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Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung des Nationalen Kulturfonds Luxemburg.

Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © age fotostock/José Fuste Raga

ISBN 978-3-7117-1054-3

eISBN 978-3-7117-5289-5

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Georges Hausemer, 1957 geboren, pendelt zwischen Luxemburg-Stadt, einem Dorf in der Nordeifel und San-Sebastián. Seine Reisereportagen erscheinen hauptsächlich in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sowie in verschiedenen luxemburgischen und deutschen Magazinen. Für sein Gesamtwerk wurde er 2017 mit dem Batty-Weber-Preis ausgezeichnet. Im Picus Verlag erschienen seine Lesereisen Andalusien, Luxemburg, Thailand, Baskenland und Georgien. Georges Hausemer verstarb im August 2018.

www.georgeshausemer.com

Georges Hausemer

Lesereise Georgien

Zum Tschatscha in den zweiten Himmel

Picus Verlag Wien

Inhalt

Hoch auf den Milliardärsberg, hinab zum Meer

Zur Einstimmung: Eine Umrundung von Tbilissi

Die betörenden Düfte von Tbilissi

In der unterirdischen Bäckerei gegenüber der Zioni-Kathedrale

Nachtzug nach Batumi

Eine Eisenbahnfahrt von Tbilissi ins südlichste Ferienparadies der ehemaligen Sowjetunion

Was vom Urwald übrig blieb

In der kolchischen Tiefebene: Wo Jason und die Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies an Land gingen

Im kleinen Bett des großen Diktators

Auf den Spuren von Jossip Wissarionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt unter dem Kampfnamen »Der Stählerne«

Der Königinnenskandal

Von Mestia nach Uschguli, in das am höchsten gelegene Dorf Europas (wenn man Swanetien und den Großen Kaukasus noch zu Europa zählt)

Die Rollfeldflaute

Auf dem Queen Tamar Airport in Mestia, einem der kuriosesten – und überflüssigsten – Flughäfen der Welt

Das Friedhofsbesäufnis

Über Ruisi werden die seltsamsten Geschichten erzählt, und alle stimmen – nüchtern betrachtet

Mehr als ein kaukasisches Ja-Wort

In Stepantsminda hat man nicht nur einen fantastischen Blick auf den steinernen Riesen mit der kalten Mütze aus Schnee

Der Lehrerinnenacker

In der wirtschaftlich angeschlagenen Kleinstadt Surami schmeckt sogar süßes Brot bitter

Schilda liegt auch im Kaukasus

In einem Dorf, in dem die Schinken aus Holz sind und die Pferde den Friedhof besuchen

Die Tuschentaufe

Auf der ziemlich holprigen Strecke von Pschaweli hinauf nach Omalo

Tourismuspionier mit Entspannungskette

Von abgestürzten Fassaden und tapferen Kämpfern gegen Politikerwillkür

Die Mütter von Bakuriani

An Orten, deren Glanzzeiten glorreich verblasst sind

Gaumardschos!

In Kachetien, auf der Suche nach der Wahrheit des georgischen Weins

Alles nur halb so wild

In den historischen Dampfbädern des Abanotubani-Viertels von Tbilissi

Das zweite Leben des Jumber Lejawa

Zu Besuch bei einem berühmten Georgier, der lange nicht zu Hause war

Dank

Hoch auf den Milliardärsberg, hinab zum Meer

Zur Einstimmung: Eine Umrundung von Tbilissi

»Und sie sprachen von dem im Kaukasus und am Schwarzen Meer gelegenen Land als einer Art zweitem Himmel. Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hoffen, wenn sie ein sehr anständiges und tugendhaftes Leben führen, kommen sie nach ihrem Tod nicht in den Himmel, sondern nach Georgien.«

JOHN STEINBECK/ROBERT CAPA,

Russische Reise, 1948

Pünktlich stehen sie auf der Matte: Dato, der Fahrer, und Giorgi, mein Dolmetscher und Guide – in Georgien spricht man sich mit dem Vornamen an, auch wenn man sich noch respektvoll siezt. »Dila mschvidobis« – Guten Morgen! Schon habe ich meine ersten beiden georgischen Wörter gelernt.

Es ist unser erster gemeinsamer Reisetag. Auf dem Programm steht der Großraum Tbilissi. Wir wollen in jene Außenbezirke der georgischen Hauptstadt, die nicht so leicht zu Fuß zu erreichen sind. Und die von den meisten Besuchern schlichtweg aus Zeitmangel gemieden werden.

