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Bei einem Einsatz fährt Cade, der tiefgläubige Polizeichef von Cape Refuge, einen Fußgänger an. Im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, dass der Unbekannte vor dem Unfall angeschossen wurde. Ein Mord- oder Selbstmordversuch? Trotz Not-OP stirbt der Mann und Cade macht sich schwere Vorwürfe. Hätte er ihn retten können?

Und dann ist Cade am nächsten Morgen spurlos verschwunden. Doch niemand scheint sich ernsthaft Sorgen zu machen, stattdessen findet man sein Verschwinden verdächtig. Blair Owens, eine Freundin Cades, ist von seiner Unschuld überzeugt und macht sich allein auf die Suche. Dadurch wird sie auch mit Cades Glauben, den sie selbst ablehnt, konfrontiert. Kann sein Gott ihr helfen, ihn zu finden?

Foto Terri Blackstock Die amerikanische Autorin Terri Blackstock fand bereits im Alter von 14 Jahren zum Glauben an Jesus Christus. Doch zunächst schrieb sie erfolgreich unter zwei Pseudonymen, ohne dass sich ihr Glaube in ihren Büchern widerspiegelte. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs erlebte sie dann aber eine „geistliche Erweckung“, wie sie es selbst bezeichnet. Seitdem nutzt sie ihre Fähigkeiten für Gott und schreibt nur noch Bücher, die auf Jesus Christus hinweisen. In ihren Romanen verbindet sie nun auf unnachahmliche Weise spannende Unterhaltung mit tiefgründigen Fragen zum christlichen Glauben. Weltweit wurden bereits mehr als sechs Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft und ihre Romane standen mehrfach auf den Bestseller-Listen der New York Times.

Terri Blackstock

Die einzige Hoffnung

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Aus dem Englischen von Johanna Utsch

 

 

Die Bibelzitate sind der überarbeiteten Elberfelder-Übersetzung (Edition CSV-Hückeswagen) entnommen.

 

Originally published in the U.S.A. under the title: Southern Storm

Copyright © 2003 by Terri Blackstock

Translation Copyright © 2013 by Terri Blackstock

Translated by Johanna Utsch

Published by permission of Zondervan, Grand Rapids, Michigan

www.zondervan.com

 

Titelfotos:

© Icefields | Dreamstime.com (Hintergrundbild)

© John Roman Images | www.shutterstock.com (Polizist)

Foto Umschlagrückseite: Robert Neumann

Umschlaggestaltung und Satz: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

E-Book Erstellung: Stefan Böhringer, eWort

 

Paperback:

ISBN 978-3-942258-02-9

Art.-Nr. 176.802

 

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-52-4

Art.-Nr. 176.852

 

Copyright © 2013 BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

 

www.boas-media.de

 

 

 

Dieses Buch entstand aus Liebe zu dem Nazarener, Jesus von Nazareth.

Danksagungen

Ich arbeite jetzt seit über zwanzig Jahren als Schriftstellerin und bereits vor langer Zeit habe ich erkannt, dass das Schreiben nie einfacher wird. Tatsächlich ist es sogar so, dass es bei jedem neuen Buch schwieriger ist als bei dem vorherigen. Glücklicherweise gibt es in meinem Leben Menschen, die mir helfen. Einigen von ihnen möchte ich heute danken.

Ein Dankeschön geht an meine lieben Freunde (und deren Familien) von ChiLibris, einer Gruppe christlicher Schriftsteller, die mich immer wieder an meine Verantwortung erinnern und mich ständig herausfordern, damit ich als Schriftstellerin und Persönlichkeit wachse. Schreiben kann zu einem einsamen Leben führen, aber ChiLibris verbindet mich mit anderen, die diese Leidenschaft mit mir teilen. Auch James Scott Bell, einem Anwalt, der Schriftsteller geworden ist, bin ich Dank dafür schuldig, dass er all meine juristischen Fragen mit solcher Geduld beantwortet hat. Und außerdem danke ich Dr. Harry Kraus Jr., einem Chirurgen, der Schriftsteller geworden ist, dass er medizinische Notfälle mit mir inszeniert hat und mir dabei geholfen hat, sie richtig zu beschreiben.

Ein besonderes Dankeschön für ihre ausgezeichnete Arbeit geht an die Mitarbeiter von Zondervan, die dafür sorgen, dass meine Bücher in die Buchhandlungen kommen. Mehr Dank, als ich sagen kann, schulde ich Dave Lambert, Sue Brower, Lori VandenBosch, Bob Hudson und den anderen Schriftstellerkollegen.

