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THORSTEN

LEGAT

in Zusammenarbeit mit
Hubert Meyer

Wenn das Leben foul spielt

VERLAG DIE WERKSTATT

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2014 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

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Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0144-7

Eine menschliche Kanonenkugel

Kann ein Mensch fliegen? Nun, es kommt darauf an, was man darunter versteht. Nehmen wir einmal Sven Hannawald zu seinen besten Zeiten. Er war ein Skiflieger, weil seine Sprünge manchmal über 150 Meter gingen. Dabei hob er ab von der Sprungschanze, für die auch der norwegische Begriff »Bakken« benutzt wird.

Mehr als 150 Meter waren es nicht, die ich an diesem grauen Nachmittag geschafft hatte. »Etwa 100 Meter«, schätzte ein Zeuge später. Und vom Bakken abgehoben bin ich auch nicht. Ich saß vielmehr auf meinen Backen, als der katapultartige Vortrieb begann.

Skiflieger bringen es auf eine Anlaufgeschwindigkeit von etwas mehr als 100 km/h. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass die Tachonadel bei 205 km/h stand. Dann überfiel mich der Sekundenschlaf.

Sekundenschlaf? Aus einer tiefen Bewusstlosigkeit wachte ich erst Stunden später auf der Intensivstation auf.

Die Polizei rekonstruierte den Unfall später so: Der Fahrer des VW Sharan stieß mit dem Wagen etwas seitlich versetzt gegen den Auflieger eines fahrenden Sattelzugs. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Mann durch die Windschutzscheibe etwa hundert Meter weit über die Autobahn A2 geschleudert. Der Unfall geschah um 17:25 Uhr am 10. September 2002.

Als ich die Scheibe durchschlug, schlitzte mir das zerbrochene Glas den Hals auf Höhe des Kinns so stark auf, dass ich rund drei Liter Blut verlor. Dazu brach ich mir den siebten Halswirbel. Aber auch wenn sich das jetzt vielleicht merkwürdig anhört: Ich hatte Glück.

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Was vom Auto übrig blieb. Kaum zu glauben, dass ich den Crash überleben konnte.

Zunächst wirkte sich positiv aus, dass ich den Auflieger seitlich versetzt getroffen hatte und nicht voll aufgefahren war. Sonst wäre ich sofort mausetot gewesen. Außerdem bestätigten mir die Ärzte, dass mich mein enormer Muskelaufbau, den ich im Anschluss an meine Profikarriere betrieben hatte, vor einer Querschnittslähmung bewahrte. Am Tag des Unfalls wog ich 108 Kilo – das waren etwa 20 Kilo Muskelmasse mehr als noch zu meiner aktiven Zeit als Fußballer.

Bleibt vielleicht die Frage, wie weit ein Hannawald mit diesem Gewicht gekommen wäre.

Aus der Bewusstlosigkeit aufzuwachen, ist schon ziemlich abgefahren. Ich wusste nichts mehr von meinem unfreiwilligen Job als lebende Kanonenkugel. Man wird langsam wach, undeutliche Konturen nehmen Gestalt an, und man kämpft mit Erinnerungslücken. Weil ich unsicher war, hielt ich mich an das, was ich noch wusste. Zuletzt hatte ich im Wagen gesessen. Dort war ich jetzt nicht mehr. Das war klar. Und vor mir stand eine Krankenschwester.

»Hey, Schwester, wo ist mein Auto? Ich muss doch nach Bremen.«

Drei lange Wochen lag ich im Evangelischen Krankenhaus in der Nähe von Hamm. Zeit genug, um mir Gedanken zu machen, wie es für mich weitergehen sollte. Oft starrte ich an die Decke und grübelte.

