image

HEIDRUN SCHALLER

DIE
PALEO

(R)EVOLUTION

Gesund durch Ernährung im Einklang mit unserem genetischen Erbe

MIT STEINZEITKOST
GEGEN ZIVILISATIONSKRANKHEITEN

images

Copyright der deutschen Ausgabe 2015:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler

Lektorat: Karla Seedorf

Korrektorat: Hildegard Brendel

Fotos Rezeptteil: Heidrun Schaller, Thinkstock, Fotolia, istockphoto

ISBN 978-3-86470-243-3
eISBN 978-3-86470-271-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

images

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: buecher@boersenmedien.de

www.books4success.de

www.facebook.com/books4success

INHALT

image

DANKSAGUNG

EINLEITUNG

 

Die Ancel-Keys-Saga

Korrelation ist nicht gleich Kausation

image

KAPITEL 1: Die Paleo-Ernährung – eine gute Hypothese

 

Wie meine persönliche Tragödie ihren Lauf nahm

Ein Ende mit Schrecken – oder Schrecken ohne Ende
Ein zögerlicher Neubeginn

Der moderne Mensch und seine Steinzeitgene

Ein Zahnarzt auf Abwegen

Keimen, gären, einweichen… oder gleich weglassen

Unser langes, krankes Leben

Also, was ist jetzt dieses Paleo?

Die Annahmen der Paleo-Ernährung und die Gegenargumente

image

KAPITEL 2: Was unser Körper mit Essen macht und warum er Paleo mag

 

Verzicht auf Getreide

Sich ein Loch in den Bauch freuen – Gluten machts möglich
Die Tücke der Lektine
Macht aus wenig noch weniger: Phytinsäure
Aber was ist mit Vollkorn?

Verzicht auf Hülsenfrüchte

Soja: Eine Hülsenfrucht geht um die Welt

Milchprodukte: ein entschiedenes Jein

Manche mögens fett

Der Magerwahn und das Cholesterinmärchen
Fett, der lebenswichtige Nährstoff
Wie sieht es aber nun mit den pflanzlichen Ölen aus?
Die Guten, die Schlechten und die Schlechtgewordenen
Gutes Omega 6?
Omega 3: ein Sensibelchen
Fettlösliche Vitamine
Butyrat und CLA – fast schon Medizin
Fettes Fazit

Eiweiß

Proteinmangel
Aminosäuren – die Bausteine des Körpers
Nicht in erster Linie ein Energielieferant

Kohlenhydrate

Was passiert, wenn ich Kohlenhydrate esse?
Der Schokoriegel, der das Fass zum Überlaufen bringt
Ein billiges Zucker-High mit bösen Folgen
Süße Alternativen

Wie viel von was und warum?

Es geht auch ohne Kohlenhydrate – die ketogene Ernährung
Der Weg des Fettes
Ketose ist nicht für alle das Richtige: einiges über Hormone
Moderater Kohlenhydratkonsum ist die Devise

Alkohol und Kaffee

„Real Food“ – Paleolaner essen keinen Industriemüll

Die Paleo-Ernährung – viele Varianten eines gemeinsamen Nenners

image

3. KAPITEL: Eine anthropologische Rundumschau

 

Die Khoikhoi und der Fettsteiß in Gegenwart und Vergangenheit

Die Pima-Indianer und der „sparsame Genotyp“ bzw. „sparsame Phänotyp“

Die besondere Stellung von Mais bei den Indianern Nordamerikas
Der süße Zahn

Eskimos versus Kitavaner

Walhaut macht den Unterschied

Wie ursprünglich ist ursprünglich genug?

image

4. KAPITEL: Das Mikrobiom

 

Der Zoo in uns – ein Superlativ

Warum sollten wir uns für unsere Bakterien interessieren?

Ein Biotop mit großer Vielfalt

Schwierige Grenze zwischen Gut und Böse

Das Imperium der Bakterien schlägt zurück

Zu viel und am falschen Ort

Pre- und Probiotika

image

5. KAPITEL: Paleo trifft auf Entzündung

 

Cholesterin – der lebenswichtige Stoff

Die vielen Aufgaben des Cholesterins
Die Cholesterinmenge reguliert sich selbst
„Böses“ LDL?
Die Rolle der Fettsäuren bei der LDL-Oxidation
Mögliche Gründe für hohes LDL
Insulin und Oxidation

Chronische Entzündung und Leptinresistenz

Andere Gründe für Übergewicht: Hormone

Das Autoimmunprotokoll

Milchprodukte
Nüsse und Samen
Eier
Nachtschattengewächse
Weiterführende Informationen für Autoimmunerkrankungen

Lebensführung

Die biologische Uhr
Cortisol und Kaffee
Stress und Bewegung

Kann ein Problem sein, muss aber nicht: Histamin

Mythen der Wissenschaft

Arachidonsäure
Die China-Studie

Warum hören Sie so etwas nicht von Ihrem Arzt?

image

6. KAPITEL: Wie passt Paleo in unsere Zeit?

 

Billige „Grundnahrungsmittel“ sollen es richten

Omnivoren als Buhmänner

Jeder „weiß“: Rinder sind schuld am Flächenverbrauch durch Getreide und Soja

Kleine Rinderkunde

Was wirklich unnachhaltig ist

Tiere töten, Tiere essen

Kein Fleisch ist auch keine Lösung

Beweidung: eine globale Perspektive

Vorsicht, Nebenwirkungen!

SCHLUSSWORT

image

Kochtipps

 