Mein Dank geht auch an Greg Johnson, meinen Literaturagenten, den Gott vor acht Jahren scheinbar für mich einfach vom Himmel fallen ließ. Er ist für mich der Beweis, dass ich nicht fehlgehen kann, wenn ich Gottes Anweisungen folge.

Und zum Schluss danke ich meinem Mann Ken dafür, dass er mit mir Ideen gesammelt und mich ermutigt und angetrieben hat, wenn der Abgabetermin näher kam und meine Kreativität erschöpft zu sein schien. Ich schätze deine ständigen Erinnerungen daran, dass ich bisher bei jedem Buch in Panik geraten bin und dass am Ende gewöhnlich doch alles gut geklappt hat.

Leben Ohne Konflikt

kap

Der Wetterdienst von Georgia hatte einen Sturm der Windstärke 9 vorhergesagt. Diese Vorhersage hatte sich zu Cades Verdruss nicht nur bewahrheitet, sondern war sogar noch übertroffen worden. Als Chef der kleinen Polizeieinheit von Cape Refuge konnte er gegen die Verwüstung, die der über die Insel hinweg in Richtung Savannah tobende Sturm anrichtete, wenig ausrichten. Aber die Sicherheit der Inselbewohner lag ihm immer am Herzen.

Auch wenn es erst zwei Uhr nachmittags war, war der Himmel nachtschwarz.

Blitze zuckten wie weißglühende Strahlen über den Himmel, schlugen auf der Insel ein oder entluden sich über dem tosenden Atlantik. Donner grollten ununterbrochen. Der Regen prasselte so stark hernieder, dass Regenschirme gänzlich nutzlos waren und Straßen überflutet wurden.

Cade musste sich anstrengen, um durch die verregnete Windschutzscheibe seines Streifenwagens etwas sehen zu können. Der Regen, der auf das Dach trommelte, und die Scheibenwischer, die quietschend seine Frontscheibe freiwischten, machten es ihm schwer, die von Knistern überlagerten Meldungen aus dem Funkgerät am Armaturenbrett zu verstehen. Er drehte die Lautstärke hoch.

Man hatte ihn über drei Unfälle mit Blechschaden in Cape Refuge und eine vom Gewitter zerstörte Starkstromleitung in der Nähe der Eigentumswohnungen am nördlichen Strand informiert.

Wenn die Leute drinnen bleiben würden, könnten vielleicht weitere Probleme vermieden werden. Aber dieser Wunsch würde niemals in Erfüllung gehen. An Tagen wie diesen fuhren die Inselbewohner trotz des Unwetters genauso schnell wie an trockenen, sonnigen Tagen. Wirbelsturmjäger standen auf ihren Veranden und suchten den Himmel nach Trichterwolken ab. Und die waghalsigsten unter den Einheimischen ignorierten die Gefahr durch die Blitze und stürzten sich mit ihren Surfbrettern in die Wellen, um bei diesem Gewitter einen unbeschreiblichen Nervenkitzel zu erleben.

Man überließ es Cade und seiner Polizeitruppe, das Chaos zu beseitigen und neue Katastrophen abzuwenden.

Die Stimme des Polizeidisponenten klang knisternd aus dem Funkgerät und Cade griff nach dem Mikrofon. „Was gibt’s, Sal?“

„Chief, in der Nähe der Docks liegt noch eine vom Gewitter zerstörte Starkstromleitung auf der Straße. Sie müssen den Verkehr umleiten, sonst wird sich noch jemand verletzen.“

Cade seufzte. „In Ordnung, ich bin schon unterwegs.“

Er steckte das Mikrofon zurück in die Halterung und schaltete das Blaulicht ein. Er wendete, fuhr zurück, um die Südspitze der Insel herum und dann in nördlicher Richtung zu den Docks. Er musste verhindern, dass die Leute über die stromführende Leitung fuhren. Er hoffte, dass man beim Elektrizitätswerk schnell reagieren und die Servicefahrzeuge herschicken würde.

Die Scheibenwischer strichen unentwegt über die Windschutzscheibe, aber es regnete so stark, dass seine Sicht trotzdem eingeschränkt war. Er musste sich anstrengen, um überhaupt etwas erkennen zu können.

Die meisten Autos fuhren zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Er schaltete die Sirene ein, um auch die Übrigen auf sich aufmerksam zu machen, aber drei oder vier Wagen fuhren weiter auf der Spur vor ihm her.

„Aus dem Weg!“, schrie er und fuhr so dicht auf das nächste Auto auf, dass er damit rechnen musste, beim nächsten Bremsen auf dessen Fahrersitz zu landen.