Nach Bremen, wo ich die größten Erfolge meiner Profikarriere erlebte mit der Deutschen Meisterschaft, dem Europapokalsieg in Lissabon und dem DFB-Pokalsieg, war ich quasi als Azubi zurückgekehrt. Eine Umschulungsmaßnahme der Berufsgenossenschaft nach meinem Karriereende auf Schalke. Als Co-Trainer im Jugendbereich und als Scout erwarb ich zuerst B- und A-Lizenz und arbeitete dann – wieder an der Weser – zusammen mit Dieter Eilts, meinem einstigen Mannschaftskameraden bei Werder.

Er war es, der mich bat, nach Hannover zu fahren, um dort als Scout bei einem A-Jugendturnier Berichte über interessante Spieler anzufertigen. Ein Profil von jedem Nachwuchsfußballer anzulegen, das ist enorm aufwendig. Da ich alles immer einhundertprozentig erledigen wollte, habe ich mir in meinem Sharan, in dem ich an einem Tisch arbeiten konnte, die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Vielleicht schlief ich am Stück dann noch anderthalb Stunden im Wagen, kurzes Frühstück – hundemüde – an der Tanke, dann wieder ein paar Stunden Beobachtungen beim Turnier. Und schließlich mit dem Bleifuß los auf die Autobahn. Heute weiß ich: Das konnte eigentlich nicht gutgehen.

Einen Horrorunfall, wie ich ihn erlebt habe, steckt man als Mensch nicht so einfach weg. Schon als mein Bruder mich aus der Klinik abholte, bemerkte ich, dass mich die Sache noch längere Zeit beschäftigen würde. Als ich ins Auto einsteigen wollte, konnte ich es nicht. Ich hatte schreckliche Angst.

Nach Einschätzung der behandelnden Ärzte war ich dem Tod quasi von der Schippe gesprungen. Das Schicksal hatte mir eine zweite Chance gegeben. Und eine Zwangspause zum Nachdenken. Über meine Zukunft, aber auch über mein bisheriges Leben. Denn da gab es so einiges an Licht und an Schatten, auf das ich jetzt ehrlich zurückblicken wollte. Auch auf den großen schwarzen Fleck in meiner Kindheit. Davon werde ich nun zum ersten Mal berichten.

Mein Vater war ein Schwein

Unser Haus in Bochum-Werne lag »Auf den Holln«, ganz am Ende eines fast kilometerlangen schnurgeraden Straßenabschnitts. Solch eine Lage hatte den Vorteil, dass meine Geschwister und ich Besucher schon frühzeitig sehen konnten. Zum Beispiel meinen Vater, wenn er nach Hause kam. Ich erinnere mich, dass ein ziemlich breiter Bürgersteig neben der Straße entlangführte. Wir erkannten leicht, in welchem Zustand sich unser Vater befand: Benötigte er die ganze Breite des Gehwegs, dann war er wieder mal besoffen.

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Die Straße »Auf den Holln« in Bochum-Werne heute. Ganz links das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.

Er hieß Gerhard Legat und hatte 13 Jahre lang unter Tage in den Zechen Shamrock 1 und 2 in Herne gearbeitet, ehe er nach deren Stilllegung zu einer Bochumer Firma wechselte, die Dämmstoffe herstellte. Er war ein großgewachsener Bergmann, kräftig und gutaussehend, besaß aber Charaktereigenschaften, die ich mit gewalttätig und tyrannisch beschreiben würde. Alkoholmissbrauch und Jähzorn steigerten sein asoziales Verhalten uns gegenüber ins Unermessliche. Ich habe immer Angst vor ihm gehabt – mein ganzes Leben.

Was mich bis heute verfolgt und was ich nur schwer aus meinem Kopf bekomme, sind die Bilder der brutalen Prügelattacken. Er schlug meine Mutter, meine Geschwister und mich meistens mit zentimeterdicken Bambusstöcken. Mehrfach musste ich miterleben, wie er meine Brüder blutig schlug, so lange, bis der Bambus zerbrach. Er war schier unberechenbar und kannte keine Grenzen.

