nur widerwillig, als sie die Gegenwart der Menschenfrau bemerkte, doch helfen konnte sie ihrem Kind nicht. Elin hatte sich dennoch lange nicht näher gewagt, mit klopfendem Herzen und immer in Erwartung, das Tier würde sich vielleicht verwandeln, und aus dem schönen Schädel mit den braunen Augen bräche mit einem Mal Mordechs Fratze hervor, oder die böse, pfeifende Stimme eines Waldgeistes begänne unter dem Schnauben zu erklingen, eines Waldgeistes, wie er die Menschen in die Irre führte, die darauf in der Wildnis verschwanden und nie mehr gefunden wurden. Doch nichts geschah. Das Tier wieherte nur ein letztes Mal und galoppierte davon.

Wie hatte das Kleine den edlen Kopf geworfen und nach seiner Mutter gerufen! Wie nervös war es Elin ausgewichen, als diese sich schließlich ein Herz gefasst und sich vorsichtig an einigen Wurzeln hinabgelassen hatte, und was für ein köstliches Gefühl war es gewesen, als das scheue Tier endlich nach vielem Zureden seine Furcht überwand, stillhielt und vertrauensvoll seine so überraschend weichen Nüstern in ihre Hand drückte. Wie warm sein Atem gewesen war, weicher als der Sommerwind. Elin hatte sich auserwählt gefühlt bei der Berührung, die sie noch immer in ihrer Hand zu spüren glaubte.

«Kind, schaffen!» Das war wieder Anwin. Sie räusperte die Worte rau heraus, ohne einen Augenblick in ihrer eigenen Arbeit innezuhalten.

Elin seufzte und machte sich wieder daran, mit ihrer Sichel das Korn zu mähen. Die kupferne Schneide war bereits stumpf und schartig geworden und machte ihr Mühe. Sie riss die Büschel mehr ab, als dass sie sie schnitt, und ihre Finger schmerzten. Dabei verfluchte sie Idris, der es nicht für nötig gehalten hatte, sie ihr zu schärfen. Immer war er nur mit seinen Waffen beschäftigt, und wenn sie sich bei ihm beschwerte oder um etwas bat, zuckte er nur mit den Schultern und ließ sie stehen. Aber all das zählte heute nicht. Heute Abend wäre sie zu Hause bei ihrem Pferd, diesem seltsamen, wunderbaren Wesen. Sie hatte dem Vater einen Platz im Schafstall für es abgetrotzt und ihm dort eine Ecke eingerichtet, mit frischem Heu und einem Eimer Wasser, und dort würde sie es großziehen, egal, ob Idris ausrief, ein Pferd habe in einem Stall nichts verloren.

Das verwundete Bein des Fohlens sah schon viel besser aus, nachdem sie ihm einen Umschlag mit zerstampfter Arnika gemacht hatte. Der Riss verheilte gut, und man bemerkte kaum noch, dass das Tier hinkte. Und wie es auf sie zukam, wenn es sie schon von weitem erkannte! Wie es leise wieherte, als wollte es sie begrüßen! Da konnte Idris noch so oft behaupten, dass wilde Tiere nicht zum Menschen gehörten, dass die gefährliche Geisterwelt in ihnen lebte, Elin fühlte doch, dass es anders war. Sie spürte mit dem kleinen Hengst eine tiefe, beglückende Verbundenheit. Sie hatte sogar begonnen, ihm leise all jene Gedanken mitzuteilen, für die es im Dorf und in ihrer Familie kein Ohr gab. Nicht bei ihrem Vater, der so gut wie nie mit ihr sprach und sie nur manchmal aus der Ferne mit den Augen verfolgte. Und nicht bei ihrem barschen Bruder, der voller Verachtung für alles war, was nicht mit Männerdingen zu tun hatte. Oder mit ihm selbst.

Ob es anders wäre, wenn ihre Mutter noch lebte? Unwillkürlich hielt Elin wieder inne. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Sie hatte gar keine Erinnerung an sie und konnte sich nicht recht vorstellen, wie das wäre: ein lächelndes Gesicht, über das ihre geneigt, zärtliche Gesten, ein Lied, das sie abends in den Schlaf wiegte.

«Schaff was, sag ich!»

«Ist ja gut», murmelte Elin und bückte sich erneut. Bald betäubte die harte Arbeit ihre Gedanken, und so arbeitete sie zügig weiter bis zum Abend, der sich in düsterem Rot auf den Horizont legte. Endlich richtete sie sich auf und lächelte dem Mädchen zu, das unermüdlich hin- und hergelaufen war, um die von ihr geschnittenen Ährenbündel zu den Karren zu bringen, wo sie gebunden und aufgehäuft wurden. «Schluss für heute», sagte sie.

Die Kleine lächelte zurück und runzelte dann die Stirn. «Blutest du?», fragte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mit dem Finger eine Stelle an Elins Halsbeuge zu bezeichnen.

Die tastete nach der angegebenen Stelle. «Nein, nur ein Mohnblatt», stellte sie dann fest und drückte es dem Mädchen auf die Stirn, wo es zu deren Entzücken kleben blieb. «Iiih», kreischte die Kleine fröhlich und sprang davon. Elin raffte das letzte Büschel Korn selbst auf und trug es zu den Karren, wo sich schon die Frauen versammelt hatten. Sie legte ihre duftende Last obenauf, sang dabei leise vor sich hin und machte, als sie zurücktrat und sich die Halme von ihrem Kleid klopfte, ein paar leichte, selbstvergessene Tanzschritte.

«Du hast wohl noch nicht genug gearbeitet, dass du noch tanzen kannst?», fragte eine neckende Stimme.

Elin schaute zu der Gruppe gleichaltriger Mädchen hinüber, die sich ins Gras hatten sinken lassen, mit Tüchern die verschwitzten Gesichter trockenrieben und die geschundenen Glieder räkelten.

«Vielleicht denkt sie an was Schönes», schlug eine andere Stimme anzüglich vor.

Ihre Gefährtinnen kicherten und forderten Elin auf, sich zu ihnen zu setzen. «Gleich kommen die Männer, Elin.»