Glücklicherweise wich der Mann zur Seite aus. Doch die anderen Wagen vor ihm hatten ihn bisher weder gehört noch gesehen. Also fuhr er, die Sirene immer noch eingeschaltet, hinter das nächste Auto. Einen Häuserblock weiter sah Cade einen Mann auf der anderen Straßenseite stehen, der den Regen gar nicht wahrzunehmen schien. Die vorbeifahrenden Autos bespritzten ihn mit Wasserfontänen, aber er stand nur da und starrte auf den vorbeifahrenden Verkehr.

Der Wagen vor Cade fuhr immer noch nicht zur Seite, und so hämmerte er auf die Hupe. Die Gegenfahrbahn in Richtung Süden hatte sich geleert, da die Autofahrer auf den Seitenstreifen des Ocean Boulevard auswichen. Er setzte zum Überholen an, fuhr auf die Gegenfahrbahn und beschleunigte leicht.

Der Mann stand immer noch am Straßenrand, völlig durchnässt und geistesabwesend. Cade wusste, dass er ihn beim Vorbeifahren nassspritzen würde. Warum ging der Mann nicht weg?

Er ließ die Sirene eingeschaltet und drückte wieder auf die Hupe, während er auf der Gegenfahrbahn weiterfuhr. Jetzt war er auf gleicher Höhe mit dem Auto, das ihm nicht auswich. Er schaute zum Fahrer hinüber und dieser schaute ihn ebenfalls an. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es war ein Jugendlicher, wahrscheinlich ein Fahranfänger, der nicht wusste, wie er reagieren sollte. Der Teenager machte eine Vollbremsung.

Cade trat aufs Gaspedal und schaute wieder nach vorne – gerade in dem Augenblick, in dem der Fußgänger vor sein Auto lief.

Cade schrie auf und trat voll auf die Bremse. Sein Wagen rutschte genau auf den Mann zu ...

Ein Gewitterdonner krachte im selben Moment wie der Knall des Aufpralls. Der Mann flog über die Motorhaube, knallte in Cades Windschutzscheibe und zerschmetterte sie ... dann wurde er vor das Auto geschleudert und blieb regungslos mitten auf der Straße liegen. Cade war für einige Sekunden wie gelähmt, dann tastete er nach dem Türgriff und stieg aus. Der Regen prasselte auf ihn nieder und der Wind stieß ihn beinahe wieder in sein Auto zurück. Er rannte zu dem Mann.

Oh Gott, was habe ich nur getan?

Er hörte Leute rufen und Türen schlagen, als andere Autofahrer ausstiegen und platschend zu dem Mann hinliefen.

Cade erreichte ihn als Erster und kniete sich ins handbreit hoch auf der Straße stehende Wasser. Der Verletzte schlug langsam die Augen auf und seine Lippen bewegten sich lautlos. Cade griff nach dem Funkgerät an seiner Schulter. „Sal, ich brauche einen Rettungswagen. Wir befinden uns nur eine halbe Meile vom Hafen entfernt.“ Er schrie die Worte heraus, um sicherzustellen, dass er auch verstanden wurde. „Es ist dringend! Ich habe gerade einen Fußgänger angefahren!“

„Ist schon unterwegs, Chief!“, antwortete der Polizeidisponent.

Cade berührte den Kopf des Mannes, vorsichtig, um ihn ja nicht zu bewegen. Warmes Blut lief über seine Hand, aber der Platzregen spülte es schnell wieder weg.

„Können Sie mich hören?“

Der Mann versuchte zu sprechen, aber Cade konnte ihn nicht verstehen. Wieder donnerte es.

Er tastete nach dem Hals des Mannes, der Puls war schwach und unregelmäßig.

„Halten Sie durch! Sie werden wieder gesund! Bitte halten Sie nur durch!“ Um die Blutung zu stoppen, drückte er auf die Wunde am Hinterkopf des Mannes. Aber er verlor so viel Blut ... zu viel ...

Der Mann versuchte sich aufzurichten und diesmal konnte Cade seine Reibeisenstimme hören. ,,Sie müssen ... bitte ... außer Kontrolle ...“

„Nicht bewegen!“ Was musste man noch mal bei einer offenen Kopfwunde tun?

Er hörte Sirenen und rufende Stimmen. Jemand spannte einen Regenschirm über ihnen auf, ein schwacher Versuch, das Opfer vor dem Unwetter zu schützen, aber der Sturm ließ ihn umschlagen. Ein anderer legte einen Regenmantel über den Mann ...

