Cover

Für Uwe
und für Roman Hocke

ISBN 978-3-492-98201-6
April 2015
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2015
© Piper Verlag GmbH, München 2008
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Byelikova Oksana/shutterstock.com
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Hätte Satan keine andere Schlinge um jemanden zu Fall zu bringen, kein anderes Banner, zu dem er rufen könnte, keine andere Versuchung, um zu verführen außer den Sängerinnen, so wäre es dennoch mehr als genug.

Al-Jahiz

Wer Musik macht, spielt mit den Seelen

Ibn Hindu

Bagdad, im Jahre des Herrn 819.

Eine neue schwüle Sommernacht legte sich über den Kalifenpalast. Der zum Hof hin offene Festpavillon war hell erleuchtet. Eunuchen in schwarzen Seidengewändern waren damit beschäftigt, die Reste eines Mahles abzuräumen: üppig beladene Silberplatten mit gefüllten Vögeln, Mandelhalwa und mit Walnüssen gespickte Feigen wurden zurück in die Küche geschleppt. Wenn die Diener unter den schwankenden Silberampeln hindurchliefen, blitzten die Wandmosaike wie Juwelen auf. In einem Bett duftender Schiraz-Rosen schlug ein gebratener Pfau sein lebloses Rad.

Kalif Ibrahim und seine Zechgenossen waren zum Wein übergegangen. Sklavinnen versprengten Orangenblütenwasser über die ebenhölzernen Diwane, Tänzerinnen schwangen ihre seidenschimmernden Hüften. Aber die Aufmerksamkeit der Gäste galt nicht ihnen: Zwischen den Bögen, wo sich der Raum zum Hof hin öffnete, war ein golddurchwirkter Brokatvorhang aufgespannt. Die wirbelnden Rhythmen, die dahinter hervorklangen, erhitzten die Männer weit mehr als der Wein oder die Sommernacht.

»Wartet nur auf Arib!« Salim sprach den Namen aus wie etwas Verbotenes, das ebenso reizvoll wie gefährlich ist. Der Schreiber wies auf den erhöhten Platz in der Mitte, wo der Kalif seine fleischigen Lippen über den Arm einer Sklavin gleiten ließ. »Sie ist die berühmteste Singsklavin im Reich des Kalifen. Selbst Ibrahim, der Beherrscher der Gläubigen, konnte ihrer Verlockung nicht widerstehen. Ganz Bagdad vergöttert Arib.«

Die nackten Füße der Tänzerinnen stampften auf, Seidenschleier fegten durch die ambraschwere Luft. Nur der dunkelblonde Mann, den Salim angesprochen hatte, schien dem Rausch aus Farben und Klängen nicht zu verfallen. Nicht einmal der Wein hatte die Kälte aus den hellen Augen Wolframs von Aue weichen lassen. Dennoch verriet eine kaum spürbare Anspannung, dass er hinter dieser unbewegten Maske etwas verbarg. Neben dem feingliedrigen Araber wirkte er hünenhaft. Seine sehnigen Hände wussten sichtlich ein Schwert zu führen. Und die frisch verheilte Spur eines Dolches auf dem glattrasierten Kinn verlieh ihm etwas Unberechenbares.

»Arib«, wiederholte er spöttisch. »Kein Imam, der sie nicht als das leibhaftige Laster verfluchte. Kein Mufti, der nicht dazu aufriefe, sie zu steinigen. Glaubt man den Gerüchten, hat sich die halbe Bagdader Jugend ihretwegen ruiniert. – Kennt Ihr sie?«

»Ob ich sie kenne?« Salim lachte laut auf. »Man merkt, dass Ihr zum ersten Mal das Privileg genießt, mit dem Kalifen zu zechen. Bei Allah, man könnte ihretwegen vom Glauben abfallen!«

»Wer seinen Glauben verliert, ist meistens auch bald seinen Kopf los«, erwiderte Wolfram. Geschmeidig neigte er den Oberkörper zurück, um dem Mundschenk Platz zu machen. »Aber wenn jemand seinen Kopf für eine Sängerin aufs Spiel setzt, ist es wohl auch nicht schade darum.« Er bedeutete dem Jungen, ihm aus der schweren Ritliya Wein nachzuschenken.