BASICS

Ghee

Knochenbrühe

Joghurt

Mandeln einweichen

Mandelmilch und Mandelmehl

HERZHAFTES

Frühstücksklopse aus Schweinefleisch

Zucchini-Nudeln

Zucchini-Streifen

Rinderzungenragout

Meine Daheim- und Unterwegsklopse aus Rindfleisch

Möhrensuppe nach Dr. Moro gegen Magen-Darm-Infekte

Leberwurst

Sauerkraut

Guacamole

Salz-Dill-Gurken

Spargel mit Sauce Hollandaise

Mayonnaise

Frühstücksburger

Kürbissuppe

Chicorée aus dem Ofen

SÜSSES

Bananen-Muffins

Schoko-Muffins oder Schoko-Kuchen

Bananen-„Eis“

Waffeln

Marmelade

Marshmallows

Wackelpudding

SNACKS

Kochbananenchips

Beef Jerky

GETRÄNKE

Butterkaffee

Kombucha

Milchkefir

Wasserkefir

BEZUGSQUELLEN

Kokosöl, Kokosfett

Butter

Spezielle Mehle

Kochbananen

Kokosmilch

Coconut Aminos

Fußnoten

DANKSAGUNG

Ich möchte mich bei meinem Mann bedanken, der mich während des Recherchierens und Schreibens mit Essen versorgte, mich mit Rat und Tat unterstützte und mir am Ende untersagte, noch weiter an den Texten herumzufeilen. Bei meiner Tochter, weil sie Geduld mit mir hatte, obwohl ich kaum noch Zeit hatte, mit ihr zu spielen, und manchmal einschlief, anstatt ihr zuzuhören. Bei den lieben Freunden, die ihre Erfolgsgeschichten mit mir teilten. Bei dem Biologen und Arzt Christian Selig, der mir mehrmals mit heißen Recherchetipps diente. Bei der Biologin Andrea Kamphuis, die oft verwirrende Zusammenhänge für mich aufzulösen vermochte. Bei Verena, die mir spät in der Nacht mit Grafiken aushalf. Meiner Colitis-Mitstreiterin Alex und allen Menschen um mich herum, die mir mit Zuspruch halfen und mir Mut machten: danke!

Nichts in der Biologie ergibt Sinn,
außer im Lichte der Evolution betrachtet.

– Theodosius Dobzhansky,
Genetiker und Evolutionsbiologe

EINLEITUNG

Sie haben sich also ein Buch über Ernährung gekauft. Glückwunsch, Sie sind ein mutiger Mensch! Oder ein bisschen verrückt, oder beides. Wie viele stehen denn schon in Ihrem Regal? Und wie viele komplett konträre Meinungen kennen Sie schon zu diesem Thema – durch Bücher oder die Medien? Egal, ob Kohlenhydrate, Kaffee oder Kalorien: Zu jedem Ernährungsthema gibt es so viele Meinungen, wie es Experten dafür gibt. Und selbstverständlich behauptet jeder Experte, die Studienlage eindeutig auf seiner Seite zu haben.

Zudem ist das Essen heutzutage nicht mehr nur eine Frage von Genuss und Gesundheit, sondern es kommen auch ethische und ökologische Erwägungen ins Spiel. „Soll ich überhaupt tierische Produkte essen?“, fragt man sich – oder auch: „Wie kann ich durch mein Einkaufsverhalten meinen CO2-Fußabdruck verringern?“

Dieses Buch ist ein wenig anders als die, die vielleicht schon in Ihrem Regal stehen. Anstatt Sie einfach nur für den neuesten Diät-Trend zu begeistern, sollen Sie hier zum Denken und kritischen Beurteilen angeregt werden. Viele Ernährungs-„Weisheiten“, die man in der Vergangenheit ganz selbstverständlich als wahr akzeptierte, kann man unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich nicht so stehen lassen. Und so wird es auch in Zukunft sein: Es wird immer wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben werden, und Sie werden darüber lesen. Ich möchte Ihnen ein Werkzeug – sagen wir: ein Fernglas – an die Hand geben, damit Sie schon von Weitem erkennen können, ob diese Sau einen näheren Blick lohnt.

Eines werden Sie bestimmt aus diesem Buch mitnehmen: dass wir über gesunde Ernährung sehr wenig wirklich sicher wissen. Viel weniger, als man uns oft weismachen will.

Die Ancel-Keys-Saga

Für die eben erwähnten Ernährungs-„Weisheiten“ möchte ich Ihnen gleich ein eindrucksvolles Beispiel vorstellen. Jeder weiß, dass gesättigte Fette ungesund sind. Warum? Weil sie den Cholesterinspiegel erhöhen, und hohes Cholesterin verstopft die Arterien und führt zu Schlaganfall, Herzinfarkt und Co.

Woher wissen wir das eigentlich?

Dieser vermeintliche Zusammenhang wurde erstmals in den 1950er-Jahren von einem US-Wissenschaftler namens Ancel Keys postuliert und verbreitete sich in den darauf folgenden Jahren rasend schnell. 1961 erschien das Time Magazine mit einem Porträt von Ancel Keys auf dem Cover, und noch heute beeinflussen seine Schlussfolgerungen die grundlegenden Annahmen über Ernährung – und damit wiederum die Schlussfolgerungen, die aus heutigen Beobachtungen gezogen werden.

Für seine bekannteste Studie wurden von Keys und seinem Team Gesundheits- und Ernährungsdaten aus sieben Industrienationen erhoben. In Relation gesetzt wurden die folgenden Daten: die Häufigkeit von Herz-Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall auf der einen und der Konsum von Fett auf der anderen Seite. Heraus kam – angeblich – ein eindeutiger kausaler Zusammenhang: Je mehr Fett in einem Land gegessen wurde, desto mehr Herz-Kreislauferkrankungen traten auf.

Schon einige Jahre zuvor hatte Keys eine ähnliche Studie veröffentlicht, die sogenannte Sechs-Länder-Studie. Hier sehen Sie die Daten, die damals von Keys’ Team veröffentlicht wurden:

Die x-Achse (also die waagerechte Achse) dieses Koordinatensystems zeigt den prozentuellen Anteil von Fett an den Gesamtkalorien – also wie viel Fett in einem Land im Vergleich zu Kohlenhydraten und Protein (Eiweiß) gegessen wird. Je weiter rechts ein Punkt ist, desto mehr Fett wird in dem Land gegessen, das dieser Punkt repräsentiert.

Die y-Achse (senkrecht) misst die Tode durch Herz-Kreislauferkrankungen pro 1.000 Todesfälle. Je weiter oben ein Punkt ist, desto mehr Menschen – in Relation zur Bevölkerungszahl – sterben in diesem Land an Herz-Kreislauferkrankungen.

image

Nach Daten aus „Fat in the diet and mortality from heart disease; a methodologic note” von Yerushalmi und Hilleboe1

Die Kurve betont den sehr offensichtlichen Trend: Ganz klar kann man hier erkennen, dass mehr Leute an Herz-Kreislauferkrankungen sterben, je mehr Fett in einem Land gegessen wird. Oder?