Wenn er betrunken nach Hause kam, dann ließ dieser Choleriker seinen Aggressionen freien Lauf. Es begann immer damit, dass er wütend die Tür zuknallte, wenn er das Haus betrat. Mehr als einmal musste ich mitansehen, wie er zuerst meine Mutter und dann einen meiner Brüder windelweich schlug. Anschließend war ich an der Reihe.

Es fällt mir schwer, Begriffe zu finden, die ihn treffend beschreiben. Familien-Diktator, brutaler Selbstdarsteller oder tickende Zeitbombe sind nicht mehr als verzweifelte Versuche. Er war einfach nur ein mieses Schwein.

Ich wuchs auf in einer sechsköpfigen Familie. Zusammen mit drei älteren Brüdern lebte ich in einem recht einfachen Haus. Ein dreistöckiger Altbau, der in schmutziggrauem Putz gekleidet war, aus dem Jahre 1880. Die Toilette war auf dem Flur. Eine Dusche gab es nicht, wir wuschen uns im Keller, in dem auch eine alte Zinkbadewanne stand. Wenn man so will, war das unser Bad, inklusive Bollerofen oder – wie man auch sagen könnte – Heizkessel. Da wir nicht so viele Zimmer besaßen, mussten wir immer improvisieren. So schlief ich als jüngstes Kind noch bei den Eltern. Das nutzte mein Vater aus. Jahrelang.

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Ein Ort schlimmer Erinnerungen: das Bett meiner Eltern, in dem ich schlief, solange ich ein Kind war. Mein Vater nutzte das aus.

Das Bett war – wie früher üblich – zweigeteilt. Ganz rechts lag meine Mutter, neben ihr mein Vater, während ich auf der linken Seite schlief. Es begann immer damit, dass mein Papa an mich heranrückte, wenn ich mich in der Tiefschlafphase befand, aus der ich dann verwirrt erwachte. Zuerst spürte ich die Hände, dann schlug er das Bein über mich, um sich an mir zu reiben. Oder er begann mich im Intimbereich zu streicheln. Wenn mir endlich klar wurde, was er da trieb, rief ich panisch nach meiner Mutter. Sie versuchte dann verzweifelt, ihn von mir wegzuziehen. Es war das reinste Horrorszenario. Sequenzen davon verfolgten mich noch sehr lange – mitunter sucht sich die verdrängte Scheiße von damals auch heute noch einen Weg an die Oberfläche. Aber wie wehrt man sich gegen ein Ohnmachtsgefühl?

Für ein Kind, das sich normalerweise bei den Eltern geborgen fühlen sollte, war dieser Vertrauensbruch das schlimmste Vergehen. Der Missbrauch durch meinen Vater blieb nicht ohne psychische Auswirkungen. Er veränderte mich total. Ich lebte meine Aggressionen auf der Straße aus. Ich wurde ohnehin gehänselt, weil unsere Familie arm und mein Vater ein Säufer war. Ich hatte nichts, selbst ordentliche Schuhe fehlten mir manchmal, und ich musste im Sommer sogar mit Gummistiefeln herumlaufen, während die anderen Kinder Sandalen trugen. Ich dachte immer: Säufer, ja, das ist er. Aber das ist nur die Hälfte der bitteren Wahrheit.

Was kann man als Kind dagegen tun, wenn der Mensch, der es beschützen soll, zum Missbrauchstäter wird? Ich habe versucht, es zu verdrängen, doch das ist nicht so leicht. Weil immer wieder etwas passierte. Manchmal hat mich mein eigener Papa – als er wieder einmal betrunken war – sogar angepinkelt. In mir spürte ich die allgegenwärtige Angst – aber auch Hass, Ekel und Wut. Ich wünschte ihm den Tod.

Meine Jugend war ein nicht enden wollendes Martyrium. Mein Vater schreckte nicht davor zurück, mich ständig zu demütigen. Es störte ihn nicht einmal, dass meine Freunde anwesend waren. Als seine Füße schmerzten, sollte ich ihn massieren. Als ich es tat, zwang er mich, ihn auch im Genitalbereich anzufassen – vor den Augen meiner Freunde.

