cover
cover

Con le tue finestre aperte sulla strada
e gli occhi chiusi sulla gente

Fabrizio De André

1

Chiara steht am Fenster. In der Ebene fährt ein weißer Zug nach Süden, weiter hinten ragen die Berge bläulich aus dem Dunst, und der Westwind trägt ein flaches Dröhnen von der Autobahn herüber.

Jeden Dienstag steht sie hier, schon den ganzen Juni hindurch, und erlaubt ihrem Blick das Fliegen. Über Dörfer, Städte, Felder, Strommasten, Silos und Kirchtürme, sie atmet die Weite ein und bedauert nur, dass es mit dieser Aussicht und diesen Dienstagen in zwei Wochen vorbei sein wird, wenn Leonie aus New York heimkehrt und sich ihrer Kundschaft wieder selbst annehmen kann.

Zehn Wohnungen putzt sie, wäscht und bügelt, und für zwei alte Leute kauft sie ein, so kommt sie im Schnitt auf sechs Stunden am Tag und fünf Tage in der Woche, was kein Vermögen einbringt, aber ausreicht, um sich frei zu fühlen in dem provisorischen Leben, das Leonie als einziges erträglich scheint. Sie behauptet, sofort Fieber zu bekommen, wenn alles nicht am nächsten Tag ganz anders werden kann.

Chiara ist eingesprungen, solange Leonie weg ist, das Angebot, oder besser die Bitte, kam im richtigen Moment: Chiara musste weg von dort, wo sie lebte, und hier wird niemand nach ihr suchen.

Der weiße Zug ist jetzt verschwunden, das flache Dröhnen ebenso, denn Chiara hat das bodentiefe Fenster geschlossen, ihren Blick von der Landschaft ab- und den Dingen auf dem Schreibtisch zugewandt, die sie jetzt der Reihe nach zur Seite aufs Regal umsiedelt, bis die Tischplatte leer ist und mit einem feuchten Tuch gewischt werden kann.

Dann stellt und legt und lehnt sie alles wieder genauso hin, wie es war, bis das wohlkomponierte Chaos aus Papieren, Figürchen, Utensilien und Notizzetteln denselben Anblick bietet wie zuvor. Am Anfang, vor vier Wochen, hat Chiara in der Küche und hier im Arbeitszimmer Handyfotos gemacht, aber schon bei der Kontrolle gemerkt, dass sie die nicht brauchte – alles fand seinen Ort wieder, als gäbe es nur diesen: Briefwaage, Lesebrille, Stiftdose, Aschenbecher, Stempelkissen, Telefon, Uhr, Zinnsoldaten, Spielzeugauto, Murmeln und Tintin wurden wie von Magneten angezogen an ihre jeweils einzigen richtigen Plätze.

In den anderen Wohnungen gibt sich Chiara nicht solche Mühe, dort landet alles, was sie in die Hand nimmt, einfach irgendwie etwa wieder dort, wo es war – es ist egal, den Bewohnern und Chiara, das sieht sie an der Art, wie die Sachen stehen. Nicht wie hier einander zugewandt, orchestriert in einer leisen und lustigen Harmonie, sondern jedes einzelne Ding mürrisch und nüchtern, nur seinem Gebrauch oder dekorativen Zweck verpflichtet. Es ist wie der Unterschied zwischen einem Versandhauskatalog und einem Märchenbuch. Oder zwischen Mondrian und Kandinsky.

Irgendwas ist in dieser Wohnung, das Chiara sich fühlen lässt, als richte sie sich innerlich auf, als atme sie tiefer ein und erfrische sie der Sauerstoff, strahle aus von innen bis unter die Haut, belebe Muskeln und Sehnen, lasse sie wach werden, als habe sie bisher gedöst.

Das ist natürlich alles Einbildung. Die Wohnung gefällt ihr, mehr ist da nicht, kein Geist, keine Seele, nur Dinge, die meisten schön auf ihre Art, die anderen geliebt, wie sie glaubt, zumindest geachtet für das, was sie tun, so wie die Gewürze auf dem Wandregal oder die Gästepantoffeln im Schrank.

Den Wohnungsbesitzer kennt sie nicht. Er legt jedes Mal vierzig Euro auf die Kommode im Flur unter den Sockel einer kleinen Büste. Er scheint Schriftsteller zu sein, zumindest schreibt er irgendwas, denn jeden Dienstag liegt ein neuer Stapel Papier ausgedruckt auf dem Schreibtisch, darauf Titel und Datum – es sind immer um die zehn, zwölf Seiten, gezählt hat Chiara sie hin und wieder, aber gelesen nicht.