Blitze zuckten, Donner grollten ...

„Cade“, sagte jemand, ,,er ist dir direkt vors Auto gelaufen.“

Das Blut strömte nur so aus der Wunde. Der Puls des Mannes wurde immer schwächer. Wo blieb nur der Krankenwagen?

„Ich habe ihn gesehen. Er war wie in Trance oder so was.“

„Ist er tot, Cade?“

Das Sirenengeheul kam näher und er betete, dass die Leute von der Straße wegblieben und den Krankenwagen durchließen. Dieser hielt dicht neben ihm an, und Cade hörte Leute auf sich zulaufen. Sanitäter knieten neben dem Verletzten nieder und Cade machte ihnen Platz. „Er hat eine Kopfverletzung“, rief er laut, um den Sturm zu übertönen. „Er ist gegen meine Windschutzscheibe geprallt.“

Während die Sanitäter sich um den Mann kümmerten, trat Cade weiter zurück. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Ich habe einen Mann angefahren ... einen unschuldigen Mann ...

Er flüsterte Stoßgebete vor sich hin, in denen er um ein Wunder bat. Der Mann durfte einfach nicht sterben. Das war sein Hauptanliegen. Polizisten hatten die Aufgabe, Menschen vor Gefahren zu beschützen und nicht, sie zu töten.

„Ruf einen Rettungshubschrauber, Cade!“, rief einer der Sanitäter. „Und mach uns den Weg frei. Dem Mann bleibt nicht mehr viel Zeit.“

„Der Helikopter kann bei dem Wetter nicht fliegen. Ihr müsst ihn ins Krankenhaus fahren.“ Er half den Sanitätern, den Mann in den Krankenwagen zu tragen, und stoppte dann den Verkehr, damit sie abfahren konnten.

Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich zusammenzureißen. Einer musste hier die Leitung übernehmen. Aber was tat ein Polizeichef, wenn er selbst beinahe einen Menschen getötet hätte?

Er drehte sich um und sah einige seiner Polizeibeamten auf sich zukommen.

„J.J., leiten Sie den Verkehr um“, rief er. „Halten Sie die Autos von diesem Häuserblock fern, bis wir hier fertig sind. Jim, fahren Sie zu den beschädigten Stromleitungen in der Nähe der Docks und regeln Sie den Verkehr dort. Alex, nehmen Sie den Unfall auf und machen Sie Fotos davon.“

„Aber Cade, sind Sie sicher, dass Sie den Unfall nicht selbst aufnehmen wollen?“

„Ich muss ins Krankenhaus fahren und mich erkundigen, ob er durchkommt.“ Seine Stimme brach. „Schreiben Sie einfach den Bericht und behandeln Sie mich wie jeden anderen Autofahrer, der einen Fußgänger angefahren hat. Rufen Sie mich auf dem Handy an, wenn Sie Fragen haben. Wenn ich in Savannah ankomme, sollte ich wieder Empfang haben.“ Er ging zu seinem Wagen zurück und stieg ein.

Durch die zerbrochene Windschutzscheibe sah er, dass Alex ihm nachschaute, als ob er nicht wüsste, was er tun solle. Dann drehte er sich um und begann, einen Zeugen zu befragen.

Cade schloss die Augen und ließ seinen Kopf aufs Lenkrad sinken. Es könnte passieren, dass der Mann stirbt.

Warum nur war er auf die Straße gelaufen? Er hätte Cade doch sehen müssen. Blaulicht und Sirene waren eingeschaltet. Selbst Autofahrer, die ihre Radios eingeschaltet hatten und deren Klimaanlagen brummten, hatten ihn gehört und waren ausgewichen. Wie konnte der Mann dann direkt vor einen vorbeirasenden Polizeiwagen laufen?

Er fühlte sich, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt. Das Atmen fiel ihm schwer und seine Schläfen begannen zu pochen.

Er griff nach den Schlüsseln, die noch im Zündschloss hingen. Aber dann wurde ihm bewusst, dass er erst fortfahren konnte, wenn der Unfallort geräumt war. Außerdem konnte er nicht mit einer zersplitterten Windschutzscheibe fahren.

Er stieg wieder aus und schritt durch den Regen davon.

„Wohin gehen Sie, Chief?“, fragte Alex.

„Ich suche jemand, der mich zur Polizeistation zurückbringt, damit ich dort meinen eigenen Wagen holen kann.“

„Ich fahre dich hin, Cade!“, sagte Melba Jefferson, eine kleine rundliche Frau, die in die gleiche Gemeinde ging wie er und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, andere in Zeiten der Not zu trösten. Sie stand ganz in der Nähe und kämpfte verzweifelt mit ihrem Regenschirm, der immer wieder umschlug.