Es gibt auch heute noch Situationen, in denen diese Bilder plötzlich wieder durch meinen Kopf spuken. Dann habe ich mit Tränen zu kämpfen und empfinde dieses Ohnmachtsgefühl, das mich damals als kleinen Jungen erfasste. Behütete Kindheit, Familie als sicherer Zufluchtsort, liebende Eltern, die stolz auf dich sind – für mich damals Begriffe aus einer fremden Welt. Vielleicht habe ich deshalb heute Angst, meine eigenen Kinder nicht sehen oder vor Unheil behüten zu können. Ich möchte immer für sie da sein.

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»Trinkzeiten« – Was auf dem Schild hinter meinem Vater (rechts) und einem seiner Bekannten steht, hätte auch sein Lebensmotto sein können. Allerdings ohne Zeitlimit.

Möglicherweise fragt man sich jetzt, warum bei derartigen Missständen die Polizei nicht eingriff. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte körperliche Bestrafung zu den üblichen Erziehungsmaßnahmen in Deutschland. Der Vater verkörperte in den Familien den Chef, der meistens unantastbar war. Die Polizei hatte nichts zu suchen in den Bergmannsfamilien, in denen Stockschläge zum Alltag zählten. Aber Missbrauch?

Nun, dieses Th ema wurde tabuisiert, man sprach nicht darüber. Dabei spielte die Scham eine entscheidende Rolle und natürlich die Angst vor dem Haustyrannen, der stark war wie ein Bulle. Wer sollte also meinem Vater etwas nachweisen, solange die Familie schwieg?

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Mein Vater in seiner Stammkneipe.

So endete für mich das, was im Alter von etwa fünf Jahren begonnen hatte, erst ungefähr sieben Jahre später. Ich vertraute mich meinen Brüdern an, und sie schworen mir, künft ig genau hinzuschauen und mich zu beschützen. Irgendwann kam der Moment, in dem mein betrunkener Vater wieder einmal versuchte, mich anzufassen. Ich konnte mich aus der Umklammerung befreien, bin aus dem Zimmer gelaufen und zu meinem Bruder geflüchtet. Meine Geschwister, die selbst so unter dem Vater gelitten hatten, zahlten es ihm noch am Abend mit gleicher Münze zurück. Er wurde verprügelt – aber richtig.

Gegenüber seiner Frau wurde mein Vater trotzdem immer gewalttätiger. Eines Tages kam er nach Hause, als meine Mama in der Küche das Essen zubereitete. Als wäre es erst gestern gewesen, so sehe ich diese Szene noch heute vor mir: wie mein Vater seinen Mantel auszieht, das Fenster sperrangelweit aufstößt, seine eigene Frau am Hals packt, um sie aus dem dritten Stock zu werfen. Während ich mich mit meinen zwölf Jahren verzweifelt bemühte, ihn daran zu hindern, kam Gott sei Dank mein Bruder Peter ins Zimmer. In dem Augenblick, als meine Mutter schon keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, ging er dazwischen und befreite sie. Dann fasste er meinen Vater, warf ihn zu Boden und malträtierte ihn mit Fußtritten – so lange, bis eine Blutlache auf dem Fußboden zu sehen war.

Warum mein Vater zum Säufer und Schläger geworden ist, der alle terrorisierte und sich an seinen Kindern verging, weiß ich nicht. Ich glaube, er wirkte nur äußerlich so stark, doch tief in seinem Innern war er ein Feigling. Freundschaften ging er nur ein, wenn er das Gefühl hatte, dass er diesen Freunden überlegen war. Er musste immer die erste Geige spielen und wollte bewundert werden. Spielten die Kollegen dabei nicht mit, dann sorgte er dafür, dass die Freundschaften zerbrachen.