«Pah, der ist doch keiner gut genug.» Das war Ullan, die so sprach und die Lippen schürzte. Sie nahm es Elin übel, dass die meisten der Burschen im Dorf sich zuerst nach ihr umdrehten, ehe sie sich einem der anderen Mädchen zuwandten. Dass sie damit bei Elin auf keinerlei Interesse stießen, ja, oft nicht einmal bemerkt wurden, hatte Ullan seltsamerweise nicht versöhnen können.

«Was willst du denn», rief eine andere gutmütig, «hast doch deinen Uris.»

«Lang genug hat sie ihm schöne Augen gemacht», warf eine dritte ein und wurde dafür mit einer Handvoll Stroh beworfen.

«Hab ich nicht!»

«Hast du wohl!»

Elin, die die Neckereien und der Klatsch wenig interessierten, nutzte die Gelegenheit, allein den Heimweg anzutreten. Mit den Gedanken war sie bereits weit voraus, im braunen Dämmer des Stalls, wo ihr Pferd ihr entgegenwiehern und sie voll warmer Freude begrüßen würde. Heute wollte sie ihm den Verband abnehmen und morgen früh würde sie sehen, ob es eine längere Strecke laufen konnte. Sie hatte sich vorgenommen, ihm eine Art Geschirr zu basteln, ähnlich, wie es die Ochsen trugen, wenn sie die Wagen zogen, nur leichter, zierlicher. Das musste doch zu machen sein? Im Geiste durchsuchte sie die Ledervorräte, die sie besaß, und suchte nach einem geeigneten Stück, um die Riemen daraus zu schneiden. Daran wollte sie das Tier herumführen. Die anderen würden lachen, aber das war ihr gleich.

Ein Schwarm schwarzer Krähen flog auf, als sie über die Felder lief. Elin klatschte laut in die Hände und scheuchte die Tiere in wirrem Flug in den Himmel, der nun rasch dunkler wurde. Schon hatte der Schatten des Hügels den Waldrand erreicht und verschmolz mit ihm. Die niedrigen Hütten des Dorfes waren kaum mehr auszumachen, wie die Rücken schlafender Kühe im hohen Gras duckten sie sich hinter den Weidenzäunen. Hie und da stieg ein dünner Faden Rauch aus den Feuerstellen. Wie warm es noch war! Die Grillen zirpten so laut, dass die Luft davon zu beben schien, wie die Haut eines lebendigen Tieres.

Elin blieb einen Moment stehen, um all dies auf sich wirken zu lassen. Wie schön doch alles war.

«Sei gegrüßt bei der Erdmutter, Elin.»

Die Worte kamen so unerwartet, dass sie zusammenzuckte. «Sei gegrüßt, Uris», antwortete sie dann erleichtert, als sie den Jungen bemerkte und hinter ihm das Paar Ochsen, das gelangweilt mit den Schwänzen schlug, um die Wolken von Mücken abzuwehren, die sie umtanzten. «Du bringst die Zugtiere?», stellte sie fest.

Er nickte und strahlte übers ganze Gesicht. «Und den letzten Wagen zieh ich selbst», erklärte er und spannte seine Armmuskeln an. «Siehst ja, wie stark ich bin.» Erwartungsvoll schaute er in ihr Gesicht.

Elin nickte zerstreut. Wagen ziehen, überlegte sie. Ob ihr Pferd das wohl auch könnte? Sicher, noch war es zu jung und zart. Aber es würde einmal ein Hengst werden wie die, welche die wilden Herden anführten. Das waren große, starke Tiere. Ja, überlegte Elin, und ihr Herz schlug bei dem Gedanken. Es würde sicher einen Wagen ziehen können, wenn sie es nur dazu bringen könnte, ruhig und geduldig zu werden. War das möglich bei einem Pferd? Ein Räuspern riss sie aus ihren Überlegungen. Verwirrt stellte sie fest, dass Uris noch immer vor ihr stand. Hatte er irgendetwas gesagt, vom Tanz heute Abend? Sie wusste es nicht mehr.

«Sie warten draußen schon auf dich», sagte sie zerstreut, hob die Hand zum Gruß und ging weiter.

Enttäuscht schaute Uris ihr nach. Nicht einen Blick hatte sie ihm geschenkt, nicht ein Lächeln! Was interessierte es ihn, ob die anderen Mädchen auf ihn warteten! Wie sie ihn behandelt hatte! Pah! Er spuckte auf den Boden. «Ja, geh nur heim!», rief er ihr nach. Er musste die Stimme ein wenig heben, da sie schon ein ganzes Stück gegangen war. «Wirst schon sehen, was dich dort erwartet.»

Etwas in seiner Stimme brachte Elin dazu, sich umzudrehen. Uris’ Gesicht war verzerrt. Mehr noch erschreckte sie aber das feindselige Glitzern in seinen Augen. Etwas an der nackten Boshaftigkeit, die sie dort entdeckte, berührte sie für einen Moment und bewirkte, dass sie zutiefst erschrak.

Sie hat mich angesehen!, dachte Uris in trotzigem Triumph. Endlich hat sie mich angesehen.

«Was meinst du?», fragte Elin und ärgerte sich, dass ihre Stimme dünn klang. Was sollte es schon geben, das war doch nichts als das wirre Gerede eines unreifen Jungen, der sie ärgern wollte.

«Wirst schon sehen», wiederholte Uris hartnäckig. Eine Weile starrte er sie an. Dann, als hätte er es sich überlegt, gab er den Ochsen die Peitsche und trieb sie hastig und ohne weiteren Gruß davon.

Mit offenem Mund blickte Elin ihm nach. Was war geschehen? Die Grillen, bemerkte sie in diesem Moment. Die Grillen waren mit einem Mal verstummt. Und ohne dass sie wusste, warum, begann die Angst in Elin aufzusteigen wie die Abendschatten aus den Wiesen.

2.