»Sing, Arib! Mach mich trunken, ich bin dein Sklave!«, grölte ein Alter gegenüber. Speichel spritzte von den dünnen Lippen. Das nachgefärbte Haar hob sich scharf von dem gebleichten Gesicht ab, Schweiß hatte den Puder in seinen Falten zu weißen Streifen verlaufen lassen. Er taumelte auf den Vorhang zu und verlor das Gleichgewicht. Schallendes Gelächter begleitete seinen Sturz. Wolframs Augen hatten ihn nur kurz fixiert, doch dabei fingen sie das Licht ein wie die eines Schakals.

Salim rückte ein wenig ab, als sei ihm plötzlich die Mär vom Bösen Blick in den Sinn gekommen, dem gefährlichen Zauber, den man blauen Augen nachsagte. »Seit den sagenumwobenen Sängerinnen der heiligen Stätten gab es keine mehr wie sie«, verteidigte er Arib. Vom Alkohol beschwingt wurde er poetisch: »Die Sängerinnen von Mekka trieben seinerzeit die Krieger des Propheten in die Schlacht. Aber vor Arib müssen selbst die Huri des Paradieses beschämt verstummen. Wenn sie singt, verblassen die Freuden des Jenseits, und noch die Tapfersten klammern sich ans Leben. Diese Frau sieht Euch an, als könntet Ihr allein ihre Sehnsüchte erfüllen. Sie macht Euch glücklich und traurig zugleich. Es ist Magie, mein Freund.«

Etwas durchbrach die Maske des Fremden, doch er unterdrückte die Regung sofort.

Salim wies auf den Alten, der schwankend wieder auf die Füße kam und glasig zum Vorhang stierte. »Seht es Euch an! Sie raubt einem den Verstand.«

»Ganz offensichtlich«, erwiderte Wolfram trocken. »Und wie Singsklavinnen es zu tun pflegen, gibt sie sich jedem hin, der sie sich leisten kann: Parfümeuren für Ambra und Moschus, Seidenhändlern für Damaszener Brokat. Sie mag eine angesehene Hure sein, aber sie bleibt eine Hure.« Unwillig wischte er einen Tropfen Orangenblütenwasser von seinem Ärmel.

Salim berührte beschwörend seinen Arm. Sein schwarzes, zu schulterlangen Locken gedrehtes Haar fiel unter dem Turban hervor, und der Dunst von Wein und Haschisch stieg Wolfram in die Nase. »Wer spricht bei einer solchen Frau von Hurerei? Der Kalif Harun ar-Raschid verfiel ihr, um den sich schon jetzt die Legenden ranken – Radiya llahu alayhi, möge Allah Wohlgefallen an ihm haben! Seine Söhne Muhammad und Abdallah hätten vierhundert Sklavinnen gegen eine Nacht mit ihr eingetauscht. Man munkelt, Muhammad hätte nur ihretwegen die Vorliebe für sein eigenes Geschlecht vergessen und sich den Frauen zugewandt. Sie war die Geliebte dreier Kalifen, und heute Nacht könnte der vierte dazukommen.« Er deutete mit seiner sorgsam manikürten Hand durch den Raum. »Seht Euch um, jedermann liegt ihr zu Füßen! Wenn Ihr heute ein düsteres Gesicht seht, dann nur bei einem, der ihre Gunst genossen und wieder verloren hat.«

Der Fremde blickte zum Neffen des Kalifen hinüber, der an der Seite seines Oheims finster in den Becher starrte. Salim wollte etwas einwenden, doch abgesehen vom Herrscher selbst schien in dessen Familie kaum ein Mann vor Frohsinn zu sprühen. Wolfram hob die Augenbrauen. »Nun, ich selbst habe kaum Grund, mich in Gefahr zu wähnen«, meinte er. »Ich verkaufe weder Parfüms, noch edle Stoffe, und ich gehöre auch nicht der Familie des Kalifen an. Ich bin ein Verbannter, und das Einzige, was ich noch besitze, ist mein Schwert. Sie wird wohl kaum darauf erpicht sein, dass ich ihr damit ihre glatte Kehle durchschneide.« Er deutete ein ironisches Lächeln an.