Die Fahrt beginnt am Maidan-Platz am Rand der Altstadt. Offiziell ist der ehemalige Platz der Tartaren und spätere Marktplatz nach Wachtang Gorgassali benannt, dem König und Stadtgründer hoch zu Ross, der vom anderen Ende der Metechi-Brücke und zu Füßen der Metechi-Kirche herüberschaut. Ungerührt betrachten Reiter und Pferd die Herden von Autos, Kleintransportern und Bussen vis-à-vis. Der Platz, einst der bedeutendste Basar im gesamten Kaukasus, ist auch heute noch voll und laut. Doch sogar das Blechchaos hat einen gewissen Charme.

Zumal die Sonne scheint, die Menschen friedlich sind und lachen. Ein herrlicher Frühlingstag kündigt sich an. Es herrscht eine helle, heitere Atmosphäre, wie in der Toskana, in Andalusien vielleicht, wenn die Luft noch nicht kocht vor lauter Hitze. Wie vor vierzig, fünfzig Jahren an den Küsten rund ums Mittelmeer möglicherweise, als diese noch nicht vom Massentourismus überflutet waren.

Duftet, glänzt, leuchtet so Tbilissi? Mit seinem mediterranen Flair und seinen unzähligen orientalischen Einsprengseln, wie es bereits von so vielen illustren Besuchern der einst von Mongolen, Persern, Byzantinern, Arabern und Russen beherrschten Stadt beschrieben und gerühmt wurde? Schon Alexandre Dumas ist in der Hauptstadt des angeblich seltsamsten Landes im damaligen Europa glücklich gewesen. »Wie gut ich in Tiflis arbeiten konnte«, schreibt der gefeierte Autor des »Grafen von Monte Christo« und Erfinder der »Drei Musketiere« 1861 in seinen »Impressions de voyage en Russie«, »es war eine der schönsten und ungestörtesten Arbeitsperioden meines Lebens.«

Wir fahren ein kurzes Stück am rechten Ufer des Mtkwari-Flusses entlang. Ich sammle erste Erfahrungen mit dem rabiaten Stil der georgischen Autofahrer. Dann geht es hoch, Richtung Narikala-Festung. Ein Schild weist den Weg zum Botanischen Garten. Doch wir wollen noch weiter nach oben, auf den Gipfel des Mtatsminda, dem Hausberg von Tbilissi, der wortwörtlich übersetzt »heiliger Berg« heißt. »Aber eher Milliardärsberg genannt werden müsste«, findet Dato. An seinen Flanken haben sich etliche wohlhabende Georgier niedergelassen, an prominentester Stelle der reichste von allen: Bidsina Iwanischwili, 1956 als Sohn armer Bauern geboren, im postsowjetischen Russland durch kluge und offenbar sogar legale Geschäfte zu viel Geld gekommen und von Oktober 2012 bis November 2013 georgischer Regierungschef. In einer ganz bestimmten Kurve, die unser Chauffeur natürlich bestens kennt, halten wir an, um den idealen Blick auf das futuristische Anwesen zu werfen. Fünfzig Millionen Dollar soll das Ensemble aus Glas und Stahl gekostet haben, das 2007 nach Plänen des japanischen Architekten Shin Takamatsu erbaut wurde, über einen eigenen Landeplatz für Helikopter verfügt und aus der Ferne aussieht wie das in die Jahre gekommene Verwaltungsgebäude eines Atomkraftwerk-Betreibers, manche sagen: wie die Kulisse eines James Bond-Films.

Andere Blicke vom Straßenrand aus sind erfreulicher, wenn auch nicht immer. Tbilissi liegt einem zu Füßen, auseinandergefaltet wie eine Landkarte. Irgendwo kräht ein Hahn. Im Vordergrund der 1,2-Millionen-Einwohner-Stadt, wie gesagt, der Iwanischwili-Protzbau; rundherum Berge, die sie förmlich einkesseln, wie schon bei Alexander Puschkin nachzulesen ist: »Tiflis liegt in einem Tal der Kura, das von felsigen Bergen umgeben ist. Die Berge halten von allen Seiten die Winde auf. So bringt die Sonne die regungslose Luft zum Kochen.«

Ganz weit hinten eine erste Ahnung vom Großen Kaukasus; davor einige lange Reihen von Hochhäusern. An einigen wenigen, ungewöhnlich klaren Tagen im Jahr, behauptet Dato, könne man sogar den hundertfünfzig Kilometer entfernten Gipfel des Kasbek sehen, der auch noch »Berg der Völker« genannt wird. Dort sind nämlich über fünfzig Sprachen beheimatet, mehr als weltweit irgendwo sonst auf so kleinem Raum.