Leute, die seiner Meinung nach »minderwertig« waren, provozierte er – meistens ziemlich betrunken – so lange, bis es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam. Meine Mutter erzählte, dass er in einer Kneipe einen kleinen, kompakten Mann angestänkert hatte. Keiner wusste, dass dieser Typ ein Boxer war. Das Ergebnis: Mein Vater lag sehr schnell auf dem Kneipenboden – mit blauen Augen und ausgeschlagenen Zähnen. Er war »endlich einmal an den Richtigen geraten«, wie es so schön heißt.

Vor neun Jahren ist mein Vater gestorben. Sein Herz versagte, als er in seiner Gartenlaube werkelte. Er fiel einfach um. Ein Jahr zuvor haben wir meinen Bruder Peter beerdigt. Mein großes Idol starb an Krebs. Um ihn habe ich getrauert.

Flucht aus der Familie

Peter, mein Held und Vorbild, war der älteste Bruder. Uns trennten elf Jahre. Er arbeitete bei Thyssen-Krupp und übernahm früh Pflichten, die eigentlich einen Vater auszeichnen sollten. Er sorgte sich um unsere Mutter und versuchte, uns das Gefühl des familiären Zusammenhaltes zu vermitteln. Von Peter bekam ich auch meine ersten Fußballschuhe.

Den Tag werde ich nie vergessen, denn vorher kickte ich meistens in meinen Gummistiefeln oder nur in Strümpfen. Wir spielten an der Rückseite der Häuser, die an der Straße »Auf den Holln« lagen. Zwischen der Eisenbahnlinie und den Häusern gab es einen Hinterhof, auf dem wir uns nachmittags trafen. Dreckige schwarze Asche als Untergrund – aber das interessierte niemanden, Hauptsache, der Ball lief. Die Spielfläche war nicht größer als ein doppelter Sechzehnmeter-Raum. Hier wurde gekickt, was das Zeug hielt, oder nach Regeln gespielt, die heute vielleicht befremdlich klingen. »Deutschland erklärt den Krieg gegen …«, hieß beispielsweise ein Fangspiel, an das sich heute vielleicht nur noch die älteren Jahrgänge erinnern. Die Kinder wurden in Nationen aufgeteilt, dann wurde ein Name wie Holland gerufen und alle »Holländer« mussten aufpassen, dass sie nicht gefangen wurden. Denn dann wurden sie selbst zu Fängern, bis am Ende keine Nation mehr übrig blieb.

Solche Momente unbefangenen Glücks verdankte ich Peter. Trotz seines beruflichen Stresses kämpfte er bei uns zu Hause an vielen Fronten. Wobei ihn der Kampf gegen den väterlichen Terror auslaugte. Er erkrankte schließlich an einem Zungenkarzinom.

Wenn Gewalt, Hass und Missgunst das Leben und den Alltag einer Familie bestimmen, dann sind seelische Schäden programmiert. Um das zu kapieren, musste ich nicht Psychologie studiert haben. Die Folgen einer permanenten Angst vor der Unberechenbarkeit des Familientyrannen wurden mit der Zeit klar erkennbar. Nicht nur bei mir und bei Peter, sondern auch bei meinen beiden anderen Brüdern.

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Nach meiner Einschulung vor unserem Haus in der Straße »Auf den Holln«.

Volker war neun Jahre älter als ich. Während Peter mit Fußball nichts am Hut hatte, brachte Volker großes Talent mit. Obwohl er ein Lebemann war, gerne feierte und einen unheimlichen Schlag bei Frauen besaß, stand er lange Zeit auf dem Sprung zum Profi. Ihm fiel eigentlich alles zu, und das wiederum missfiel meinem Vater. Der neigte dazu, neidisch zu werden, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Dazu muss man wissen, dass Gerhard Legat als Fußballer einen guten Ruf genossen hatte. Er selbst erzählte, er habe sogar ein Angebot aus England ausgeschlagen. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Tatsächlich kam er nicht über Herne-Süd und den TuS Vorwärts Werne 09 hinaus. Kurzum, er war mit seinen Ambitionen gescheitert.

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Ein guter Fußballer, aber menschlich ein Schwein: mein Vater bei einer sportlichen Ehrung.