„Okay, Melba“, antwortete er. „Dann lass uns fahren.“

Sie führte ihn zu ihrem Auto, dass sie am Straßenrand geparkt hatte. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, während sie mit ihrer rundlichen Figur auf den Fahrersitz glitt.

„Geht es dir gut, mein Lieber?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um mich, Melba. Da liegt gerade ein Mann im Sterben.“

Sie griff nach hinten und holte ein Päckchen Papiertaschentücher vom Rücksitz.

„Schau, deine Hände sind ganz blutig.“

Cade sah auf seine Hände hinab. Das Blut des Mannes klebte an ihnen, obwohl der Regen es schon ein wenig abgewaschen hatte. Er nahm sich mehrere Taschentücher und wischte die Blutreste ab.

Als Melba losfuhr, machte Alex ihr den Weg frei, sodass sie wenden und zur Polizeistation zurückfahren konnte. Während der Fahrt schwieg sie, was Cade zu schätzen wusste. Sie wusste genau, wann Worte angebracht waren und wann nicht.

Sie fuhr ihn zur Polizeistation und bog dort in eine Parklücke ein. „Ich werde ein paar Leute benachrichtigen, dass sie für euch beten“, sagte sie.

Er nickte. „Mach das! Danke fürs Herbringen, Melba.“

Cade lief über den geschotterten Parkplatz zu seinem Wagen, sprang hinein und fuhr davon, bevor Melba ihren Wagen gewendet hatte.

kap

„Soll das ein Aprilscherz sein?“ Blair Owens lehnte sich über den kleinen Konferenztisch in der engen Bücherei und tippte mit dem Stift auf ihre Handfläche. „Wenn es einer war, mache ich mich besser wieder an die Arbeit.“

„Das ist kein Aprilscherz“, antwortete Morris Ambrose. „Der erste April war letzten Donnerstag.“

Sie lachte. „Leute, ihr könnt doch nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich für das Bürgermeisteramt kandidiere. Das ist Unsinn. Das ist total lächerlich. Und an deiner Stelle würde ich es nicht laut sagen, Morris, denn du könntest sonst deinen Sitz im Stadtrat verlieren. Die Leute werden denken, dass du langsam verrückt wirst.“

Morris ließ sich nicht abschrecken, ebenso wenig wie die anderen drei, die mit ihm gekommen waren. Es waren Jerry Ann Shepp, die den Cape Refuge Raquet Club betrieb, Matt Pearl, dem das teuerste Restaurant der Stadt gehörte, und Gerald Madison, der Besitzer des Madison Boat Shops.

„Blair, denk doch noch mal eine Minute darüber nach“, sagte Gerald, während er sich die Schweißperlen von der Oberlippe wischte. „Das Bürgermeisteramt ist unbesetzt, seit Fred ins Gefängnis musste. Einige Kandidaten sind echtes Gesindel. Sam Sullivan ist so dumm wie Brot und Ben Jackson hasst das große Geschäft.“

Blair grinste und schüttelte den Kopf. „Gerald, in Cape Refuge gibt es keine großen Geschäfte.“

„Du weißt genau, was er sagen will!“, warf Jerry Ann ein. „Blair, er ist Elektriker und glaubt, dass er es jedem Ladenbesitzer in der Stadt recht machen muss. Wir brauchen jemand mit klarem Kopf und Rückgrat. Eine ehrliche Person, die sich nicht manipulieren lässt.“

„Oh, Freunde.“ Blair spürte, dass die Narben auf ihrer rechten Gesichtshälfte brannten. Das kam immer dann vor, wenn sie überrascht, verlegen oder wie jetzt erstaunt war. Sie stand auf und holte den Kaffee, den sie für dieses Geheimtreffen am Sonntagnachmittag gekocht hatte. Als sie dabei kurz in den mit Büchern vollgestopften Nachbarraum schaute, sah sie Gray Foster, der immer noch ganz in sein Buch vertieft an einem Tisch in der Leseecke saß.