Bela betrachtete die Axt in seinen Händen. Die Schnürung, sie hatte sich ein wenig gelockert. Die kupferne Klinge saß nicht mehr fest genug am hölzernen Griff. Er trat von dem Haufen Äste zurück, die in handlich zurechtgehackten Stücken zu seinen Füßen lagen, und schickte sich an, die Sache in Ordnung zu bringen. Auch die Schneide gefiel ihm nicht mehr so recht, überlegte er und fuhr nachdenklich mit dem Daumen darüber. Eine unebene Stelle riss ihm die Haut ein wenig auf. Er saugte den herausquellenden Blutstropfen fort und schüttelte den Kopf. Er würde mit Orin, dem Schmied, darüber reden müssen. Die Aussicht darauf gefiel ihm, denn er mochte den Mann, und er mochte seine Hütte, wo die geheimnisvollen Brocken lagerten, die Orin zu diesem seltsamen, glühenden, beinahe lebendig wirkenden Metall zu schmelzen vermochte, aus dem er dann seine Kupferklingen hämmerte. Ein Leuchten trat in Belas Augen, als er lächelte.

Er lächelte oft und gerne, man sah es an den blassen Streifen, die die Lachfältchen in seinem ansonsten braungebrannten Gesicht zurückgelassen hatten. Seine Augen waren grün, seine dunklen Haare, gebändigt von einem Lederband um seine Stirn, hingen ihm teils in Locken, teils in Zöpfen bis auf die Schultern herab. Leder hatte er auch um seine sehnigen Unterarme gewunden. Als er sich damit über die Stirn wischte, wurde es dunkel vom Schweiß. Er würde etwas trinken gehen, beschloss er. Nein, besser: Er würde Orin einen Becher mitbringen, und sie würden sich zusammensetzen und über sein Handwerk sprechen, wie Bela es liebte.

Manche im Dorf hielten Abstand zum Schmied und sagten, er ringe in seiner düsteren Schmiede mit den Geistern. Anders sei es nicht möglich, dass er das widerspenstige Metall beherrsche, das ja nichts anderes war als die Knochen der Erdmutter, die ihr an geheimnisvollen, ja sündhaften Orten entrissen wurden, ein Frevel, für den sicher ein Preis zu zahlen war. War es nicht so, dass nur die Allerstärksten, die Besten, zu Schmieden erwählt wurden und dass die letzten Geheimnisse eines Schmiedes nur an seinen Schüler und Nachfolger weitergegeben wurden in einer Zeremonie, bei der niemand sonst zugegen war?

Nachts fand sie statt, wenn der Himmel so schwarz war wie Schmiedeasche, ohne Mond, ohne Zeugen. Die Neugierigsten wollten ein Glühen gesehen, das heller war als jedes Feuer, und einen Schrei gehört haben, der nicht von einem Menschen kommen konnte. Am nächsten Morgen dann trug der neue Schmied dieselben sichelförmigen Narben auf beiden Wangen wie der Alte. Sie zeichneten ihn fürs Leben und schmerzten gewiss monatelang. Doch niemals sprach einer darüber, wie er sie empfangen hatte. Auch Orin nicht, dessen mondförmiges Gesicht die Narben entstellten, als trüge er eine Maske, die ihn für immer von den anderen entfernte.

Bela hätte viel darum gegeben, diese Zeichen zu empfangen, die die Schmiede zu etwas Besonderem machten. Doch als Junge war er nicht erwählt worden. Der Schnellste war er gewesen und der klügste Kopf, aber die Alten hatten sich für den mit den stärksten Schultern entschieden, dem breitesten Nacken und der unerschütterlichsten Ruhe. Bela betrachtete seine Arme. Was half es, dass sie heute an Kraft keinem nachstanden und die Frauen ihm hinterherschauten, wenn er mit seinen breiten Schultern und den schmalen Hüften durchs Dorf ging, mit dem leichten, lässigen Gang des Läufers.

Immerhin hatte er Orins Freundschaft und die Gastlichkeit seiner Hütte, zu der er es ihn oft zog. Wer weiß, überlegte Bela, vielleicht treffe ich dort sogar einen jener Fremden, die von Zeit zu Zeit vorbeikommen, um Erz anzubieten und andere Dinge. Orin pflegte von ihnen seine Vorräte zu kaufen, soweit er nicht alte Klingen reparierte und verarbeitete. Es waren seltsame Männer, diese Reisenden, ganz anders als die Bewohner des Dorfes, schon ihre Gestalt, ihr Gang und der Blick ihrer Augen verrieten, dass sie keine Bauern waren. Sie schienen andere Götter zu kennen als die Erdmutter und ihre Geister, und sie hatten Dinge gesehen, die man sich hierzulande nicht einmal vorzustellen vermochte.

Die meisten Dorfbewohner wollten davon gar nichts hören. Bela aber zog es immer besonders zu Orin, wenn er eine dieser Gestalten des Weges kommen sah. Einer hatte ihm einmal etwas zu halten gegeben, das beinahe aussah wie das Schulterblatt eines Tieres, doch war es gewellt gewesen, glatter und dünner. ‹Muschel› hatte der Händler es genannt und erklärt, es sei die Schale eines Tieres, das den Schnecken ähnlich sei, dabei lebe es aber in einem Wasser, das tiefer sei als der See, größer als der Wald, beinahe so weit wie der Himmel und kein Ende besäße.

Als Bela die Augen aufriss in dem vergeblichen Bemühen, sich diese Ungeheuerlichkeit vorzustellen, hatte der Fremde gelacht. Bela aber hatte in jener Nacht seltsame Träume gehabt. Und er hatte bedauert, dass der Mann am anderen Morgen schon wieder fort gewesen war. Für die meisten im Dorf lag jenseits des Waldes das Geisterreich, eine Ödnis und Nacht voll unendlicher Schrecken. Bela aber ahnte, dass es dort noch etwas anderes geben musste. Und er mochte Orin, den Schmied, weil auch der darum wusste.