»Ah, auch Ihr werdet ihrem Zauber verfallen!« Salim lehnte sich zurück. Seine geschminkten Mandelaugen wiesen zum Vorhang, der die Musikanten vor Blicken schützte. »Dort, hinter der Sitara, wartet sie bereits. Ihr werdet Eure ketzerischen Worte noch bereuen. Sie ist eine Sirene.«

Das abfällige Lächeln des Fremden erstarrte. Abrupt wandte Wolfram sich ab und sah hinauf zur Deckenmalerei. Eine paradiesische Gartenlandschaft war dort abgebildet: Gazellen weideten friedlich, und exotische Vögel flatterten zwischen den schwarzweißen Pfeilern. Wie ein Spiegelbild zeigte der kostbare Hira-Teppich zu seinen Füßen dieselben Motive. Für einen Augenblick ließ sich Wolfram an den geheimen Ort in seinem Inneren entführen, zu dem er niemandem Zutritt gewährte.

Er konnte nicht sehen, dass die junge Frau hinter der Sitara ebenfalls zur Decke hinaufblickte. Ihre hennabemalten Hände hatten den Vorhang etwas zur Seite gezogen. Sie bemerkte den schwarzen Eunuchen, der zu ihr trat, und ihre dunklen, eng stehenden Augen verloren den sehnsüchtigen Ausdruck. »Hast du ihn gesehen?«, fragte Arib. Der Rhythmus des Tamburins in ihrem Rücken holte sie in die Gegenwart zurück und peitschte ihren Puls auf.

»Er ist hier«, antwortete Jauhar. Arib kannte den hünenhaften Eunuchen. Sie wusste, dass er trotz seiner Eigenheiten verlässlich war. Deshalb hatte sie darauf bestanden, dass er und kein anderer sie an diesem Abend bedienen sollte.

Aufatmend schob sie den rosaseidenen Vorhang noch etwas zur Seite. »Welcher ist es?« Ihre Augen folgten seinem Finger, doch in der Menge konnte sie den Fremden nicht ausmachen.

»Der junge Mann in der hellen Tracht der Zechgenossen«, erläuterte Jauhar beflissen. Arib spürte die Augen des Eunuchen auf ihren Brüsten, die das Oberteil aus goldbesticktem Brokat völlig unbedeckt ließ. Sie glaubte sogar zu hören, wie er den Rosenduft einsog, der noch vom Hammam in ihrem Haar hing. »Wollt Ihr es wirklich wagen?«, raunte er ihr ins Ohr. Ungerührt wanderte Aribs Blick durch den Raum. Sie erkannte den Kalifen, grobknochig wie ein baktrisches Lastkamel. Er musste inzwischen etwas über vierzig sein, dachte sie, während sie nach dem Fremden Ausschau hielt. Doch die Mundschenke und die wirbelnden Röcke der Tänzerinnen verstellten ihr immer wieder die Sicht.

»Dieser Mann ist eine Viper«, fuhr Jauhar fort, »schön, aber gefährlich. Und Ihr wisst, dass er Euch vernichten will.«

»Mich vernichten!« Arib lachte klirrend auf. Ein Flötenspieler warf ihr einen zornigen Blick zu, und leiser setzte sie nach: »Er durchschaut, warum ich hier bin. Meine Pläne missfallen ihm und er wird sie zu vereiteln suchen, notfalls mit Gewalt.« Ihre Augen blieben an dem mit Federn geschmückten gebratenen Pfau hängen und die markanten Lippen verzogen sich spöttisch. »Aber einmal gerupft ist auch der stolzeste Pfau nichts weiter als ein bleiches Huhn. Ich kenne diese Art von Mann. Etwas heiße Luft aus meiner geübten Kehle und aus dem hochfahrendsten Krieger wird ein williger Sklave. Du kannst versichert sein, dass ich nichts von ihm übrig lassen werde.«

Jauhars Kinn mit dem eleganten Bärtchen klappte herab. »Ihr versteht Euch darauf, die Seelen zu berühren und sprecht so kalt darüber?«

Arib antwortete nicht. Doch ihre Finger schlossen sich um das unscheinbare Glasamulett an ihrem Hals. Verzweiflung war der einzige Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. »Was schert es dich?«, entgegnete sie und warf die schwarzen Schläfenzöpfe zurück. Die Glöckchen an den Reifen um ihre Fußgelenke klingelten, und ein Hauch des schweren Ambraparfüms stieg auf, das der beste Händler der Stadt eigens für sie mischte. »Stell dich zu dem Fremden, ich will sehen, wer es ist!«

Jauhar trat von einem Bein auf das andere. Er warf einen Blick in den Saal, wo einige junge Männer aufgestanden waren und Aribs Namen skandierten. »Ich bin für das Zeremoniell verantwortlich. Ihr werdet doch nicht etwa da hinaus …«

Arib lächelte.