Sie ging zu ihren Besuchern zurück. „Das ist einfach total verrückt. Ich interessiere mich doch gar nicht für Politik. Ich hasse so was. Ich würde eher gegen das Rathaus kämpfen, als dass ich dafür verantwortlich sein möchte. Noch dazu bin ich nicht besonders scharf darauf, hier zu leben, seit meine Eltern tot sind. Eines Tages werde ich vielleicht meine Zelte hier abbrechen und umziehen. Ihr wollt doch nicht im Ernst so einen Bürgermeister, oder?“

Matt Pearl, der unter seinem Designeranzug ein schwarzes T-Shirt trug und keine Socken anhatte, schlug die Beine übereinander. „Wir kennen dich, Blair. Wenn du zum Bürgermeister gewählt würdest, würdest du auch hierbleiben.“

Sie schüttete sich Kaffee ein und trank einen Schluck. „Siehst du, genau das ist es doch, Matt. Ich würde erst gar nicht gewählt. Denn ich habe beinahe jeden Bewohner von Cape Refuge schon wenigstens einmal beleidigt. Nein, da müsst ihr euch schon ein anderes Opfer suchen.“

Die vier schauten sich nachdenklich an. „Okay, aber wer soll es dann werden? Wir müssen unseren eigenen Kandidaten vorschlagen, bevor so ein Bauerntrampel Bürgermeister wird.“

Jerry Ann begann sich ihre Schläfen zu reiben. „Es ist schon schrecklich, wisst ihr. Unsere Stadt hat keinen Richter, keinen Bürgermeister und keine Zeitung mehr. Und all das auf einen Schlag.“

„So ist das Leben nun mal.“ Blair setzte sich wieder. „Aber ich bin nicht die Richtige.“

Das Telefon klingelte und sie entschuldigte sich bei ihren Gästen. Dann ging sie durch den Bibliothekssaal in ihr Büro zum Telefon. „Cape Refuge Library, was kann ich für Sie tun?“

„Blair, hier ist Morgan.“

„Ich ruf’ dich zurück, Schwesterherz. Ich habe Besuch.“

„Aber es ist wichtig. Hast du schon gehört, was mit Cade passiert ist?“

Blair verkrampfte sich. „Nein, was ist mit ihm?“

„Er hat einen Fußgänger angefahren. Der Mann schwebt in Lebensgefahr.“

Blair rang nach Luft. „Du machst bloß Witze.“

„Melba hat alles beobachtet. Cade ist gerade auf dem Weg ins Krankenhaus.“

Blair strich sich ihr blondes Haar zurück. „Ist Cade verletzt?“

„Ich glaube nicht. Melba hat zumindest nichts davon gesagt. Sie hat nur gesagt, dass ihn das ziemlich mitgenommen hat.“

„Okay, ich schließe die Bücherei und fahre ins Krankenhaus.“

„Komm vorbei und hol’ mich ab“, sagte Morgan. „Ich fahre mit dir.“

„Okay, mach dich fertig. In fünf Minuten bin ich da.“ Blair legte auf, griff nach ihren Schlüsseln, die an einem Haken an der Wand hingen, und eilte zurück in den Besprechungsraum. „Das Treffen ist beendet, Leute. Danke, dass ihr vorbeigekommen seid. Ich muss jetzt schnell nach Savannah.“

Sie führte die vier aus der Bücherei und ging zu dem College-Studenten zurück. „Gray, du musst jetzt gehen.“

„Lass mich bitte noch ein bisschen hierbleiben, Blair“, sagte er. „Komm schon, ich bin gerade mittendrin in einer Sache. Ich schließe ab, wenn ich nach Hause gehe.“

Sie hatte jetzt keine Zeit für Diskussionen, deshalb gab sie nach. „In Ordnung. Aber hinterlass mir hier kein Chaos.“

„Nein, das mache ich nicht.“

Sie lief zu ihrem Auto und hoffte, dass die Straßen nicht überflutet wären.

Cade litt und sie wollte nicht, dass er dabei allein war.

*   *   *

Morgan legte das Telefon auf die Station zurück und zog ihre Schürze aus. Mit ihren 28 Jahren war sie verantwortlich für Hanover House, eine Bed-and-Breakfast-Pension, die eher ein Resozialisierungszentrum für Heruntergekommene als ein Entspannungsort für Touristen war. Sie versuchte eine familiäre Atmosphäre für ihre Mieter zu schaffen, indem sie jeden Abend eine warme Mahlzeit für alle kochte. Aber heute Abend steckte Cade, der beste Freund ihres Mannes, in Schwierigkeiten. Sie wünschte, sie hätte Jonathan erreicht, um ihm zu erzählen, was passiert war, aber er war zu seinem sonntäglichen Bibelkreis ins Bezirksgefängnis nach Savannah gefahren.