Den Namen auf dem Klingelschild hat sie gegoogelt, aber nur Zahnärzte, Handwerker, Vereinsfunktionäre und einen Professor gefunden, auch bei den Internetbuchhändlern existiert er nicht, also schreibt er unter Pseudonym oder wird nicht veröffentlicht. Oder er lebt unter Pseudonym. Vorden. Ohne Vornamen.

Chiara mag diesen Mann, obwohl sie ihn nicht kennt. Sie hat nicht einmal eine Vorstellung von seinem Aussehen, nur, dass er schlank sein muss, weil die Sachen in seinem Kleiderschrank alle in Größe fünfzig sind. Auf den Fotos an den Wänden seines Arbeitszimmers taucht kein Mann so häufig auf, dass sie sich sicher sein könnte, es handle sich um ihn, und die Schubladen hat sie nicht durchsucht nach einem Ausweis, Führerschein oder sonstigen Dokument, auf dem sich Name und Gesicht beieinanderfinden mussten.

Er lebt allein, zumindest hier in dieser Wohnung, in die er donnerstagnachts kommt und die er sonntagabends wieder verlässt. Das weiß Chiara von Leonie, für die der Mann natürlich kein Phantom ist, weil er sie engagiert und eingewiesen hat. Vielleicht hat er eine Familie von Montag bis Donnerstag, aber das ist weniger wahrscheinlich, als dass er einen Beruf hat, dem er an diesen Tagen nachgeht, eine zweite Wohnung, in der alle Dinge seines täglichen Bedarfs noch einmal stehen, von der Spülmaschine bis zum Rasierwasser, vielleicht sogar ein Zinnsoldat oder eines dieser Kästchen aus Acryl.

Das Arbeitszimmer macht sie immer als Letztes vor dem Bad. Nachdem sie alles abgestaubt und gesaugt hat, Computerbildschirm, Tastatur und Drucker mit Glasreiniger zum Glänzen gebracht, dann den Boden gewischt und das Fenster wieder geöffnet, verlässt sie das Zimmer und geht ins Bad, lässt Wasser in die Wanne, gibt ein paar Tropfen von ihrem mitgebrachten Badeöl dazu, zieht sich aus und lässt sich vorsichtig in das etwas zu heiße Wasser sinken.

~

Schon beim ersten Mal, zusammen mit Leonie, als die ihr alles zeigte und erklärte, weil der Hausherr nicht da sein würde, war dieser Gedanke wie eine Biene um Chiaras Kopf geschwirrt: Hier würde ich bleiben.

Und gleich am zweiten Dienstag hat sie getauscht und diese Wohnung auf den Nachmittag gelegt, so kann sie bis zum Abend bleiben und sich einbilden, sie wohne hier und putze für sich selbst.

An diesem Tag hat sie auch in einem Hungeranfall die Tafel Schokolade aus dem Kühlschrank aufgegessen, sich vorgenommen, sie gleich am Mittwoch zu ersetzen, es dann aber vergessen, weil alles durcheinandergeriet – die alte Dame, bei der sie morgens putzt und für die sie am späten Vormittag einkaufen geht, hatte einen Schwächeanfall, wurde mit dem Notarztwagen abgeholt, brauchte später im Krankenhaus Nachthemd, Zahnbürste, Kosmetika, Trost und Zuspruch, sodass der Termin vom Nachmittag verlegt werden musste und Chiara es gerade noch so schaffte, für sich selbst ein Brot einzukaufen, bevor der Bäckerladen schloss.

Die Schokolade fiel ihr erst wieder am Dienstag darauf ein, als zwei Tafeln im Kühlschrank lagen. Auf der oberen klebte ein gelber Zettel mit der Aufschrift: Bitte eine für mich übrig lassen. Darunter war ein Lächelgesicht gezeichnet, ein Kreis, zwei Punkte, ein gebogener Strich. Sie rührte die Schokolade nicht an, wusste auch nicht, wie sie sich entschuldigen sollte, überging diese nette Geste einfach, und am dritten Dienstag stand eine kleine Schale mit Obst, Gummibärchen und wieder dieser Tafel Schokolade auf der Spüle. Diesmal war auf dem gelben Zettel nur das Lächelgesicht, kein Text. Und diesmal aß sie die Schokolade. Und begann, den Mann zu mögen.