In dieser Darstellung wurden die Daten von sechs Ländern ausgewertet: Japan, Italien, England, Australien, Kanada und die USA. In der Tat scheinen die Daten dieser Länder den genannten Zusammenhang nahezulegen. Allerdings hat die Sache einen Haken. Das Team von Ancel Keys hatte nicht nur Daten in sechs Ländern erhoben, sondern in 22. Wenn man alle erhobenen Daten berücksichtigt, ergibt sich ein anderes Bild:

image

Nach Daten aus „Fat in the diet and mortality from heart disease; a methodologic note” von Yerushalmi und Hilleboe2

So ungefähr sieht meine Windschutzscheibe aus, wenn ich im Hochsommer auf der Autobahn unterwegs war. Hier einen linearen Zusammenhang herzustellen, wird schon deutlich schwieriger. Man könnte sogar zum gegenteiligen Ergebnis kommen, indem man andere Länder weglässt. Zum Beispiel so (siehe Grafik unten):

Zieht man nur diese Länder in Betracht, so könnte man denken, dass die Anzahl der durch Herz-Kreislauferkrankungen verursachten Todesfälle pro Jahr drastisch steigt, je weniger Fett in einem Land gegessen wird.

Wir haben es hier also mit einem Phänomen zu tun, welches man in Wissenschaftskreisen als „Publication Bias“ bezeichnet. „Bias“ ist englisch für „Voreingenommenheit“. „Publication Bias“ ist also die Voreingenommenheit seitens eines Wissenschaftlers, die dazu führt, dass er nur bestimmte Daten einer Untersuchung veröffentlicht und andere nicht. Die Voreingenommenheit besteht in diesem Falle darin, dass ein bestimmtes Ergebnis erwartet beziehungsweise gewünscht wurde. Es ist nun mal viel einfacher, in der Wissenschaftswelt zu Ruhm zu gelangen, indem man einen klaren, bahnbrechenden Zusammenhang zwischen zwei Faktoren vorweist – und fast unmöglich, wenn man eine Datenlage präsentiert, die aussieht wie Fliegendreck auf der Windschutzscheibe.

image

Nach Daten aus „Fat in the diet and mortality from heart disease; a methodologic note” von Yerushalmi und Hilleboe3

Und die wenige Jahre später durchgeführte Sieben-Länder-Studie, die Keys und seiner These zum Durchbruch verhalf? Nun, wieder einmal wird vor allem Keys’ Voreingenommenheit, diesmal ein „Selection Bias“, bewiesen: Aufgrund seiner vorhergehenden Forschung war es ihm ein Leichtes, sieben Länder als Studienobjekte auszuwählen, von denen er bereits wusste, dass sie seine Theorie bestätigen würden. Ganz außen vor ließ er bei allen Studien indigene Völker wie die Massai, von denen er ebenfalls Daten kannte und wusste, dass diese ganz und gar nicht zu seinen Thesen passten.4

Ich möchte hier nur am Rande noch erwähnen, dass es an den Studien von Ancel Keys noch eine Menge anderer Dinge auszusetzen gibt als nur eine selektive Veröffentlichung oder verzerrende Vorauswahl. Auch die Methode der Datenerhebung und -auswertung ist alles andere als einwandfrei.5

Ancel Keys war übrigens auch Vorreiter der noch heute weitverbreiteten Ansicht, dass die gesündeste Ernährung die sogenannte Mittelmeerernährung wäre. Er gelangte über die Jahre zu der Überzeugung, dass für die Herzinfarkte und Schlaganfälle vor allem die gesättigten Fettsäuren verantwortlich wären – nicht die ungesättigten, die in Pflanzenölen wie etwa Olivenöl vorkommen. Die gesättigten Fettsäuren – vor allem in tierischen Fetten vorhanden – wären es, so Keys, die den Cholesterinspiegel ansteigen lassen und so zum Verstopfen der Arterien führen.

Es wird Sie vielleicht überraschen, dass es für all diese angeblichen Zusammenhänge bis zum heutigen Tag nicht den Hauch eines wissenschaftlichen Nachweises gibt6; trotzdem wurde über die Jahre in den einschlägigen Publikationen – vom Time Magazine bis zur Apothekenumschau – fleißig voneinander abgeschrieben, bis es alle glaubten, und noch heute werden Studiendaten im Licht dieser angeblichen Zusammenhänge interpretiert. Und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) richtet ebenfalls schon seit Jahrzehnten ihre Richtlinien an diesem Mantra aus.

Korrelation ist nicht gleich Kausation

An dieser Stelle möchte ich Sie kurz mit einem grundlegenden Bewertungskriterium für Studien bekannt machen. Wenn Sie dieses Kriterium verinnerlicht haben, haben Sie bereits einen ganz ordentlichen Kompass, oder, um bei unserem Bild zu bleiben, ein Fernglas an der Hand. Es gibt, grob vereinfacht, zwei verschiedene Studienarten: experimentelle und epidemiologische Studien.

Experimentell sind zum Beispiel Studien, die von Pharmaunternehmen durchgeführt werden, wenn ein neues Medikament zugelassen werden soll. Experimentelle Studien werden an Tieren oder freiwilligen Testpersonen durchgeführt, wobei die Kandidaten in der Regel in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Einer Gruppe wird ein Wirkstoff zugeführt, der anderen nicht. Alle anderen Versuchsbedingungen sollen in beiden Gruppen gleich sein. Am Ende soll so eine Aussage über die Wirksamkeit des Wirkstoffes ermöglicht werden.

Experimentelle Studien an Personen müssen drei Kriterien erfüllen: Sie müssen placebokontrolliert, randomisiert und doppelt-blind sein.

Was bedeutet dies?

•  Placebokontrolliert: Die Gruppe, die keinen Wirkstoff erhält, soll ein Placebo erhalten, also zum Beispiel eine Kapsel oder Tablette, die genauso aussieht wie das Präparat mit dem Wirkstoff. Die Testperson weiß nicht, dass es sich um ein Placebo handelt. So soll ausgeschlossen werden, dass das Ergebnis durch den Placeboeffekt, der immer auftritt, verzerrt wird.

•  Randomisiert: Wer von den Testpersonen den Wirkstoff und wer das Placebo erhält, wird nach dem Zufallsprinzip entschieden, also ausgelost. Damit soll zum Beispiel vermieden werden, dass nur besonders schwere Fälle den Wirkstoff bekommen, da dies das Ergebnis verfälschen würde.

•  Doppelt-blind: Wenn die Testpersonen Patienten sind, wissen weder Arzt noch Patient, ob Letzterer den Wirkstoff oder das Placebo erhält. Das heißt: Auch die Patienten, die den Wirkstoff erhalten, wissen nicht, dass dem so ist – und halten es daher für möglich, ein Placebo bekommen zu haben. Auf diese Weise wird wiederum die Verzerrung der Ergebnisse durch den Placeboeffekt vermieden.