„Sadie, kannst du auf Caleb aufpassen und das Essen aus dem Ofen holen, wenn es fertig ist? Ich habe schon alles vorbereitet und den Ofen eingeschaltet. Um sechs Uhr sollte es fertig sein.“

Ihre siebzehnjährige Pflegetochter Sadie wiegte den kleinen Caleb auf ihren Hüften. „Klar, kein Problem.“

Morgan lächelte das Mädchen an, das sie vor wenigen Monaten entdeckt hatte, als es sich in ihrem Bootshaus versteckte. Damals hatte sie einen gebrochenen Arm und war in größter Verzweiflung vor dem Mann geflohen, der sie geschlagen hatte. Erst später erfuhr Morgan, dass Caleb, Sadies Bruder im Säuglingsalter, immer noch in der Obhut dieses Mannes lebte.

Gott sei Dank lag das hinter ihnen und Sadies Mutter hatte Morgan und Jonathan das Sorgerecht für ihre beiden Kinder übertragen, solange sie ihre Haftstrafe absaß. Sadie war mehr eine Hilfe als eine Last und der 17 Monate alte Caleb war für sie die reinste Freude.

Als Morgan draußen Blairs Hupe hörte, küsste sie zuerst Caleb auf die Wange und dann Sadie. „Vergiss das Abendessen nicht. Und wenn Jonathan heimkommt, kannst du ihm sagen, dass ich mit Blair ins Krankenhaus gefahren bin.“

„Ich dachte, auf Cape Refuge gäbe es kein Krankenhaus“, sagte Sadie.

„Wir haben auch keins. Sie haben den Mann nach Savannah gebracht.“ Sie zog ihren Regenmantel an, schnappte sich einen Regenschirm und eilte zur Tür hinaus.

Der Schirm nützte recht wenig. Als sie in Blairs alten Volvo stieg, war ihr langes Haar bereits völlig durchnässt. „Sieh mich nur an“, sagte sie genervt.

„Ja, sieh dich nur an.“ Blair legte den Rückwärtsgang ein, sah sich nach hinten um und fuhr rückwärts aus der Einfahrt heraus. „Du bist die einzige Person, die ich kenne, deren Frisur einen Regenschauer übersteht.“

Morgan gab keine Antwort. Sie hatte ihre Locken schon immer gehasst, Blair hingegen hatte sie immer darum beneidet. „Hey, du solltest quer über die Insel fahren, weil der Ocean Boulevard am South Beach Pier gesperrt ist.“

„Ich bin schon dabei“, sagte Blair und fuhr auf die Straße.

kap

In Savannah tobte das Unwetter immer noch, während der Tropensturm ins Landesinnere weiterzog. Die Bäume bogen sich im Wind hin und her. Das Wasser stieg auf einigen Straßen so stark an, dass sie unbefahrbar wurden. Doch Blair suchte sich ihren Weg durch all die Umleitungen und erreichte schließlich die Seventy-third Street und das Candler Hospital.

Der weiße Gebäudekomplex mit seinen schwarzen Fenstern ragte vor ihnen auf. Sie fuhr um die Unfallstation herum bis vor das Eingangsportal. „Hier lasse ich dich raus und suche mir einen Parkplatz.“

Morgan sah erleichtert aus. „Danke. Ich werde Cade schon mal suchen. Hier, nimm meinen Schirm.“

Blair sah Morgan nach, als sie das Gebäude betrat. Sie fuhr aus der überdachten Einfahrt heraus und fand einen Parkplatz in der Nähe des Eingangsportals. Normalerweise hätte sie den Regenschirm nicht benutzt, aber sie wollte in Cades Gegenwart nicht aussehen wie ein begossener Pudel.

Doch in dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke kam, schimpfte sie bereits mit sich selbst. Das hier war um alles in der Welt keine Modenschau. Sie war gekommen, um Cade beizustehen, nicht um ihn zu beeindrucken.

Trotzdem spannte sie den Regenschirm auf und rannte zum Krankenhaus hinüber. Sie erreichte es, ohne allzu nass zu werden, schüttelte den Schirm aus und hielt nach Morgan oder Cade Ausschau.

Morgan stand an der Rezeption. Blair ging zu ihr. „Was ist los?“

„Der Mann lebt noch“, antwortete Morgan. „Sie haben gesagt, dass Cade dahinten ist und dass wir zu ihm gehen können.“

Blair ging mit Morgan durch verschiedene Türen in die große, steril anmutende Wartehalle. Sie sah Cade, der weiter hinten vor einem Untersuchungszimmer saß und mit dem Stuhl hin und her wippte. Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand und stierte mit seinen braunen Augen nachdenklich vor sich hin. Sie sah ihm an, dass er bedrückt war.

Irgendetwas in ihrer Brust zog sich zusammen.