~

Die Putzfrau in der Badewanne ist ein Klischee. Das stört Chiara nicht, denn was ist nicht alles Klischee und macht trotzdem Vergnügen, niemand sieht sie und kann ihr diese kleine Selbstbelohnung verübeln, und wer in seinem Leben jedes Klischee auslassen wollte, wäre ein verkrampfter und langweiliger Mensch. Küsse in der Geisterbahn, Rührung beim Anblick von Tierkindern, Seufzer in Venedig – all das wird nicht falsch dadurch, dass man es mit vielen teilt.

Am liebsten würde sie jetzt einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Wasser kalt geworden ist. Und am liebsten würde sie bis zum Sonnenuntergang hierbleiben, sich eins der Hemden aus dem Wäschekorb nehmen und überziehen, in einen der beiden Sessel lümmeln und ein Buch lesen. Oder Musik hören.

Sie könnte nackt durch die Wohnung spazieren, das Haus steht frei, die zweite Wohnung darin wird von den Besitzern anscheinend nur in den Ferien genutzt, sie hat noch niemanden gesehen, und niemand würde sie sehen. Sie tut es nicht, denn ein Bad pro Woche ist Übergriff genug – mehr gestattet sie sich nicht. Im Vertrauen dieses Mannes liegt keine Herablassung, jedenfalls interpretiert Chiara keine hinein, die Schokolade und der Obstteller weisen auf Stil hin, so wie die Bilder und Bücher und Möbel. Dieses Vertrauen und diesen guten Stil wird sie nicht missbrauchen. Auch wenn der Herr Vorden das nie erfahren würde.

Sie macht das Bad sauber, ohne Hast und in Unterwäsche – sie zieht ihre Putzklamotten nicht wieder an, eine dunkelblaue Jogginghose und ein etwas helleres T-Shirt, das mal teuer gewesen, aber nach der ersten Wäsche aus der Form geraten ist. Das Tageslicht reicht noch aus für die ganze Prozedur, und erst als sie fertig ist, Putzmittel, Lappen und Papiertücher in den Eimer gelegt und sich die Kleider für draußen, Jeans und Sweatshirt, angezogen hat, öffnet sie das Fenster, lässt die Feuchtigkeit hinaus und schaltet das Licht ein, um sich am neuen Glanz der kleinen weißen Fliesen, des Porzellans und der schlanken Armaturen zu erfreuen. Ihr Werk.

Herr Vorden ist nicht nur so nett, ihr Süßigkeiten hinzustellen, er achtet offenbar auch darauf, keine Haare in den Abflüssen von Dusche und Waschbecken zu hinterlassen, selbst den Müll bringt er raus, bevor er das Haus verlässt.

Sie hängt die Lappen zum Trocknen auf die kleine Heizung im Gästeklo, stellt Eimer und Gerätschaften in die Speisekammer, geht noch einmal durch alle Räume, um zu kontrollieren, dass sie nichts liegen gelassen oder durcheinandergebracht hat, dass alle Fenster zu sind und die Heizung am Zentralthermostat auf neunzehn Grad steht, dann zieht sie ihren Dufflecoat an, nimmt ihre Tasche, geht aus der Tür und schließt ab.

Sie will eben den Roller starten, als ein Polizeiauto vor die Einfahrt rollt. Eine Polizistin und ein Polizist steigen aus und kommen ihr mit ernsten Gesichtern entgegen.

»Was tun Sie hier?«, fragt der Polizist.

»Ich habe sauber gemacht. Wie jeden Dienstag«, sagt Chiara und gibt sich Mühe, ihren Ärger über diese Peinlichkeit zu verbergen. Sie greift in ihre Tasche und holt den Schlüssel hervor.

»Hier«, sagt sie, »der Schlüssel. Den hätte ich ja wohl eher nicht als Einbrecherin, oder?«

»Dürften wir bitte trotzdem Ihren Ausweis sehen?«, sagt der Polizist, und seine Kollegin fügt hinzu: »Und einen Blick in Ihre Tasche werfen?«

Jetzt gelingt es Chiara nicht mehr, ihren Ärger zu kaschieren, sie schüttelt den Kopf und tut, was von ihr verlangt wird, zieht den Ausweis aus dem Geldbeutel und hält ihre Handtasche offen vor die beiden hin.

»Darf ich?«, fragt die Polizistin und wartet Chiaras Antwort nicht ab, sondern nimmt die Tasche an sich, kramt darin herum und studiert den Inhalt. Ihr Kollege referiert derweil die Daten auf dem Ausweis, als seien das wichtige Indizien: »Chiara Mancini, wohnhaft in Castelnuovo di Porto, Via Sant'Antonio vierzehn.« Er spricht ihren Nachnamen als Mankini aus, und auch alles andere klingt furchtbar, weil er es phonetisch eindeutscht. Vermutlich wundert er sich, einen deutschen Ausweis mit Namen und Adresse auf Italienisch vor Augen zu haben, aber er sagt nichts dazu.