Doch dies ist kein solcher Tag. Stattdessen zeigt sich die Metropole in ihrer ganzen grün gesprenkelten Pracht, mit Parks, kleinen Wäldchen, Zypressen, Platanen. Mittendrin der Mtkwari, den die Russen, wie Puschkin, Kura nennen und der sich in weiten Schleifen durch die Stadt windet. An seinen Ufern die neue, extravagante Architektur, die noch Micheil Saakaschwili, Iwanischwilis Vorgänger, den Hauptstadtbewohnern bescherte – nicht immer zu deren Begeisterung. Hier die 2012 eingeweihte Verwaltungszentrale, die mit ihrem weiß gestrichenen Blätterdach an eine Gruppe von Pilzen erinnert; dort der in undefinierbarem Mischstil konzipierte Präsidentenpalast, dessen Kuppel jener auf dem Berliner Reichstag täuschend ähnlich sieht; davor, den Fluss in einer Sinuskurve überwindend, die 2010 eingeweihte Friedensbrücke mit dem gläsernen Dach, die auf eine Art geschwungen ist, dass sie im Volksmund den unmissverständlichen Namen »Always Ultra« trägt. Unweit davon die neue Ausstellungsund Konzerthalle des italienischen Architektenpaars Massimiliano und Doriana Fuksas, die nicht wenige Betrachter an überdimensionale Kanalrohre denken und dabei leicht erschaudern lässt. Etwas entfernter das Fußballstadion von Dynamo Tiflis. Und mittendrin im ungebremsten Architekturmix die erst 2007 erbaute Tsminda-Sameba-Kathedrale mit ihrem goldenen Dach, eine der größten orthodoxen Kirchen weltweit, auch sie, wegen der enormen Baukosten, nicht unumstritten. Auf der rechten Seite des Flusses und längst von allen akzeptiert: das im pseudo-maurischen Stil erbaute Rathaus von 1880 sowie der Freiheitsplatz mit der Säule und der Statue des Drachentöters St. Georg. Auf ihn mündet die nach dem georgischen Nationaldichter Schota Rustaweli benannte Prachtstraße, die sich vor keinem Boulevard in Paris, keiner Avenida in Madrid, keiner Flaniermeile in London oder Rom verstecken muss.

Aus der Distanz hingegen leider nicht deutlich zu erkennen: all die prächtigen Jugendstilvillen und klassizistischen Stadtpalais, die Grand Hotels, Theater, Opern- und Konzerthäuser, die ehemaligen Karawansereien, die Galerien, Moscheen und Synagogen, die am Landhausstil angelehnten Wohnhäuser samt ihren mit Holzschnitzereien dekorierten Balkonen, von denen in Tbilissi ebenfalls noch ein paar stehen, sofern sie nicht inzwischen mehr als fragwürdigen Prestigebauten weichen mussten.

Weiter geht’s. Vorbei an den Residenzen des 2008 unter mysteriösen Umständen verstorbenen georgischen Milliardärs Badri Patarkazischwili und der ehemaligen Tennisspielerin Leila Mesri, die 1991 einmal auf Platz zwölf der Weltrangliste stand. Die hoch auf dem Berg thronenden Wahrzeichen der Stadt scheinen zum Greifen nah: der weiß-rot gestrichene Fernsehturm aus dem Jahr 1972, der seit 2005 in der Dunkelheit glitzert und funkelt wie ein ewiger Christbaum; das nachts ebenfalls beleuchtete Riesenrad, das sich unaufhörlich im Mtatsminda-Volkspark dreht; die »Mutter Georgiens«, eine rund zwanzig Meter hohe Statue aus Holz und silbriger Metallfolie, die in der einen Hand eine Weinschale hält, um die Gäste des Landes zu begrüßen, und in der anderen ein Schwert, mit dem sie unerschrocken den Feinden ihrer Heimat entgegentritt.