Ja, er würde Orin besuchen. Mit Schwung hieb er die Axt in ein Stück Holz, wo sie stecken blieb, und rief zur Hütte hinüber. Dort lag sein Vater, alt und zu schwach, um noch laufen zu können. Als keine Antwort kam, ging er hinein. Wie meistens lag sein Vater dicht bei der Feuerstelle, eingewickelt in ein Fell, kaum mehr als ein mageres Bündel, das auch im Sommer stets fror. Er hatte die Augen geschlossen und schlief. Dabei atmete er mit offenem, zahnlosem Mund. Bela bückte sich und rückte fürsorglich die Holzschale mit der Grütze näher an das Lager heran, dann zog er ihm das warme Fell bis ans knochige Kinn und strich ihm über die Wange, die hart und runzelig war wie Borke. «Alles in Ordnung?», flüsterte er. Da schlug sein Vater die Augen auf. Bela zeigte ihm das schadhafte Beil. Der Alte schnalzte mit der Zunge. «Da lob ich mir die guten alten Steinklingen», meinte er. Seine Stimme war rau und brüchig. «Die hielten noch was aus.»

Bela lächelte. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. «Ja», erwiderte er. «Aber die alten Beile ließen sich nicht reparieren, kaputt war kaputt. Und hieraus», er hob die Klinge vors Gesicht und wendete sie hin und her, «wird im Handumdrehen wieder eine ebenso gute Axt.» Sein Vater schloss die Lider, zum Zeichen, dass er sich ergab. Aber um seine Lippen spielte ein Lächeln. Er nahm die Hand, die Bela ihm reichte, und hielt sie.

Da hörte Bela in der Ferne Gebell.

Er horchte auf. Die Hunde hatten angeschlagen, draußen auf der Wiese am Bach. Sie klangen so aufgeregt. Ob sie einen Hasen aufgestöbert hatten? Er entzog sich dem schwächer werdenden Griff seines einschlafenden Vaters und ging zur Tür. Gegen die tiefstehende Sonne musste er die Augen zusammenkneifen. Da war ein Mann am Waldrand, stellte er fest. Er ging geduckt, nein, er rannte. Ob das Edek war?, überlegte Bela, ob er keinen Erfolg bei der Jagd gehabt hatte? Vielleicht jagten die Hasen ja ihn? Bela grinste und wollte schon einen lauten Pfiff ausstoßen und winken. Doch nein, das war nicht Edek. Mit angestrengt gerunzelter Stirn beobachtete Bela die Bewegungen des Mannes. Das war überhaupt niemand, den er kannte. Ein Fremder. Ein Händler vielleicht? Für einen Moment keimte frohe Erwartung in ihm auf. Aber warum ging er dann nicht auf dem Weg? Unwillkürlich griff Bela nach seiner Axt. Er spürte die Gefahr, noch ehe er sie begriff. Mit dem Instinkt des Jägers nahm er sie wahr. Ein Schauer lief über seine Haut. Dann sah er es: Der Fremde war nicht allein gekommen.

Jetzt lösten sich aus dem Schatten zwischen den Bäumen noch andere Umrisse. Bela konnte vier, fünf, sieben Männer ausmachen, und es wurden immer mehr. Sie alle rannten in geduckter Haltung auf das Dorf zu. Noch waren sie so fern, dass er ihr Keuchen nicht hören konnte, nicht das Klirren der Waffen, die sie in ihren Händen schüttelten. Denn es waren Waffen, Bela erkannte sie nun deutlich: Äxte, Keulen, Schwerter sogar, lang und unheilverkündend. Er sah ihre struppigen Haare im Wind fliegen, sah den Helm, der den Kopf des Anführers zu einer Dämonenfratze machte, sah ihre ledernen Umhänge wehen und das Stampfen ihrer fellumwickelten Füße, die sie unerbittlich nähertrugen, Schritt um Schritt. Er sah den Ausdruck konzentrierter Kampfeslust in ihren Gesichtern, die Zähne in ihren aufgerissenen Mündern. Wie hypnotisiert stand Bela da und starrte.

Sie werden uns töten, dachte er. Und für einen Moment rief diese Erkenntnis keinerlei Echo in seinem Inneren hervor, so als wäre dies etwas, das sich fern von ihm abspielte, wie unter Wasser in einer anderen Welt, die ihn nicht berührte. Dann brandete für einen Moment die Angst wie eine heiße Welle über ihn, nahm ihm den Atem, löste seine Glieder auf und spülte die Kraft hinaus. Zitternd stand Bela da, mit offenem Mund, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Krampfhaft schloss er die Faust um seine Axt und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Das Hundegebell brach abrupt ab. Ein hohes, ersterbendes Quieken ertönte, dann blieb es still. Dann endlich kam der Zorn wie eine Woge, die Bela erfasste, hochhob und vorwärtsschleuderte.

«Edek!», schrie Bela. Er brüllte die Namen seiner Nachbarn, seiner Freunde. «Vater! Orin!» Längst war er unterwegs, rannte zwischen den Hütten hindurch, rief seine Warnung in jeden Eingang, jeden Winkel. Er nahm sich nicht die Zeit, zu sehen, wie auf den Gesichtern der Menschen das aufleuchtende Begrüßungslächeln der Verwirrung wich und dann dem Begreifen, während er rief und gestikulierte. Bela blieb nicht stehen, um zu sehen, wie Frauen in die Hütten rannten und wieder herauskamen, ihre Kinder an sich gepresst und wild um sich blickend auf der Suche nach einem Fluchtweg. «Nach Osten, nach Osten!», brüllte Bela ihnen zu und winkte in die Richtung der Felder, die auf der anderen Seite des Dorfes lagen. «Lauft bis zu den Hügeln!» Dabei hoffte und betete er, dass die Krieger, die aus der Abendsonne auf ihn zugerannt kamen, allein wären.