Mittlerweile hat die Frau ihre Untersuchung des Tascheninhalts beendet und deutet mit einem Kopfschütteln und Schulterzucken an, dass nichts Belastendes dabei herausgekommen ist, gibt die Tasche zurück und schaut betont selbstsicher, in Wirklichkeit aber verlegen, zur Seite über die Wiese ins Leere.

Vom Nachbarhaus kommt jetzt ein älteres Ehepaar heran. Sie versuchen nicht, ihre Neugier zu verbergen, beeilen sich, um noch etwas von der Festnahme mitzubekommen – sie müssen die Polizei alarmiert haben, weil ihnen offene Fenster oder der Roller vor dem Haus aufgefallen sind. Chiara ruft ihnen zu: »Wenn Sie gute Nachbarn wären, wüssten Sie, dass hier jemand sauber macht.«

Die Leute schauen indigniert weg und beschleunigen ihre Schritte wieder, um wie ganz normale Spaziergänger zu wirken. Die Polizistin spricht sie dennoch an: »Haben Sie angerufen?«

»Ja«, sagt die Frau, während der Mann aussieht, als wolle er im Erdboden versinken.

»Danke«, sagt die Polizistin. Nichts weiter. Die Herrschaften sind entlassen.

Der Polizist hat sich inzwischen ins Auto gesetzt, hält sich Chiaras Ausweis vor die Nase und telefoniert. Sie hat ihre Tasche wieder und nimmt sich eine Zigarette, ihr Feuerzeug, ein billiges gelbes, durchsichtiges, das blinkt, wenn man es benutzt. Sie zündet die Zigarette an, obwohl sie weiß, dass das schuldbewusst aussieht.

Endlich steigt der Polizist wieder aus, sagt: »Alles in Ordnung so weit«, gibt ihr den Ausweis, und bevor sie sich fragen kann, was er mit »so weit« meinen könnte, sagt er noch: »Wo wohnen Sie?«

»Bei meiner Freundin Leonie Wildenhain im Amselweg. Ich bin zu Besuch hier.«

»Aber Sie arbeiten doch«, sagt die Frau, die sich offenbar noch immer profilieren will.

»Ja und?«

»Schon gut.« Der Polizist hat genug. »Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie behelligt haben. Hier im Ort wird manchmal eingebrochen, und wir müssen solchen Anrufen natürlich nachgehen.«

»Klar«, sagt Chiara, ignoriert die Frau, lächelt dem Mann zu, setzt ihren Helm auf und startet den Roller, noch bevor die beiden in ihrem Auto sitzen, fährt an ihnen vorbei, an dem alten Ehepaar, das seinen Scheinspaziergang jetzt beendet hat und zurück zum Haus strebt, und biegt mit vor lauter Ärger etwas zu großem Schwung um die Kurve.

Als sie das Ausbrechen des Rollers abfängt und ohne Gas bergab rollt, fällt ihr ein, dass die CD, die sie zum Nasswischen eingelegt hat, Revolver von den Beatles, noch immer im CD-Player liegt, die Hülle leer in der Schublade, in der alle CDs verstaut sind. Das ist kein Drama, aber es verträgt sich nicht mit Chiaras Wunsch, zumindest in dieser Wohnung perfekt zu sein.

Der Herr Vorden wird vielleicht denken, er habe sie selbst im Player vergessen, aber vielleicht auch nicht. Er ist sehr ordentlich, eher sogar zwanghaft, er ist der Typ, der die Gewürzdöschen mit dem Schild nach vorn abstellt, die Bücherreihen im Regal mit der Handkante begradigt und auf jeden Fall eine CD nach dem Hören wieder in die Hülle legt.

Einen Moment überlegt sie, ob sie zurückfahren und den Fehler korrigieren soll, aber dann müsste sie noch einmal an den Polizisten vorbei, und darauf hat sie keine Lust. Es sähe vielleicht aus, als wollte sie irgendwelche Spuren verwischen.

~

Revolver war ein Lieblingsalbum von Chiaras Mutter. Abwechselnd mit Pearl von Janis Joplin und Disraeli Gears von Cream lief es mindestens einmal die Woche in Chiaras Kindheit so laut, dass man fürchtete, die Nachbarn würden einschreiten, was aber wundersamerweise nie geschah, denn sie mochten Chiaras Mutter und verziehen ihr die hippiehaften Anwandlungen.