Die Patienten, die den Wirkstoff erhalten, fühlen sich nicht allein durch die Gewissheit besser, dass sie nun ein neues Medikament erhalten haben – denn sie können sich darüber nicht sicher sein, wodurch der Placeboeffekt vergleichsweise gering gehalten wird. Das Gleiche gilt für die Patienten, die keinen Wirkstoff erhalten haben: Zwar wird auch in dieser Gruppe ein gewisser Placeboeffekt zu Buche schlagen, aber da dieser in beiden Gruppen in gleicher Weise hervorgerufen wird, heben sich diese beiden Effekte beim Vergleich der Gruppen auf.

Wie Sie sehen, beinhaltet dieses Studienmodell eine Menge Regeln, um Fehlerquellen auszuschließen. So wird sichergestellt, dass die Ergebnisse korrekt interpretiert werden und dass Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der Veränderungen im Befinden tatsächlich auf den Wirkstoff beziehungsweise auf den zu testenden Faktor zurückzuführen sind. Auch schon bei der Auswahl der Probanden legt man bestimmte Kriterien an, um eine möglichst gleiche Ausgangssituation zwischen den beiden Gruppen zu gewährleisten.

image

Eine 95-prozentige Korrelation zwischen zwei Graphen nach Daten aus dem U.S. Department of Energy & CDC7

Epidemiologische Studien sind Beobachtungsstudien. Das bedeutet, dass in bestehenden Bevölkerungsgruppen Gewohnheiten und Umstände über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, um einen möglichen Zusammenhang zwischen ebendiesen Gewohnheiten und den Lebensumständen abzuleiten. Und genau hier steckt die Krux.

Die obige Grafik stellt die Entwicklung der US-amerikanischen Rohölimporte aus Norwegen den Todesfällen durch Zugunfälle in den USA gegenüber, beides im Zeitraum 1999 bis 2009. Die beiden Kurven weisen eine auffallende Ähnlichkeit auf, jedoch würde keiner auf die Idee kommen, zwischen den beiden Entwicklungen ernsthaft einen ursächlichen, d.h. kausalen Zusammenhang herzustellen – auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so aussieht, als müsste dieser bestehen.

Von dieser Art Grafik könnte ich Ihnen noch viele zeigen, denn es gibt jede Menge Statistiken und es lassen sich die verrücktesten Parallelen herstellen, was recht amüsant sein kann.

Natürlich handelt es sich bei obiger Grafik nicht um das Ergebnis einer Beobachtungsstudie. Dennoch ist das eben Gesagte relevant für die Interpretation von Beobachtungsstudien. Denn bei diesen können immer nur Korrelationen – also parallele Entwicklungen – festgestellt werden, während es bei der Ableitung von Ursächlichkeit immer bei Hypothesen bleiben muss. Es gibt eine Reihe möglicher Szenarien, bei denen zwischen Umstand A und Umstand B eine Korrelation (eine ungefähr parallele Entwicklung) besteht, aber kein kausaler Zusammenhang, bei dem Umstand A den Umstand B verursacht.

1.  Der Zusammenhang existiert nur scheinbar, weil zwei Entwicklungen über einen bestimmten Zeitraum rein zufällig zusammenfallen (siehe obiges Beispiel).

2.  Beide Umstände werden durch einen dritten, nicht berücksichtigten Umstand in ungefähr dem gleichen Maße beeinflusst.

3.  Der kausale Zusammenhang besteht, aber genau umgekehrt als gedacht: Das heißt, Umstand B bedingt Umstand A.

4.  Umstand A ist für Umstand B nur indirekt verantwortlich, weil noch ein dritter Umstand C, der im Zusammenhang mit Umstand A sehr weitverbreitet ist, dazukommen muss, um Umstand B zu bewirken.

Nehmen wir zum Beispiel an, eine Beobachtungsstudie gelange zu dem Ergebnis, dass Kinder von nägelkauenden Eltern seltener das Abitur schaffen als Kinder von Nichtkauereltern. Ist das Nägelkauen der Eltern nun der Grund für die schlechtere schulische Leistung der Kinder? Die Verlockung mag groß sein, diesen kausalen Zusammenhang herzustellen.

Ebenso ist es aber theoretisch denkbar, dass

1.  überhaupt kein Zusammenhang besteht und in dieser Bevölkerungsgruppe und im Beobachtungszeitraum die Kinder von nägelkauenden Eltern rein zufällig schlechtere Leistungen erbrachten;

2.  ein anderer Faktor sowohl für das Nägelkauen der Eltern als auch für die schlechtere Leistung der Kinder verantwortlich ist, wie etwa auf die Familie einwirkender sozialer Stress;

3.  in Wirklichkeit die Eltern auf den Nägeln kauen, weil die Kinder in der Schule schlecht abschneiden oder dass

4.  nägelkauende Eltern oft ein Mittel auf die Finger auftragen, um sich das Nägelkauen abzugewöhnen, und dass dessen Ausdünstungen die Konzentrationsfähigkeit von Jugendlichen beeinträchtigen.

Aus diesen Gründen ist bei der Interpretation von Beobachtungsstudien äußerste Vorsicht geboten. Und um Beobachtungsstudien handelt es sich praktisch immer, wenn in irgendeiner Zeitschrift von neuen und bahnbrechenden Erkenntnissen über die Auswirkung von Kaffee, Erdbeeren oder Zahnpasta die Rede ist.

Und all dies sind weitere Gründe, weshalb auch die Ancel-Keys-Studien selbst dann mit großer Vorsicht zu genießen wäre, wenn bei der Datenerhebung sowie bei der Veröffentlichung nicht so viele verfälschende Faktoren aufgetreten wären.

Stellen wir uns also als letztes Gedankenexperiment vor, es träfe tatsächlich zu (was nicht der Fall ist – denken Sie an den Fliegendreck!), dass in einem Land umso mehr Todesfälle durch Herz-Kreislauferkrankungen auftreten, je mehr Fett konsumiert wird. Ist damit erwiesen, dass Fett zu Herz-Kreislauferkrankungen führt? Nein.

1.  Es könnte sein, dass es gar keinen Zusammenhang gibt und die augenscheinliche Korrelation rein zufällig ist.

2.  Es könnte sein, dass sowohl für die Herz-Kreislauferkrankungen als auch den Fettkonsum ein bisher nicht berücksichtigter Faktor verantwortlich ist, zum Beispiel ein stressiges Berufsleben mit häufigen mittäglichen Besuchen von Imbissbuden.

3.  Es könnte sein, dass in Wirklichkeit umso mehr Fett konsumiert wird, je mehr Herz-Kreislauferkrankungen es gibt, weil zum Beispiel Herz-Kreislauferkrankungen zu einer Stoffwechsellage führen, die Appetit auf Fett macht.