Ihm brach der Schweiß aus. »Tut mir das nicht an! Eine Sängerin gehört hinter den Vorhang – Euer Herr wird es mich bitter büßen lassen!«

Sie kniff ihn in die Wange. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die Leute gekommen sind, um einen Vorhang singen zu hören?«

Jauhar tupfte sich mit einem Taschentuch die Schmucknarbe auf der schwarzen Haut. »Mit Eurer Schamlosigkeit presst Ihr mir noch den letzten Saft aus den Adern.«

Arib reckte sich aufreizend und lockerte die Schultern. »Du ahnst nicht, wie viele Männer dich darum beneiden.«

Jauhar blickte sich um, als wollte er sich überzeugen, dass niemand sie hören konnte. Doch die Aufmerksamkeit des Orchesters richtete sich auf die Mitte des Halbkreises, wo der Sahib al-Musika mit seinem Tamburin den Rhythmus vorgab. »Der Fremde scheint Euch weit mehr zu interessieren als der Kalif«, zischte Jauhar. »Aber Ihr habt den Auftrag, Ibrahim zu verführen, nicht ihn. Ihr seid hier, um diesem Thronräuber das Handwerk zu legen, habt Ihr das vergessen?«

Arib lachte erneut. »Ibrahim ist kaum ein Appetithappen. Er interessiert sich ohnehin mehr für Sängerinnen als für sein Amt und ist nicht besser zum Kalifen geschaffen als seine Schuhsohlen. Ich habe meinen Auftrag nicht vergessen, doch alles zu seiner Zeit.« Wenn sie ihr Geld nicht nutzlos verschwendet hatte, hatten ihn ihre Sklavinnen schon heute Mittag im Hammam erwartet – mit dem Auftrag, ihn zu baden, an den richtigen Stellen zu massieren und in jeder Hinsicht auf das Versprechen einzustimmen, das ihre Herrin einlösen würde.

Draußen im Saal hatte sich Ibrahim erhoben. Das pockennarbige Gesicht war vom Wein gerötet, mit großer Geste trug er etwas vor. Die Männer applaudierten frenetisch, und die Tänzerinnen neigten sich vor ihm zu Boden. Doch während er den Becher hob, schweiften seine dunklen Augen zum Vorhang.

Arib lächelte. Der Mann, den man den Drachen nannte, erwartete sie begierig. Sie zwinkerte dem Eunuchen zu und griff nach ihrer Laute. Zärtlich strich sie über die silberne Einlegearbeit. Dann gab sie dem Sahib al-Musika ein Zeichen.

Der Rhythmus der Trommeln veränderte sich. Mit leichten Schritten kehrten die Tänzerinnen hinter den Vorhang zurück. Ta-tam-ta-tam-tam, summte Arib den schweren Masmudi-Rhythmus mit. Sie schlug die Laute an. Die sinnlichen Töne entrückten sie in vergangene Zeiten, als die Sänger mit magischen Urgewalten im Bunde gewesen waren. Ihr Körper wurde eins mit dem bauchigen Leib der Oud. Dann begann sie zu singen:

Reich mir den Becher und mach mich trunken,

Besser als Kummer ist der Genuss!

Der ist ein Feigling, der nie versunken

Im Rausch des Weines, in einem Kuss!

»Ahsanti, ya Jamila!«, rief eine Männerstimme. »Bravo!« Andere stimmten ein, und dann hörte sie Ibrahim: »Ich trinke auf die verführerischste Frau des Ostens!«

Arib nickte dem Orchester zu und überging Jauhars verzweifeltes Augenrollen. Dann trat sie an den Seidenvorhang und schlug die Sitara zurück.

Das Lärmen verstummte. Ibrahims noch erhobene Hand mit dem Becher sank herab. Dunkle Schweißflecken zeigten sich auf seinem Seidenhemd. Vom Kalifen bis zum Eunuchen starrten alle Männer sie an. Lächelnd hob sie die Laute und verlieh ihrer Stimme jenen dunklen Klang, der die Männer um den Verstand brachte:

Darum, Geliebter, zier dich nicht weiter,

Genieß die Freuden an meiner Brust!