In dem kleinen schwäbischen Dorf nahe Sindelfingen, dessen Fachwerkfassaden damals gerade wieder freigelegt wurden, wenn sie nicht klotzigen Waschbetonbauten gewichen waren, wohnten sie zwischen Bäckerei und Heißmangel in einem Haus mit vier Zimmern und Balkon, von dem aus man den Marktplatz sehen konnte, wenn man sich ziemlich weit übers Geländer lehnte.

Gianluca, ihr Vater, arbeitete »beim Daimler«, und ihre Mutter Evelyn, die im Dorf geboren worden war und von allen Evi genannt wurde, war Hebamme gewesen, bis Chiara kam und ein Jahr darauf ihr Bruder Andrea, den man in der Öffentlichkeit Andreas nennen musste, weil sein Name hierzulande für Mädchen reserviert war.

In den Achtzigerjahren mit ihren Friedensmärschen, Fußgängerzonen und Dritte-Welt-Läden war das Misstrauen gegenüber Fremden ebenso Vergangenheit wie die Eternitplatten an den Hauswänden oder Vorbehalte gegen eine Ehe mit einem »Katholischen«, und Chiara, die von allen nur Kiki genannt wurde, hatte Freundinnen, fühlte sich wohl, empfand sich als Schwäbin, obwohl sie mühelos Italienisch mit ihrem Vater und seiner manchmal zu Besuch kommenden Verwandtschaft sprach, aber das Kindheitsidyll zerriss, als Evi der Familie eröffnete, sie gehe nach Indien in einen Aschram, die Kinder seien groß genug, um auf sich selbst aufzupassen, und jetzt sei eben sie mal dran, sich zu verwirklichen und ihrem Leben eine neue spirituelle Tiefe zu geben.

Der Vater hatte mit zuerst eisigem Gesicht, dann immer röter und erregter gefragt, wer der Kerl sei, die Mutter hatte weiter von Spiritualität und Suche und Erweiterung ihres Selbst geredet, Andrea und Chiara hatten zugehört und zugeschaut, ohne recht zu wissen, was sie fühlten, wie lange ihre Mutter wegbleiben wollte, was sie mit spiritueller Tiefe meinte und ob man sich nun auf die sturmfreie Bude freuen oder Angst um die Mutter haben sollte, die vielleicht in Indien verloren gehen würde.

Natürlich steckte ein Kerl dahinter, ein Zahnarzt, der sich die Auszeit leisten konnte und Evi mit seinen blauen Augen schon seit Monaten zum Träumen gebracht hatte.

Chiara war zwölf und Andrea elf, als ihr Vater eine Stelle in der Mercedes-Werkstatt in Rom antrat und sie mit Sack und Pack und Revolver, Pearl und Disreali Gears dorthin zogen.

Als Evi eineinhalb Jahre später in roten Gewändern und mit einem Punkt auf der Stirn zurückkam, wurde sie wieder Hebamme, aber sie blieb nicht im Dorf, weil man ihr nicht verzieh, dass sie ihre Kinder im Stich gelassen hatte. Sie zog nach Ludwigsburg in eine Osho-Wohngemeinschaft, die sich aber bald auflöste und die Wohnung Evi und einer Sozialpädagogin überließ.

Gianluca hatte nie die Scheidung angestrebt, dafür war er zu katholisch, und nach einiger Zeit kam Evi in das kleine Dorf bei Rom zu Besuch, blieb manchmal eine Woche, manchmal auch zwei, und schaffte es, ihren Kindern eine Art Freundin zu werden. Eine Mutter wollten sie nicht mehr. Das war vorbei.

~

Vor Leonies Haus sitzt Markus und raucht. Chiara verspürt den Impuls, einfach weiterzufahren, zu winken und ihm irgendeine Ausrede zuzurufen, weshalb sie auf keinen Fall absteigen und mit ihm reden könne, aber das wäre lächerlich – die Straße ist eine Sackgasse, und eine glaubwürdige Ausrede gibt es nicht. Sie bremst, steigt vom Roller und macht den Motor aus.

»Hi«, sagt Markus.

»Schon Feierabend?« Chiara weiß, dass das eine blöde Frage ist – er säße nicht hier, wenn er nicht Feierabend hätte, aber alles scheint ihr besser als ein Hi, und auf Hallo ist sie einfach nicht gekommen.

Markus ist Schreiner. Und er ist Leonies Freund. Und er ist Chiara nicht willkommen. Sie mag ihn nicht. Er sieht aus wie Johnny Depp, ist höflich und nett, es gibt nichts, was sie ihm vorwerfen könnte, aber sie mag ihn nicht.