Anstatt nun Volker zu unterstützen, ihn zu motivieren und stolz auf die Fortschritte seines Sohnes zu sein, begann er, ihn zu deckeln. Und dies auf eine perfide Art und Weise, die nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnte. Als mein Bruder wieder einmal topfit und austrainiert vom Verein kam, sagte mein Vater: »Krempel mal deine Ärmel hoch.« Und als Volker verständlicherweise nach dem Grund fragte, erklärte er ihm: »Ich habe von anderen Leuten gehört, dass mein Sohn sich Heroin spritzt.«

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Polaroid-Schnappschüsse: meine älteren Brüder Volker und Peter sowie ich selbst zu Hause im Wohnzimmer.

Daraufhin sind bei meinem Bruder alle Sicherungen durchgeknallt. Er hatte – wie ich von ihm selbst erfuhr – als kleiner Junge einen ähnlichen Leidensweg durchmachen müssen wie ich. Auch er wurde von meinem Vater schändlich missbraucht. Das, was sich in all den Jahren aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihm heraus. Er stellte seine Sporttasche in die Ecke und schlug seinen jahrelangen Peiniger brutal zusammen, bis der nichts mehr von sich gab. Gewalt erzeugt Gegengewalt – manchmal nur mit zeitlicher Verzögerung.

Zwei Monate lebte Volker noch bei uns, dann kam die Flucht aus einer Familie, die für ihn unerträglich geworden war. Er zog aus. Einige Zeit später gab er den Fußball auf. Jemand hatte ihm offensichtlich den Spaß genommen. Ich habe damals zu meiner Mama und meinem Bruder gesagt: »Ich bring Papa um.« Nie vergesse ich diesen Tag.

Über meinen drittältesten Bruder möchte ich an dieser Stelle nicht viel sagen. Auch er hatte unter unserem Vater schwer zu leiden, aber er hat daraus andere Schlüsse gezogen als ich. Für sein Verhalten fehlt mir jedes Verständnis. Doch manchmal frage ich mich, was aus uns geworden wäre, wenn wir einen anständigen Vater gehabt hätten.

Übrigens verließen meine Brüder und ich, der als Letzter auszog, die elterliche Wohnung nicht ohne Drohung. »Mama steht unter unserem Schutz. Solltest du auch nur einmal die Hand gegen sie erheben, dann überlebst du das nicht.«

Kampf in Gummistiefeln

Es gibt ein Foto meiner Grundschulklasse 4 A, das bereits auf den ersten Blick erkennen lässt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ein Schüler sitzt da ganz rechts unten mit schmutziggelben Gummistiefeln, einem ausgeleierten, schwarz-weißen Pullover und einem Gesicht, das böse schaut und auf Konfrontation aus ist. Ein Foto, das am 13. Februar 1980 geschossen wurde. Ich war elf Jahre alt und wurde seit sechs Jahren regelmäßig von meinem Vater missbraucht.

Das Leid, der Vertrauensverlust und die Ängste, die mein Leben bestimmten, führten beim Kind und Schüler dazu, dass ich mich nur schwer integrieren ließ. Ich neigte zur Aggressivität und führte lieber ein isoliertes Dasein. Ich wollte mich immer nur körperlich behaupten gegenüber anderen Schülern.

Unsere Grundschule lag nicht weit entfernt von der Sonderund einer Hauptschule. In den Pausen mischten sich auf dem Schulhof Grund- und Hauptschüler. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen, in die ich oft verwickelt war. Ich prügelte mich fast jeden Tag.

Es gab auf der Sonderschule eine Clique, die permanent provozierte. Vor allem ich geriet immer wieder in ihren Fokus, weil ich mich von Drohungen oder Mobbing nicht einschüchtern ließ. So gab ein Wort das andere, bis schließlich ein Kreis gebildet wurde und der Zweikampf begann. Der Gegner, mit dem ich mich dann prügelte, stammte immer aus dieser einen Gruppe. Und immer war es der gleiche Platz – hinter der Turnhalle. Heute bin ich nicht stolz darauf. Damals schon, denn ich gewann jeden Zweikampf.