Der ist der kühnste, tapferste Streiter,

Der sich nicht fürchtet vor höchster Lust!

»Es heißt, der Teufel gebe ihr die Lieder ein«, hörte sie jemanden flüstern, und ein anderer stieß hervor: »Einmal diese Frau in meinem Bett, und ich würde selbst den Teufel anbeten!«

Arib fing die Woge der Begierde ein, die ihr entgegenschlug, und ließ sich davon mittreiben. All ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun auf Ibrahim ibn al-Mahdi.

Die Musik steigerte sich zu einem wirbelnden Tanz. Tam-tatata-tam-tam-tam pochte der Sharki-Rhythmus in ihren Adern, betäubte ihre Sinne wie der Schauer eines leidenschaftlichen Kusses. Sie warf die Laute einem Sklaven zu und näherte sich dem Kalifen. Ibrahims vierschrötige Gestalt spannte sich an. Sein stechendes Parfüm schlug ihr entgegen, und in seinem schwarzen Vollbart glänzte der Wein. Arib kannte diesen Blick, den sie auf ihrer Haut förmlich fühlen konnte. Zum ersten Mal hatte sie ihn vor Jahren bei Harun ar-Raschid gespürt. Langsam stellte sie einen nackten Fuß auf seine gekreuzten Beine.

Den Gästen stockte der Atem. Ibrahim ließ sie willenlos gewähren. Sie war sich sicher, dass er wusste, warum sie hier war. Doch es hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Unter ihrem Fuß pulsierte das Blut in seinen Adern. Sie tastete sich zu der Stelle zwischen seinen Beinen vor und lächelte unmerklich.

Arib beugte sich zu ihm herab. Wehrlos starrte er in ihr knappes Oberteil. Sie spürte, wie sein heißer Atem sich beschleunigte. Er ließ die Linke über ihre Fesseln nach oben gleiten, und die goldenen Reife klirrten. Das Zucken der wohlbekannten Schlange unter ihren hennagefärbten Zehen verriet, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Man musste nicht Gedanken lesen können, um zu ahnen, wie er sie im Geiste in Besitz nahm, triumphierend auf dem Schlachtfeld der Leidenschaft. Ohne den Blick von ihm zu nehmen, strich sie ihrem Opfer über die beringten Finger und nahm ihm den Pokal aus der Hand. Sie ließ das Glas über ihren nackten Bauch und zwischen den Brüsten hinaufgleiten. Dann hob sie es an die Lippen.

Ibrahims Atem ging schwer, er kämpfte um seine Beherrschung. Sie zog ihren Fuß zurück und wandte den Kopf dorthin, wo sich Jauhar zwischen den Gästen hindurchdrängte. Bei einem Mann blieb er stehen.

Arib hob die dunkel geschminkten Lider über dem Becher. Ihr Blick traf den des Fremden.

Schlagartig wich die Farbe aus ihrem Gesicht. Wein spritzte auf ihre Kleider, und die kalte Berechnung fiel von ihr ab wie ein schlecht sitzender Schleier. Krampfhaft umklammerte sie das Glas. Das Kristall brach, die Scherben schnitten in ihre Haut. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, doch sie spürte es nicht. Während Ibrahim sie mit lüsternen Blicken verschlang, überschwemmte sie eine Woge lange vergessener Zärtlichkeit. Atemloses Verlangen und Furcht stritten in ihr, als sei sie wieder das Mädchen in zerrissenen Männerkleidern, er der junge Ritter aus dem Reich des Frankenkaisers. Alles an ihm war fremd und erschreckend – und zugleich unendlich vertraut.

Wolfram erhob sich langsam, die dunkelblauen Augen ungläubig auf sie gerichtet. Nicht der gefeierten Sängerin galt dieser Blick, nicht der Hure der Kalifen, sondern dem Mädchen von damals. Und wie eine kaum hörbare Melodie kehrte die Erinnerung an dieses Mädchen zurück.

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Arib war begnadet mit Schönheit und Ausstrahlung, schlagfertig und von einem unglaublichen Talent als Sängerin und Lautenspielerin. Seit den legendären Singsklavinnen von Mekka und Medina hatte es keine gegeben, die ihr glich.

Aus der Chronik des Abu l-Faraj al-Isfahani

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