Apropos Heimat: Ob ich eigentlich schon wüsste, wie die Georgier zu ihrem Land gekommen sind, fragt Giorgi, den ich fortan Gio nennen werde. Klar, schließlich kann man die entsprechende Geschichte überall nachlesen. Und wer sie nicht spätestens am zweiten Tag nach seiner Ankunft von einem Einheimischen erzählt bekommt, muss schon überaus kontaktscheu sein. Besagter Legende nach rief Gott, nachdem er die Welt erschaffen hatte, alle Völker zu sich, um das Land zu verteilen. Die Georgier kamen zu spät zu diesem Treffen, weil sie unterwegs, wie das auch heute noch ihre Art ist, ausgiebig gegessen, getrunken und in der Sonne gefaulenzt hatten. Doch anstatt zu klagen, begannen sie vor dem Schöpfer zu singen und zu tanzen. Wovon dieser so begeistert war, dass er dem lebensfrohen Völkchen jenen Winkel der Erde überließ, den er eigentlich für sich selbst reserviert hatte. So kamen die Georgier zu ihrem kleinen Paradies auf Erden.

Ein Garten Eden, in dem überall etwas wächst, zumal in den noch unbegradigten Randzonen von Tbilissi, wo gleich das Ländliche beginnt. Sträucher, Farne, Unkraut. Zwischendrin auch Ruinen, eingestürzte Mauern, Verfallendes. An der nächsten Ecke Betonblöcke und Dachziegel im Gebüsch, die immer noch darauf warten, endlich ihren eigentlichen Zweck erfüllen zu können, aber offenbar einfach vergessen wurden. »Das passiert häufig in diesem Land«, sagt Gio. »So sind wir eben auch: Man fängt etwas an, und auf halber Strecke gibt man es schon wieder auf.«

Erstaunlich, was einem auf der Straße am heiligen Berg so alles entgegenkommt: altersschwache Ladas, rostfleckige Dacias, klappernde Moskwitschs, zerbeulte Nivas, ächzende Wolgas. Nicht zu vergessen Dutzende Transit-Lieferwagen von Ford mit – seltsam! – deutschsprachigen Aufschriften, die beispielsweise für die Fenster- und Türsysteme der Firma Kemper aus Schmallenberg werben oder für einen Hundefriseur aus Berlin-Zehlendorf. Auch für sie hält Gio eine Erklärung bereit: »Was in Westeuropa nicht mehr durch den TÜV kommt, kann in Georgien noch viele arbeitsreiche Jahre vor sich haben!« Auch das soll sich, im Zuge der Modernisierungsbestrebungen der georgischen Gesellschaft, bald ändern. Regelmäßige technische Kontrollen an den Fahrzeugen sind zumindest schon geplant. Sowie seit Neuestem niemand mehr ohne Führerschein ans Lenkrad darf – theoretisch jedenfalls.

Sogar vierbeinige Pilger sind am heiligen Berg unterwegs. Kühe auf dem Weg zum Gipfel; müde, geduckt und verängstigt herumschleichende Hunde. Vor dem Eingang des Mtatsminda-Parks, im Schatten eines Baumes, fast schon im Straßengraben, sitzen drei Männer auf umgedrehten Obstkisten. Ein vierter steht neben ihnen. Auf ein paar Ziegelsteinen liegt ein Brett. Sie spielen Domino. Ich frage, ob ich sie fotografieren darf. Sie sagen ja, aber nur ihre Hände, den Tisch und die Steine, nicht ihre Gesichter.

Anschließend gehen wir in den Freizeit- und Vergnügungspark, aus dem leise Musik klingt. Eine knappe Stunde lang spaziere ich mit Gio auf dem fest stationierten Rummelplatz herum. Wir steigen breite Treppen hinauf und hinab, kommen an akkurat gestutzten Rasenflächen, Karussells, Schießbuden und Wasserrutschen vorbei, sehen Elefanten aus Pappmaché und Plastikdinosaurier, die unentwegt die Köpfe schütteln und mit ihren kräftigen Schwänzen wackeln. Wir sind beinahe die einzigen Besucher. Als wir zum Ausgang zurückgehen, begegnen wir noch zwei Asiaten. Chinesen, Japaner, Koreaner? – Wir wissen es nicht. So wie wir uns nicht entscheiden können, ob wir das soeben Gesehene als kitschig und absurd oder als poetisch und liebenswürdig erachten sollen.

Beim Verlassen des Parks hocken die Dominospieler immer noch auf dem struppigen Seitenstreifen der schmalen Straße. Erst jetzt bemerke ich die vier blankgeputzten Taxis am gegenüberliegenden Wegrand. Auf uns wartet Dato. Ob ich auch noch das Meer von Tbilissi sehen möchte, fragt er. Ein Meer mitten in Georgien? Nie gehört! Es liege gleich hinter der Machata-Hügelkette, im Osten der Stadt, sagt unser Fahrer. Vom Mtatsminda im Westen aus leider nicht zu sehen. Also nichts wie hin!