Orin trat aus seiner Hütte und starrte ihn an. In seiner Hand hielt er die Zange, in der das Schmiedestück noch immer glühte. Bela hielt inne; er sah das Rot des Kupfers im Luftzug aufzucken wie ein noch pochendes Herz im aufgebrochenen Kadaver eines erlegten Rehs. Dann überzog es sich mit Grau. «Fremde», keuchte er, «Schwerter.» Er sah das Erstaunen in Orins Augen, aber auch den Funken, der darin aufglomm. Keiner im Dorf besaß ein Schwert, kaum einer hatte je eines gesehen. Bela aber war sich sicher, dass Orin wusste, wie sie aussahen, vielleicht sogar, wie sie gefertigt wurden. Wusste er auch, wer sie trug? Es blieb Bela keine Zeit zu fragen. Das hohe Kreischen der Frauen, die in einer wilden Gruppe auf die Felder zugerannt waren, verriet ihnen, dass auch auf dieser Seite des Dorfes Angreifer gelauert hatten. In Panik kamen die Flüchtenden zurück zu den Hütten, Weiber schrien, Kinder weinten. Bela hob eines auf und drückte es der Nächstbesten in den Arm, trieb sie an, schrie und winkte. «Vater!», brüllte Bela, «Vater!»

Auf dem Weg zu seiner Hütte am Dorfrand war er nicht mehr allein. Andere standen an seiner Seite, Männer, Alte, Knaben, bewaffnet wie er, mit Äxten, Sicheln, hölzernen Heugabeln, Messern, Scheiten. Sie blickten wie er, entschlossen, verzweifelt. Sie hatten keine Wahl mehr. Dort brandeten Tod und Vernichtung heran. Hinter ihnen lag alles, was sie besaßen, ihr Besitz, ihre Familien, ihr ganzes, bislang so friedliches Leben. Sie verschlossen ihre Ohren gegen das Weinen ihrer Frauen und vergaßen ihre eigene Angst, die ihnen die Gesichter verzerrte. Edek neben ihm bleckte seine Zähne wie ein in die Enge getriebenes Tier.

Dann waren die Fremden da. Mit ungeheurer Wucht prallten sie auf die Reihen der Dörfler.

«Hrrraaaaaaa!», brüllte Bela und hob seine Axt. Metall klirrte auf Metall. Dumpf ächzten die Getroffenen. Bela hieb mit der Klinge, trat, stieß beiseite. Als er für einen Moment Luft holte, schaute er auf und schrie: «Vorsicht!»

Edek neben ihm fuhr herum, als er den Anführer mit dem Helm auf sich zustürmen sah. Er hob seine Keule und rannte los.

Einen Wimpernschlag lang stand er ganz still. Dann sank er lautlos in sich zusammen, ein blutiges Stück Fleisch, das schwer im Gras aufschlug. Fassungslos sah Bela Edeks Blut auf den grünen Halmen leuchten, sah die abgeschlagene Hand, den Hals, aus dem es pulsierend spritzte. Bela blinzelte. Was für eine Klinge war das, die Knochen schnitt wie Gras? Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Schon war der nächste Krieger heran. Mit Wucht parierte er den ersten Schlag, holte aus voller Hass und schlug zu. Blut sprühte ihm ins Gesicht, er brüllte. Zorn und Triumph, Furcht und der rasende Wille zu leben wurden eins.

Irgendwann wurde ihm bewusst, dass die Luft nach Rauch roch, dass es knisterte und prasselte und Schauer von Funken auf seine blutverschmierten Arme niedergingen. Aus den Augenwinkeln sah Bela seine Hütte, aus deren Dach bereits die Flammen schlugen. Vater, dachte er, doch es war nur noch das leise, ferne Echo eines Gedankens. Er war kein Sohn mehr, war kein Mann, nur ein Ding, das auswich, ausholte, sich drehte, zuschlug. Er hörte seinen eigenen keuchenden Atem, er dröhnte in seinen Ohren und verriet ihm: Noch lebte er. Er lebte noch immer, auch wenn um ihn herum alles unterging, wenn Orins Gesicht vor ihm auftauchte, rund wie der Mond, mit neuen Malen, aus denen das Blut glühend herabrann. Wenn auch der Schmerz fast unerträglich wurde, der sich irgendwann, irgendwie, ohne dass er den Schlag hätte kommen sehen, in seinen Leib fraß. Das Dorf hinter ihm brannte, die Felder vergingen, seine Welt zerfiel.

Bela bewegte sich, er kämpfte, ihm war, als befände er sich in einem Fiebertraum. Er sah den Kopf des Ebers auf dem Helm seines Gegners und dessen Zähne, die bedrohlich und hungrig neben den Wangenknochen des Mannes hervorragten und nach ihm schnappten. Die Bestie wuchs und brüllte; Mordech öffnete sein Maul, um ihn zu verschlingen. Bela holte Atem und schrie ihm seinen Hass entgegen. Er hatte aufgehört zu denken, als er seine Axt mit beiden Händen packte und sich duckte, um dem Hieb dieses Schwertes auszuweichen. Dann wurde es finster.

3.

Atemlos kam Elin beim kleinen heimatlichen Hof aus gestampftem Lehm an. Ihre moosgedeckte Hütte lag an der Ostseite, ein langgestrecktes Oval, mit dem Eingang im Süden. Der Nordteil diente als Stall für das Vieh, das ihnen im Winter die kalten Winde vom Hals hielt und die Wohnstube mit seinen warmen Dünsten füllte. An die Nordseite des Platzes grenzte der offene Unterstand mit der Kochstelle. Dort stand auch ihr Webstuhl, für den es in der Hütte selbst zu düster war. Er bestand aus zwei starken Balken mit einer Querstange, von der herab die mit Steinen beschwerten Kettfäden hingen. Daran schlossen sich der große und der kleine Speicher an, die beide auf Stelzen standen, damit kein Getier an das Getreide herankam. Im Westen lagen die Wintergruben, in denen der Frost ihnen die Vorräte frischhielt, bis sie aufgebraucht waren, sowie das Erddepot für den Hafer, der sich darin zwei Jahre lang hielt. Daneben hatten sie den Garten angelegt, wo Linsen wuchsen, Erbsen und Kräuter, Brombeeren, die das Weidengeflecht des Zaunes üppig umrankten, und Wurzelgemüse.