4.  Es könnte sein, dass zusammen mit Fett in der Regel viel Süßes konsumiert wird (denken Sie an Donuts), und in Wirklichkeit der Zucker allein oder der Zucker in Kombination mit dem Fett für Herz-Kreislauferkrankungen verantwortlich ist.

Natürlich sind Beobachtungsstudien deswegen noch lange nicht völlig sinnlos. Man kann durchaus versuchen, anhand der Ergebnisse sinnvolle Hypothesen aufzustellen – vorausgesetzt, man kennt die Schwächen der Methode und weiß diese angemessen zu berücksichtigen.

Die Wahrscheinlichkeit einer Zufälligkeit (Alternative 1) kann man schon mal dadurch minimieren, dass man möglichst viele Daten über einen möglichst langen Zeitraum sammelt. Hat man dies getan und besteht eine ausreichend große Korrelation zweier Umstände, so hat man die Bedingung der „statistischen Relevanz“ erfüllt. (Man kann dies natürlich auch erzwingen – wie das Ancel-Keys-Team, als es die Hälfte der Daten unter den Tisch fallen ließ, aber dann darf man sich nicht erwischen lassen!) Bei statistischer Relevanz ist davon auszugehen, dass es für die Korrelation einen Grund gibt. Dieser Grund muss aber, wie oben veranschaulicht, nicht unbedingt in einer direkten Kausalität bestehen – geschweige denn in der vielleicht intuitiv angenommenen Kausalität (Alternativen 2 bis 4).

Um bei unserem zuletzt betrachteten Beispiel zu bleiben: Man müsste zur Interpretation der Ergebnisse nun der Reihe nach die möglichen Schlussfolgerungen durchgehen und anhand der Fakten, die wir bereits kennen – zum Beispiel aus experimenteller Forschung an Mäusen oder Versuchspersonen – diejenigen ausschließen, die vergleichsweise wenig wahrscheinlich sind. Am Ende gelangt man so zu der Erklärung, die zum Zeitpunkt der Interpretation am wahrscheinlichsten ist, also am plausibelsten erscheint. Welche das ist, kann sich mit neuen Forschungsergebnissen und -erkenntnissen jederzeit ändern.

Es bleibt jedoch eines in jedem Fall festzuhalten: nämlich dass es sich bei der Interpretation von Beobachtungsstudien immer um Hypothesen handelt. Leider gehen Journalisten und manchmal auch Wissenschaftler mit dieser Tatsache sehr leichtfertig um und präsentieren die aufgestellten Hypothesen als Fakten. Ich denke, wenn Ihr Bewusstsein für diese Problematik einmal geschärft ist, wird Ihnen dies sehr häufig auffallen.

Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht, wenn ich gleich Folgendes vorausschicke:

Auch die Nützlichkeit der Paleo-Ernährung ist nur eine Hypothese.

Aber es gibt so einiges, das für sie spricht.

Die Paleo-Ernährung – eine gute Hypothese

KAPITEL
1

An dieser Stelle möchte ich erst einmal erzählen, wie ich zur Paleo-Ernährung gekommen bin.

Mit Anfang bis Mitte 20 war ich eine richtige Globetrotterin. Ich war nach meinem in München absolvierten Abitur zunächst für ein Jahr als Au-pair in den USA gewesen, und wenig später reiste ich wieder nach Amerika – diesmal als Stipendiatin an einem kleinen College. In Deutschland begann ich zwischendurch ein Studium im Fach Übersetzen und Dolmetschen, später mit Schwerpunkt Fachübersetzung Medizin/Biologie. Die Semesterferien verbrachte ich immer in den USA. Nach dem Vordiplom zog ich für einige Zeit nach Australien. Ich zog mit 25 die Bilanz, dass ich seit meinem Abitur nie länger als zwölf Monate am Stück im selben Land gelebt hatte.

Als ich von Australien zurückkehrte und widerstrebend in Heidelberg mein Studium wieder aufnahm, spielte erstmals mein Darm merklich verrückt. Ich war sehr ehrgeizig und hatte mir vorgenommen, mein Hauptstudium inklusive Diplomarbeit in nur drei statt vier Semestern durchzuziehen (was ich auch schaffte), um danach wieder ins Ausland gehen zu können (was ich nicht mehr schaffte). Daher schob ich meine Beschwerden geschlagene eineinhalb Jahre lang auf die Nervosität und den Stress – und erzählte keiner Menschenseele etwas von meinen furchtbaren Durchfällen und meinen Krämpfen, da ich dies als etwas unglaublich Peinliches und auch als Schwäche empfand.

Leider erwies es sich schließlich als nicht ganz so harmlos. Mitten in den Diplomprüfungen verschlechterte sich mein Gesundheitszustand drastisch. Ich hatte durch den Nährstoffmangel stark abgenommen und wurde von immer stärkerem Durchfall geplagt. Schließlich ging ich in München zur Hausärztin meiner Eltern – erst einmal ohne Ergebnis. Danach besuchte ich einen weiteren Hausarzt, und als der mich nach dem Ausschluss einiger Allergien und Unverträglichkeiten schließlich zur Darmspiegelung schickte, war wenig später klar: Ich habe Colitis ulcerosa (CU), eine unheilbare, chronische Erkrankung des Dickdarms.

Wie meine persönliche Tragödie ihren Lauf nahm

Diese Krankheit, so erfuhr ich, ist die Schwester des etwas bekannteren Morbus Crohn – mit dem Unterschied, dass Morbus Crohn meist in Teilen von Dünndarm und Dickdarm auftritt, während die Colitis ulcerosa ausschließlich den Dickdarm befällt, d.h. die letzten circa eineinhalb Meter des Darms. Geprägt sind beide Erkrankungen davon, dass die Darmschleimhaut sich entzündet und krankhaft verändert; daher werden sie unter dem Begriff „chronischentzündliche Darmerkrankungen“ (CED) zusammengefasst. Ich erfuhr außerdem, dass ich zu den wenigen Colitis-ulcerosa-Patienten gehöre, bei denen der gesamte Dickdarm betroffen ist. Klassifiziert werden sowohl Morbus Crohn als auch Colitis ulcerosa als sogenannte Autoimmunerkrankungen, da Teile des Immunsystems statt Erreger eigenes Gewebe angreifen und so eine chronische Entzündung hervorrufen. Zu dem enorm großen Spektrum der Autoimmunerkrankungen gehören auch solche Krankheiten wie Rheuma, multiple Sklerose und die Schilddrüsenerkrankung Hashimoto-Thyreoiditis; der grundlegende Mechanismus ist jeweils der gleiche, nur das betroffene Gewebe ist bei jeder Krankheit ein anderes. Allen Krankheiten gemein ist auch, dass sich Phasen der Remission (weitgehend symptomfreie Phasen) mit Schüben, also Phasen mit ausgeprägten Beschwerden, abwechseln.