Mein Verhalten seinerzeit, mein Einzelgängertum, die Aggressivität – all das zeigte mir später, dass irgendetwas von der Brutalität meines Vaters in mir steckte. Ich habe das jahrelang verflucht und tue es noch heute. Immer wieder kamen diese aggressiven Impulse in mir hoch. Irgendwann habe ich mir gesagt, diese Art zu leben ist abscheulich. Nach und nach änderte ich mich. Heute versuche ich, liebenswürdig und nett zu sein, und ich denke, dass ich es geschafft habe. Manchmal aber, in Stresssituationen, muss ich mich zwingen, die Kontrolle zu behalten. Das passiert hin und wieder – aber weil ich heute die Gründe dafür kenne, finde ich schnell wieder in die Spur.

Meine Mutter Eugenie, mein wichtigster Halt in der grausamen Atmosphäre einer Familie, die keine war, musste gegenüber den Lehrern Rede und Antwort stehen. Sie sollte erklären, warum ich so war. Kein leichtes Unterfangen für sie, die von diesem Unmenschen von Ehemann selbst wie ein Tier behandelt wurde. Also bemühte sie sich, so nahe wie möglich an die Wahrheit zu gehen, ohne den Hauptgrund zu nennen. Sie sprach von häuslicher Gewalt, der Angst vor dem Terror und den Alkohol-Eskapaden meines Vaters.

Letztere waren ja ohnehin bekannt in unserer Straße. Dort hatte ich täglich mit Spott zu leben. Wenn ich sogar im Sommer mit den Gummistiefeln spielte, fragten mich andere Jugendliche: »Hat dein Vater, der Säufer, kein Geld für deine Schuhe?« Kinder sind oft nicht nur naiv, sondern können auch ganz schön brutal sein. Ich antwortete mit Schlägen. Ich ähnelte einem Raubtier, das in die Ecke gedrängt wird und um sich beißt.

Manchmal – so merkwürdig das auch klingt – half ich auch anderen Kindern aus bedrohlichen Situationen. Wenn sie angegriffen wurden, stellte ich mich schützend vor sie. Eine Maßnahme, die aufgrund meiner körperlichen Präsenz schon früh fruchtete. Heute weiß ich, dass es häusliche Muster waren, die mich dazu brachten. Ich »lernte« im Elternhaus, dass du ausgeliefert bist, wenn dich niemand schützt. Nur wenn meine älteren Brüder da waren, kam es nicht zum Missbrauch. Auf der anderen Seite »begriff« ich, dass körperliche Stärke hilft, wenn du einen Machtkampf gewinnen willst. Du musst nur hart genug zuschlagen. Diese beschissenen Schwarz-Weiß-Muster verdanke ich meinem Peiniger.

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Weihnachten bei der Familie Legat. Wie ein Fest der Freude wirkt es nicht – und es war auch keines. Als diese Aufnahme gemacht wurde, war ich sieben Jahre alt und der Gewalt meines Vaters ausgeliefert.

Was auf der Grundschule begann, setzte sich in der Hauptschule fort. Der Name Legat war dort schon berüchtigt. Dafür hatte einer meiner älteren Brüder gesorgt. Doch die Lehrer, dies erfuhr ich später, glaubten, dass ich aufgrund meines fußballerischen Talents charakterlich anders sei. Nun, ich stellte ihre Geduld auf eine harte Probe.

Doch tatsächlich: Je mehr sich abzeichnete, dass ich vielleicht als Profifußballer eine Chance bekommen sollte, desto besser wurde es mit der Zeit. Ich stand oft in der Zeitung und bekam auch auf dem Schulhof meine ersten Fans. Durch den Fußball, das regelmäßige Training und die Spiele ließ mein aggressives Verhalten nach. Ich schloss die Schule schließlich in der zehnten Klasse mit der Sekundarstufe eins ab.