Ein würziger Duft drang von dort zu Elin. Aber da lag noch etwas anderes, Salziges, übelerregend Metallisches in der Luft, das alles andere überlagerte. Es war schon beinahe finster, nur die Glut der Kochstelle warf einen schwachen Lichtschein auf den Hof. Immerhin hat Idris sie nicht ausgehen lassen, dachte Elin. Oft genug kehrte sie an einen kalten Herd zurück, denn die Männer scherten sich nicht um das Feuer. Dann hatte ihr Bruder also doch noch Erfolg bei der Jagd gehabt! Die letzten Tage war er meist missgelaunt aus dem Wald zurückgekehrt. Nun erkannte sie auch, an die Wand der Hütte gespannt, das Fell des Tieres. Es musste ein Reh gewesen sein, der Größe nach, dachte Elin und trat näher, um es zu betrachten. Da begannen ihre Beine zu wanken. In diesem Moment, als hätte er ihre Ankunft gespürt, kam ihr Bruder aus der Hütte. Mit einem Blick auf seine Schwester ging er hinüber zu einem dunklen Haufen, den Elin jetzt als aufeinandergestapelte Fleischbrocken erkannte. Nun roch sie das schneidende Aroma von Blut. Und es würgte sie.

Idris klatschte in die Hände und trat in die Dunkelheit, woraufhin das Knurren eines Hundes hörbar wurde. «Kusch», rief er und trat nach dem unsichtbaren Angreifer. «Verdammtes Vieh.» Seiner Schwester wandte er noch immer den Rücken zu. «Jetzt führ dich nur nicht auf», begann er dann aus heiterem Himmel: «Wir brauchen das Fleisch. Vater sagt das auch.»

Er wandte halb den Kopf und schielte nach ihr, die immer noch reg- und wortlos dastand. «Hab heute wieder kein Glück gehabt, und der Herr vom Berg verlangt seinen Teil, das weißt du. Hat doch keinen Sinn, ein Schaf zu schlachten, wenn man ein wildes Tier nehmen kann. Eh, Elin?» Er hatte sein Messer gezogen und arbeitete schwer an etwas, das vor ihm lag. Dann holte er aus.

Elin sah etwas Helles durch die Luft fliegen. Unwillkürlich fing sie es auf; es war der Schweif ihres Pferdes, lang und fein. Ein wenig Blut klebte an den Spitzen. Als sie ihr Gesicht hineindrückte, konnte sie noch immer den Geruch des kleinen Fohlens wahrnehmen. Da schluchzte sie auf.

«Nun führ dich bloß nicht …», wollte Idris eben wiederholen, als sie sich schon auf ihren Bruder stürzte und mit den Fäusten auf ihn einschlug.

«Du hast es umgebracht», schrie sie gellend. «Du hast es getötet.»

Idris hob lässig die Hände, um sich vor ihren Schlägen zu schützen. Er tänzelte ein wenig hin und her, schließlich, als sie nicht ablassen wollte, verlor er die Geduld, holte aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie beinahe von den Füßen fegte. Elin hielt überrascht inne.

Idris grinste. «Siehst du», begann er. Da sprang sie ihm mit den Nägeln ins Gesicht.

«Heh, bei Mordech», fluchte Idris überrascht und rief nach dem Vater, der herbeieilte, um das Mädchen zu bändigen. Elin wand sich in seinem festen Griff und schimpfte und fluchte, was das Zeug hielt. Crudd schüttelte seine Tochter.

«Still», donnerte er, «wirst du wohl still sein!»

Schließlich ließ Elin erschöpft den Kopf sinken. Oh, sie hätte ihn nie wieder heben mögen! Ihr Haar hatte sich gelöst und hing ihr ins Gesicht wie ein gnädiger Vorhang, der ihr den Anblick des ausgespannten Felles ihres Lieblings ersparte. Nun endlich kamen die Tränen.

Idris nickte seinem Vater zu, der sie losließ. Schluchzend sank Elin in sich zusammen. In ihren Händen hielt sie noch immer den Schweif, den sie verzweifelt streichelte. Kaum, dass sie die Worte hörte, die ihr Vater und Idris zu ihr sagten. Dass der Herr auf dem Hügel ein Fest gab und dafür seinen Anteil an der Jagd verlangt hatte. Dass Idris heute nichts erlegt hatte. Aber dass sie ja ein Jagdwild im eigenen Stall stehen hatten und es gegen jede Vernunft gewesen wäre, ein nutzloses Tier leben zu lassen, um ein Schaf dafür zu opfern, das sie im Winter noch brauchen würden. Elin hörte es, sie verstand es, sie wusste, es gab nichts dagegen zu sagen. Und doch waren da der Schmerz in ihr und ein tiefes Gefühl des Verlustes.

Fleisch füllte den Magen. Fleisch ließ Menschen überleben. Fleisch gab die Kraft, selbst Mordech zu trotzen. Aber dieses Pferd war mehr für sie gewesen als Fleisch.

Feind oder Futter, echote es in ihr. Hattest du erwartet, etwas Neues schaffen zu können? Ja, rief eine Stimme in ihr, laut und entschieden und hoffnungsvoll. Ja, warum nicht, warum sollte es das nicht geben dürfen? Sie hatte etwas gespürt in diesem Tier, die Anwesenheit eines anderen Geistes, freundlich, verständig, dem ihren verwandt. Ob es vielleicht auch gute Dämonen gab, die der Erdmutter dienten? War dieser Hengst einer davon? Elin wusste, sie war allein mit diesen Gedanken, keiner würde sie verstehen, aber war das nicht immer so? Jetzt lag dort ein hässlicher Haufen Fleisch, und sie fühlte sich einsamer denn je.

«Komm, auf», sagte ihr Vater und fasste sie am Arm, um sie derb auf die Beine zu ziehen. Als sie unwirsch seine Hand abschüttelte, gab er ihr einen Schubs in Richtung Herdstelle.

Elin riss die Augen auf, als sie begriff. «Nein», keuchte sie. Das war zu viel, niemand konnte das von ihr verlangen. Niemals würde sie das Fleisch ihres Pferdes zubereiten und nie davon kosten. Sie wandte sich um und starrte die beiden Männer an. Dann verschränkte sie entschlossen die Arme.