Ich bekam also Medikamente und die Anweisung, diese mein ganzes Leben lang einzunehmen. Dann wurde mir noch eine Patientenbroschüre in die Hand gedrückt, und ich wurde verabschiedet.

Leider ging es nun mit mir nicht aufwärts, sondern weiter rapide abwärts. Ich hatte mich zum Glück einen Tag vor der Darmspiegelung noch mit Ach und Krach durch die letzte mündliche Diplomprüfung geschleppt, denn einen Tag danach bekam ich hohes Fieber und wurde bettlägerig. Ich ging mindestens 20 Mal am Tag auf die Toilette, hatte wässrigen und blutigen Durchfall. Ich bekam kein Essen mehr herunter und übergab mich ständig. Nach drei Tagen gab es kein Leugnen mehr: Ich musste ins Krankenhaus.

Dort angekommen, wurde ich zunächst mit Infusionen versorgt, um meinen schwer dehydrierten und geschwächten Körper wieder aufzupäppeln. Anschließend bekam ich Kortisontabletten. Damit wurden die Durchfälle nach wenigen Tagen besser und hörten schließlich auf. Als ich nach einer Woche entlassen wurde, fühlte ich mich so gut wie neu. Die Diagnose und das Erleben der Krankheit hatten mich zwar schockiert und nachhaltig verunsichert, dennoch blickte ich nun wieder mit Zuversicht in die Zukunft.

Da man mir im Krankenhaus nur einen sehr kleinen Kortisonvorrat mit nach Hause geben durfte, wurde ich zu dem Gastroenterologen geschickt, der meine Darmspiegelung durchgeführt hatte. Dieser hatte wie beim vorhergehenden Mal so gut wie keine Zeit für mich und stellte mir rasch ein Rezept aus sowieso einen Plan, nach dem ich das Kortison schrittweise absetzen sollte. Dann klärte er mich noch eilig darüber auf, dass Kortison Nebenwirkungen wie zum Beispiel das sogenannte „Mondgesicht“ (ein rundes Gesicht mit dicken Backen) und Gewichtszunahme haben würde und dass es beim Absetzen oft zu Rückschlägen käme, bei denen man dann die Dosis wohl oder übel wieder heraufsetzen müsste.

Die Erkenntnis, dass mein Kampf nun nicht einmal vorläufig – für diesen Schub – beendet war, sondern gerade erst angefangen hatte, traf mich wie ein Schlag. Wie benommen verließ ich in Begleitung meiner Mutter die Arztpraxis, mein Herz bleischwer und meine Gliedmaßen trotz des heißen Sommertages eiskalt. An diesem Tag begann eine Trauerphase, die genau genommen nie wirklich aufgehört hat.

Die folgenden Monate und Jahre fasse ich im Folgenden kurz zusammen. Es kam nicht so schlimm wie befürchtet – es kam weit schlimmer. Die Nebenwirkungen des Kortisons waren unerträglich: Ich konnte kaum noch schlafen, fühlte mich entsetzlich entstellt und litt an fürchterlich schmerzhaften Krämpfen in Beinen und Füßen. Die angekündigten Rückschläge führten dazu, dass sich das Absetzen des Kortisons über ein halbes Jahr hinzog. Bald darauf musste ich feststellen, dass es neben dem typischen schubweisen Verlauf der Krankheit auch noch einen sogenannten chronisch-aktiven Verlauf gab – und dass ich zu den „Glücklichen“ gehörte, die sich praktisch ständig im Schub befinden, wenn sie gerade kein Kortison nehmen. Also musste ich immer wieder über mehrere Monate Kortison einnehmen und genoss zuverlässig jedes Mal das volle Nebenwirkungsspektrum von der Kurzsichtigkeit bis zum Scheidenpilz.

image
Ich im Jahre 2007 mit „Mondgesicht“

Zusätzlich dazu bekam ich hohe Dosen eines Medikaments namens Mesalazin. Dies ist das Medikament, das eigentlich alle CU-Patienten zur lebenslangen Dauereinnahme verschrieben bekommen, weil es als gut verträglich gilt und zur Remissionserhaltung (also: Schubverhinderung) eingesetzt wird. Man nimmt es aber auch im Schub. Nach wenigen Jahren stellte sich leider heraus, dass ich das Medikament nicht vertrug: Eine seltene Nebenwirkung führte zur stetigen Verschlechterung meiner Nierenwerte.

Ein Ultraschall und eine Funktionsdiagnostik zeigten ein ernüchterndes Ergebnis: Meine Nieren waren durch eine ständige Entzündungsaktivität vernarbt und geschrumpft, beide Nieren zusammen leisteten nur noch etwa 30 Prozent der Arbeit von gesunden Nieren. Eine Verbesserung der Nierentätigkeit wurde mir nicht in Aussicht gestellt. Das Beste, was ich mir erhoffen dürfte, wäre eine möglichst lange Erhaltung des Status quo, hieß es. Der Trick dabei sei, viel zu trinken und keinen Durchfall zu haben. Hahaha! Wenn ich nicht so am Boden zerstört gewesen wäre, hätte ich vielleicht über diese Ironie lachen können, denn eine wichtige Behandlungsoption war für mich ja nun gerade weggefallen. Und besonders groß ist die Auswahl für Colitis ulcerosa nun wahrlich nicht.

Nach einer durch die Krankheit verkomplizierten Schwangerschaft und der (Früh-) Geburt meiner Tochter im Jahr 2007 – ich war 32 – empfahl mir mein Gastroenterologe in meiner neuen Heimat Leipzig, ernsthaft über eine Komplettentfernung des Dickdarms nachzudenken. Die meisten alternativen Therapieansätze mit Immunsuppressiva schieden für mich paradoxerweise genau aufgrund der Niereninsuffizienz aus. Ein Versuch mit einem Medikament aus der relativ neuen Wirkstoffgruppe der TNF-Antikörper, Remicade, endete damit, dass ich mit einem schweren allergischen Schock in die Notaufnahme gebracht wurde. Die Operation wurde mir als eine rettende Maßnahme, ein Licht am Ende des Tunnels, nahegelegt. Mich jedoch schreckte nichts mehr ab als dies. Ich wollte unter keinen Umständen akzeptieren, dass die Entfernung des vom Immunsystem attackierten Organs meine einzige und letzte Option sein sollte.

Ein Ende mit Schrecken – oder Schrecken ohne Ende?

Natürlich kann man irgendwie ohne Dickdarm leben, aber umsonst ist er auch nicht da! Dort werden Wasser (besonders wichtig für meine Nieren!), Mineralien und, wie inzwischen bekannt ist, sogar einige Vitamine und kurzkettige Fettsäuren resorbiert. Ohne Dickdarm lebt man entweder mit einem künstlichen Darmausgang oder mit einem sogenannten J-Pouch, für den aus dem Ende des Dünndarms operativ ein Reservoir im Körperinneren gebildet wird, das den Stuhl sammelt, bevor er ausgeschieden wird. Ich wusste aber, dass all dies auch mit Risiken behaftet ist und dass man selbst nach gelungener J-Pouch-Operation und guter Prognose circa fünfmal am Tag Stuhlgang hätte – für den Rest seines Lebens (wenn der J-Pouch hält).

All die Jahre hatte ich mich immer daran festgehalten, dass, wenn es möglich ist, nach 25 Jahren Gesundheit krank zu werden, es doch auch möglich sein muss, nach x Jahren Krankheit wieder gesund zu werden. Die Entfernung des Dickdarms hätte die ganze Sache unumkehrbar gemacht, es hätte mein Schicksal in gewisser Weise besiegelt. Ich stellte mir immer vor, wie ich mir an dem Tag in den Hintern treten würde, an dem ich von der Entdeckung lese, wie die Colitis ulcerosa geheilt werden kann.

Denn da nicht bekannt ist, wie die Colitis ulcerosa entsteht, gibt es auch keine Heilung – so wie bei allen Autoimmunerkrankungen. Man weiß seit einigen Jahren, dass ein paar spezielle Gene dabei eine Rolle spielen, aber das hilft dem Betroffenen und seinem Arzt nicht weiter. Die Therapie besteht also momentan darin, das Entzündungsgeschehen durch eine mehr oder weniger gezielte Unterdrückung des Immunsystems einzudämmen.

Da mein Leidensdruck über all die Jahre teilweise sehr groß war, hatte ich zusätzlich zu den vom Arzt verschriebenen Medikamenten immer wieder diverse alternative Therapieansätze ausprobiert. Hier ist eine kleine Liste meiner Experimente:

Yoga, Meditation, Autogenes Training, Psychotherapie, Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Schüssler-Salze, Homöopathie, Weihrauchkapseln (Ayurveda), Fischöl, klassische Phytotherapie, Irisdiagnose, Narbenentstörung, Magnetfeldtherapie, manuelle Therapie, Autosuggestion, nahezu zwanghaft betriebener Ausdauersport, Kolostrumkapseln, geriebene Mangokerne (wieder Ayurveda), unendlich viele Tees und Nahrungsergänzungsmittel und sicher noch einiges andere, das mir jetzt nicht einfällt.

All diese Ansätze gaben mir zwar für kurze Zeit Hoffnung, die meisten kosteten aber letztendlich vor allem Geld und damit Nerven, denn ich war immer knapp bei Kasse – die Krankheit hatte meine Karrierepläne zunichtegemacht. Habe ich schon erwähnt, dass Stress sich extrem negativ auf Autoimmunerkrankungen auswirkt? Nein? Dann ist dies der richtige Zeitpunkt, denn Stress kann sogar einen Schub auslösen oder verschlimmern. Wie bei so vielen Dingen befindet sich der chronisch Kranke auch hier wieder in einem Teufelskreis, denn je kränker er ist, umso gestresster ist er, und je gestresster er ist, desto kränker wird er.

Aber zurück zu den Therapien. Eine Frage, die ich meinen Ärzten immer wieder stellte, war diese: Wie soll ich mich mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung ernähren? Und immer wieder bekam ich zu hören, dass die Ernährung entweder keine Rolle spiele oder komplett individuell sei: Was der eine Patient verträgt, ist für den anderen Gift. Mit einer Ausnahme: Ein Arzt empfahl mir, sehr fettarm und ansonsten ballaststoffreich zu essen, im Schub jedoch auf Ballaststoffe ganz zu verzichten. Da ich mich ja fast ständig in der Grauzone zwischen Schub und Remission befand, war dies nicht praktikabel, und auch der Fettverzicht brachte mir keine Besserung.

Dass die Ernährung für eine Krankheit des Verdauungstraktes so völlig unbedeutend sein sollte, erschien mir merkwürdig, aber ich vertraute auf diese Information und war sogar ein bisschen froh darüber, dass ich wenigstens beim Essen nichts Besonderes beachten und auf nichts verzichten musste.

Ein zögerlicher Neubeginn

Nun hatte ich nach der Sache mit dem schweren allergischen Schock mal wieder im Internet herumgesurft, um herauszubekommen, ob eine solche Reaktion wirklich so selten sei. Dabei stieß ich auf ein US-amerikanisches Forum über chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und meldete mich dort an. Meine ausgedehnten Aufenthalte in den USA zu Au-pair- und Studienzeiten ermöglichten es mir, mit den Leuten dort schnell warm zu werden, und schon bald zählte ich einige der aktivsten Foristen zu meinen guten Freunden. Schließlich lernte ich über Umwege – und über Facebook – CED-Betroffene kennen, die angaben, ihre Krankheit mit einer speziellen Ernährung unter Kontrolle zu haben.

Anfangs stand ich dem Ganzen äußerst kritisch gegenüber – wenn es so einfach wäre, würden es uns doch die Ärzte sagen, oder? Ich wollte nicht schon wieder viel Energie und Hoffnung in etwas stecken, das mich am Ende doch enttäuschen würde. Ich war vorerst zufrieden damit, in einer Gemeinschaft gelandet zu sein, wo man meine Ängste und Sorgen endlich verstand und mich unterstützte – und ich hatte wenig Lust auf irgendwelche Besserwisser, die meinen, wenn man nur will, dann wird man auch gesund.

Da ich aber schließlich wieder sehr unter Kortison-Nebenwirkungen litt, las ich mich ein, wieder auf amerikanischen Blogs und Webseiten. Diese Paleo-Ernährung klang gar nicht so übel. Ziemlich anders als alles, was ich bisher gehört hatte. Ich wagte den Sprung ins kalte Wasser.