Idris nickte dem Vater zu und verdrehte die Augen. «Habe ich es dir nicht gesagt? Also gut», fuhr er an seine Schwester gewandt fort, «ich werde Anwin bitten. Dafür hilfst du mir, den Anteil des Herrn auf den Hügel zu bringen.»

«Aber …», wollte Elin einwenden.

«Vater muss Uris bei den Karren helfen», kam Idris ihr zuvor.

Dagegen gab es nichts zu sagen; bei jeder Ernte war es so. Ihr Vater tat die schwere Arbeit ausnahmsweise mit Eifer. Er liebte es, dabei zu zeigen, welche Kraft noch in ihm steckte. Zu gern spannte er sich neben Uris in den Karren und zog. Und meist fand sich bei der anschließenden wilden Feier dann auch für ihn ein Mädchen, das mit ihm in die Büsche ging, um sich noch einmal beweisen zu lassen, was für ein Mann er nach wie vor war. Elin saß in diesen Festnächten meist alleine zu Hause.

Ihr Vater war verstummt. Elin bemerkte den Blick, mit dem er sie betrachtete. So hatte er sie noch nie angesehen, so voll neuerwachtem Interesse und einer unterschwelligen Gier. Sie konnte seinen Blick förmlich über ihren Körper wandern fühlen. War es die Aussicht auf eine Nacht des Trinkens und der Tänze, oder woher kam der seltsame Glanz in seinen Augen?

«Was starrst du mich so an?», murrte sie und strich sich unbehaglich fröstelnd über die nackten Arme.

Idris stieß Crudd an, der noch immer mit diesem seltsam hungrigen Lächeln seine Tochter betrachtete. Da erwachte er aus seinen Gedanken. «Dann mache ich mich auf den Weg», brummte er, mit einem Mal verstimmt und froh, von ihnen fortzukommen.

Betroffen sah Elin ihm nach, aber sie kam nicht dazu, über sein Verhalten nachzudenken. Idris hielt ihr bereits die hölzerne Steige hin, auf der in große Blätter eingewickelte Fleischbrocken lagen. Sie schauderte, als sie mit den Armen durch die Tragschlingen fuhr, und das nicht nur, weil die Brocken sie kühl wie Froschhaut berührten. Auch Idris belud sich und übernahm die Führung. Er marschierte so rüstig voran, dass Elin kaum folgen konnte. Die Fackel in seiner Hand fauchte im Abendwind.

«Was hast du es denn so eilig?», protestierte sie, während sie so gut es ging hinter ihm herstolperte.

«Ich will schließlich noch zum Fest», gab Idris zurück. «Ist nicht jeder so ein Sauertopf wie du.» Er lachte.

Elin verzog das Gesicht. «Mir sind die Männer nun einmal lieber, wenn sie nicht betrunken herumlaufen», erklärte sie. Dann blieb sie stehen. Dort vor ihr, unter dem Funkeln der Sterne, erhob sich ein Umriss, der schwärzer war als die Nacht. Und auf seinem Gipfel brannte etwas, das heller leuchtete als die Sterne, röter und unruhiger auch: die großen Fackeln am Tor der Festung.

Auch Idris blieb stehen und wies mit dem Kopf dorthin. «Hinauf geht’s», verkündete er und fragte mit einem Mal ungewohnt freundlich: «Kannst du noch?»

Elin nickte. «Es ist nur …», begann sie, und ihr Blick wanderte wieder zum Hügel. Er hatte Männer dort oben.

«Schnell hin, schnell zurück», sagte Idris und lächelte ihr zu. Er lächelte nicht oft. Trotz allem, was geschehen war, war Elin in diesem Moment dankbar dafür. Idris war ein grober Klotz, rau und egoistisch, aber auch stark und zäh, und er war ihr Bruder. In einer dunklen Nacht wie dieser konnte sie sich keine bessere Begleitung vorstellen. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu haben.

«Ja», stimmte sie ihm zu. Ihr wurde ein wenig wohler. Was sollte ihr an Idris’ Seite geschehen? Und wenn sie zurück waren, würde sie dieses Jahr selbst einen Becher trinken und ein wenig tanzen. Elin liebte den Tanz, das selbstvergessene Drehen. Wenn keine Hände nach einem griffen, die man abwehren musste, konnte es wunderbar sein. Vielleicht vergäße sie dann sogar für eine Weile den Kummer über ihr Pferd. Und wenn sie ein neues fände? Mit einem Mal, wie ein Licht im Dunkeln, war der Gedanke da. Wenn sich einmal eines in einer Grube verfangen hatte, dann konnte das wieder geschehen. Vielleicht konnte man nachhelfen. Unwillkürlich begann sie, vor sich hin zu summen. So folgte sie ihrem Bruder bei dem steilen Aufstieg.

«Bald sind wir da.» Idris’ Stimme bebte leicht.

«Ja», erwiderte Elin zerstreut. Von der fiebernden Erwartung, die seine ganze Gestalt durchdrang, bemerkte sie nichts.

4.

Als Bela zu sich kam, war es Nacht. Für eine Weile glaubte er, er läge im Schlund Mordechs, wo ewige Feuer brannten und die Schreie der Sterbenden widerhallten, während ihnen das verwesende Fleisch von den Rippen tropfte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass die Feuer nicht vom Atem eines Untiers stammten, sondern sich mit lautem Prasseln durch die Hütten seines Dorfes fraßen. Eben stürzte knirschend ein weiteres Dach in sich zusammen, und brennendes Stroh wirbelte mit der heißen Luft in den Nachthimmel, um in sachten Bögen wieder herunterzutrudeln. Das ganze Dorf war so erhellt, jedes Heim eine Fackel, die Luft dazwischen wie zähflüssig vor Glut.

Die Schreie waren von jenseits der glühenden Wände zu ihm gedrungen und erstarben nun einer nach dem anderen, sie gingen unter im Krachen, mit dem die Balken niederbrachen. Und der Gestank kam von seinem eigenen versengten Fleisch und Haar.