Schon nach einer Woche ging es mir deutlich besser. Ich konnte es nicht glauben. Warum zur Hölle hatte man mir von dieser verdammten Wunderdiät nicht eher erzählt? Ich fühlte mich normal, endlich einmal wieder normal! Und das Unfassbare geschah: Ich setzte alle Medikamente ab – und fühlte mich weiter normal. Also, für mich höchst unnormal, nämlich fabelhaft!

image

Darmspiegelung vor und nach Paleo

Nach fünf Monaten führte mein Gastroenterologe eine Spiegelung meines Enddarms durch und war etwas perplex, da außer leichten Vernarbungen keine Krankheitszeichen zu sehen waren. Nicht die Spur einer Entzündung. Wow! Das war in meiner gesamten Darmspiegelungskarriere noch nie vorgekommen.

Da ich selber keine Bilder meiner innerlichen Transformation habe, sehen Sie an dieser Stelle stattdessen Bilder einer Colitisulcerosa-Patientin aus den USA, die mir freundlicherweise erlaubt hat, ihre inneren Werte zu veröffentlichen. Diese Fotos sind ohnehin spektakulärer als meine es gewesen wären, da bei ihr der ganze Dickdarm gespiegelt wurde und man daher in diesen Bildern den Querdarm bewundern kann.

Die ersten zwei Bilder (obere Zeile) wurden am Tag ihrer Diagnose gemacht. Die Schleimhaut ist gerötet und geschwollen, es sind weißliche Beläge zu sehen und die Gefäßzeichnung ist verschwunden.

Die beiden unteren Bilder entstanden einige Monate, nachdem die Patientin mit der Paleo-Ernährung begonnen hatte und ohne dass sie in der Zwischenzeit Medikamente eingenommen hatte. Die Schleimhaut ist blass und ohne Beläge, die Gefäßzeichnung gut sichtbar, und ganz anders als vorher sind hier auch die Haustren gut definiert – das sind diese Einstülpungen, die hier wie Tore aussehen. Der Dickdarm sieht damit völlig gesund aus.

Wie diese Patientin war auch ich überglücklich, strotzte vor Energie, und mit das Beste: Ich hatte keine Nebenwirkungen mehr.

Für mich war klar: Die Ernährung hat einen absolut entscheidenden Einfluss auf den Verlauf dieser Erkrankung, und ich wusste durch meine Aktivität in Patienten-Communities, dass ich nicht allein war. Und ebenfalls, dass auch Menschen mit völlig anders gelagerten Gesundheitsproblemen eine erstaunliche Wirkung beobachteten. Wie ist das zu erklären?

image
Ein Schnappschuss aus dem Jahr 2012

Der moderne Mensch und seine Steinzeitgene

Wir Menschen waren etwa 2,5 Millionen Jahre lang Jäger und Sammler. So lange dauerte die Altsteinzeit, das Paläolithikum, aus dessen englischer Übersetzung (Paleolithic Age) sich das Wort „Paleo“ bzw. „Paleo-Ernährung“ ableitet. Die Altsteinzeit ist damit der längste Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Sie hörte hier in Europa erst vor etwa 7.000 Jahren auf, als der Mensch mit Ackerbau und Viehzucht begann und so die Jungsteinzeit, das Neolithikum einläutete.

Loren Cordain, US-amerikanischer Wissenschaftler und Autor, verglich in seinem 1999 erschienenen Aufsatz „Das Getreide – Zweischneidiges Schwert der Menschheit“ die Vielfalt der von Menschen konsumierten Nahrungsmittel heute mit dem eigentlich von der Pflanzenvielfalt auf unserem Planeten bereitgestellten Potenzial.1 Er stellte fest, dass die meisten der circa 195.000 bekannten blühenden Pflanzenarten essbare Teile produzierten, dass der moderne Mensch aber nur etwa 300 davon nutze. Schlimmer noch, nur etwa 17 Pflanzenarten stellten 90 Prozent des pflanzlichen Nahrungsmittelkonsums, von denen wiederum das Getreide den bei weitem größten Anteil ausmache. Dies, so Loren Cordain, sei umso bemerkenswerter, als wir vor einem aus evolutionärer Sicht sehr kurzen Zeitraum (circa 500 Generationen) noch gar kein Getreide kannten. Das Getreide wurde erst im Neolithikum aus Gras gezüchtet; Getreidekörner sind in ihrer Urform daher Grassamen. Gras ist für uns, wie wir wissen, unverdaulich; es kann nur von Wiederkäuern verwertet werden.

Es ist aber nicht nur so, dass wir jetzt den überwältigenden Großteil unserer Nährstoffe aus einer Nahrungsmittelgruppe beziehen, die wir vor 15.000 bis 7.000 Jahren noch nicht kannten. Nein, es kommt auch noch hinzu, dass wir innerhalb noch viel kürzerer Zeit, also im Zeitraum der letzten 100 bis 200 Jahre, aufgehört haben, unsere Nahrungsmittel auf traditionelle Art und Weise zu produzieren und zu verarbeiten. Dies wurde sehr eindrücklich von Weston A. Price (1870-1948), einem Zahnarzt, der traditionell lebende Urvölker beobachtete, beschrieben. Seine jahrelangen und durch Tausende von Fotografien dokumentierten Beobachtungen sind auch deshalb so relevant, weil unter diesen Völkern einige Jäger- und Sammlerkulturen überlebt haben, die uns als Fenster in unsere Vergangenheit dienen können.

Ein Zahnarzt auf Abwegen

In seinem 1939 erschienenen Werk „Nutrition and Physical Degeneration“ untersucht Price den Gesundheitszustand isoliert lebender Urvölker und konzentriert sich dabei auf das Gebiss und die Schädelform.2 Deren Gesundheitszustand vergleicht er mit dem benachbarter, weniger isolierter Stämme oder Völker, bei denen bereits eine „westliche“, von Industrialisierung geprägte Ernährungsweise Einzug gehalten hat. Er demonstriert anhand von Fotos, dass es innerhalb von nur einer Generation schon zu verkleinerten Kiefern und Zahnfehlstellungen kommt. Dies führt er auf die Ernährung der Eltern der betroffenen Kinder zurück; eine westliche Ernährung, die qualitativ schlechter, also weniger biologisch geeignet sei und daher der Entwicklung des Nachwuchses schon bei der Zeugung und dem Heranwachsen im Mutterleib schade. Auch Karies habe er bei den isoliert lebenden Völkern vergeblich gesucht – obwohl die nicht mal ihre Zähne putzten – ganz anders als bei den erst seit Kurzem westlich ernährten Völkern, bei denen Karies und Zahnausfall verbreitet wären.