Mühsam kroch Bela ein Stück fort. Er tastete kühle Blätter, dann Fleisch, ebenso kalt wie das Gras. Als er sich auf den Ellenbogen stützte, erkannte er das Gesicht von Mela. Sie war Orins Schwester gewesen und hatte ihn immer besonders freundlich begrüßt, wenn er bei dem Schmied zu Besuch war. Nun lag sie da, die Beine weit gespreizt, die Kleider heruntergerissen, ihre Kehle zerfetzt, als hätte ein Tier sich darin verbissen. Sie war tot.

«Vater!», rief Bela. Er blickte nach seiner eigenen Hütte, konnte aber nichts erkennen als eine flimmernde Wand aus Hitze. Er versuchte aufzustehen, fiel aber auf die Knie und blieb so eine Weile hocken, wie ein Hund auf allen vieren, mit hängendem Kopf. Aus seiner Seite rann Blut. Es fühlte sich warm an, als er hinfasste. Nicht so kalt wie Mela, dachte er. Ich bin noch am Leben. Noch lebe ich. Er hob den Kopf in den Nacken und stieß einen Laut aus, beinahe wie ein Wolf, der den Mond anheult. Doch keine Stimme, weder eines Menschen noch eines Tieres, antwortete ihm.

Bela wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis es ihm gelang, einen Streifen von seinem zerfetzten Hemd abzureißen und um seinen Leib zu wickeln, wie oft er ohnmächtig wurde, als er den Verband anzog, so fest er konnte. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er zu der Stelle gelangte, wo sein Heim gewesen war, ob auf seinen Füßen oder kriechend wie ein Hund, und wie oft er dabei zusammenbrach. Als er dort angekommen war, richtete er sich mühsam auf. Hier war nichts mehr, nichts als Asche. Er fand einen Stock und stocherte damit darin herum. Holzasche, weiß und wirbelnd, darunter etwas Hartes. «Vater», flüsterte Bela. Er griff nach dem Amulett um seinen Hals und küsste es. «Möge die Große Mutter dich in ihren Schoß aufnehmen. Möge dein Geist heimkehren zu unseren Feldern und uns schützen …» Da hielt er inne. Es gab keine Felder mehr. Es gab kein uns mehr. Nichts war übrig, um es zu beschützen. Der Geist seines Vaters würde heimatlos bleiben, all die Geister würden das, die heute in die Nacht gegangen waren. Kein Ahnenpfahl stand mehr vor den Hütten, um sie zu leiten und ihnen eine Wohnstatt zu sein. Niemand würde ihnen eine Mahlzeit oder einen Trank hinstellen. Eine Weile suchte Bela im angekohlten Gras nach den Resten des geschnitzten hölzernen Pfostens, der seine Hütte beschützt hatte, einst, vor wenigen Stunden. Doch er fand sie nicht mehr. Da wandte er sich ab.

Seinen Weg durch das, was einmal das Dorf gewesen war, nahm er wie ein lebender Toter. Manchmal, wenn noch Gesichtszüge erkennbar waren, konnte er es nicht lassen und neigte sich über eine Leiche, murmelte einen Namen, schloss blicklos gewordene Augen. Es ging über das Fühlen hinaus; es fügte dem Schmerz, der schon so übergroß war, keinen weiteren mehr hinzu, seine Verzweiflung, dachte er, konnte tiefer nicht werden. Bis er Orin entdeckte.

Der Schmied lag am Eingang seiner Hütte. Seine Beine waren nur noch Stümpfe, abgebrannt bis fast hinauf zum Knie, und wiesen auf die Schwelle. Sie qualmten noch leise. Orins Gesicht leuchtete unter all dem Ruß und den Wunden weißer denn je. Neben ihm ging Bela ein letztes Mal in die Knie und verharrte einen Augenblick. Leb wohl, Freund, dachte er. Geh und nimm deine Geheimnisse mit dir. Er hob die Hand, um Orin zum Abschied über das Gesicht zu streichen.

Mit einem Schrei taumelte Bela zurück. Orins Hand war hochgeschossen und hatte sich um sein Handgelenk geschlossen. Und die Augen des Schmiedes standen offen. Seine Lider flatterten, während Bela sich ungläubig neben ihn hinkauerte, und sein Mund öffnete und schloss sich in hilfloser Qual, ohne ein Wort hervorzubringen. Schließlich kamen doch Laute heraus. Und als Bela seinen Schreck und seinen Ekel überwand und sich dicht über ihn neigte, spürte er an seinem Ohr einen Hauch und verstand: «Töte mich.»

Er löste Orins Linke von seinem Gelenk, nahm sie zwischen seine Finger und drückte sie ratlos. «Freund», flüsterte er, und Tränen traten in seine Augen. «Alter Freund.» Für einen Moment war ihm, als träte ein Erkennen in den Blick des Schmiedes. Orin schloss kurz die Augen und lächelte leicht. Doch gleich darauf begann der Schmerz seinen Körper wieder zu schütteln, ein Beben ging über sein Gesicht und ließ seine Lider erneut zucken wie die Flügel eines Falters, der in die Flamme flog.

Hastig schaute Bela sich um. Seine eigene Axt hatte er verloren, aber nicht weit von dem Schmied lag die Leiche eines Mannes, der zu ihren Angreifern gehört haben musste. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er zu ihm und musterte den Körper, der von zahlreichen Wunden entstellt war. Das

Noch einmal raffte er sich auf und ging zu dem toten Feind hinüber. Er stieß mit dem Fuß im hohen Gras herum und gegen den Arm des Mannes, bis er gefunden hatte, was er suchte: die Spitze des zerbrochenen Schwertes. Wieder sah Bela im Geiste den Angriff vor sich, er sah Edeks Gesicht, groß und verzerrt, sah, wie seine Hand durch die Luft trudelte, gemäht wie ein Blatt, und die Fontäne, die aus seinem Hals schoss. Ein Metall, das Knochen durchschlug wie dünnes Holz, war es das?