Blair verlangsamte ihre Schritte, als sie auf ihn zugingen. „Cade?“

Cade drehte sich um und hörte auf, mit seinem Stuhl zu wippen. Auf seinem Gesicht lag Erstaunen, als er aufstand. „Blair … Morgan. Was macht ihr denn hier?“

Morgan umarmte ihn. Für sie als mütterliche Person war es eine ganz natürliche Geste. Wer würde nicht gern von ihr umarmt werden? Doch Blair hielt sich zurück.

„Wir haben gehört, was passiert ist“, sagte Morgan. „Wie geht es dem Mann?“

„Ich weiß es nicht. Er ist noch im OP.“ Er sah Blair an und rang sich ein halbes Lächeln ab. „Du bist nass.“

Sie lächelte zurück. „Du auch.“

Er sah auf seine nasse Uniform hinunter, dann betrachtete er wieder sie. „Ich kann gar nicht glauben, dass ihr bei diesem Sturm hergekommen seid.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wir konnten dich das doch nicht allein durchstehen lassen.“ Blair setzte sich auf den Stuhl neben ihm und auch er sank auf seinen Stuhl zurück. Sein dunkles Haar war immer noch feucht und zerzaust, und die Falten um seine Augen ließen ihn viel älter erscheinen als dreiunddreißig. Diese Falten stammten zum Teil von der Sonne, waren Lachfalten oder durch Stress verursacht. Doch der heutige Unfall hatte ihn noch mal um mindestens zehn Jahre altern lassen.

„Cade, bist du in Ordnung?“, fragte Morgan. „Hast du dich auch verletzt?“

„Nein, ich nicht. Aber diesen Mann hat es böse erwischt.“ Er wippte wieder mit seinem Stuhl. Blair sah deutlich, dass es ihm gar nicht gut ging. „Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ist.“

„Wie ist es überhaupt passiert, Cade?“, fragte Blair.

Er schluckte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich raste gerade zu einer herabgestürzten Stromleitung, da sah ich ihn am Straßenrand stehen. Er schaute mich an und lief mir dann direkt vors Auto. Ich bremste, aber der Wagen rutschte, weil die Straße so nass war ...“ Seine Stimme brach, und sie sah das leichte Zittern seines Kinns.

Blair wünschte sich, sie hätte nur ein wenig Mütterlichkeit in sich. “Wie heißt der Mann?“

Cade schüttelte wieder den Kopf. „Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Er hat versucht zu sprechen, aber seine Worte ergaben keinen Sinn. Der Sanitäter sagte, dass er nichts bei sich hatte, woran man ihn identifizieren könnte. Gar nichts. Keinen Geldbeutel. Er hatte noch nicht mal Kleingeld in der Tasche.“

„Naja, auf Cape Refuge ist das gar nicht so ungewöhnlich“, sagte Blair. „Touristen lassen ihre Sachen immer im Hotelzimmer oder im Handschuhfach, wenn sie an den Strand oder auf Sightseeingtour gehen.“

Cades Augen glänzten feucht, als er vor sich hin starrte. „Er stand einfach nur da. Die Leute spritzten ihn nass, als sie vorbeifuhren. Warum nur ist er mir vors Auto gelaufen?“

„Vielleicht war er betrunken“, vermutete Blair.

„Wer weiß das schon?“ Er rieb sich die Augen. „Ich kann niemand benachrichtigen, solange wir nicht herausgefunden haben, wer er ist. Sie brauchen Unterschriften auf der Einverständniserklärung für die Behandlung und Angaben über die Versicherung. Ich weiß noch nicht mal, wen ich anrufen soll.“

Seine Nasenlöcher weiteten sich, als er versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

Cade war ein tapferer Mann, aber er hatte ein empfindsames Herz. Sie wusste, wie sehr es ihn berührte. Sie wollte seine Hand nehmen, aber für sie war diese Geste nicht so natürlich wie für Morgan.

Sie schaute in die andere Richtung in der Hoffnung, dass er sich dann weniger verwundbar fühlte.

Eine Tür in ihrer Nähe wurde geöffnet und ein Arzt in grüner OP-Kleidung und mit unters Kinn geschobener OP-Maske kam auf sie zu. Cade stand auf und schaute ihn hoffnungsvoll an.

„Chief Cade?“

Cade nickte. „Meine Männer versuchen herauszufinden, wer er ist, damit wir die Familie verständigen können und die Versicherung ...“

„Es tut mir leid, Chief.“ Der Arzt unterbrach Cade und der Rest seines Satzes blieb in der Luft hängen. „Er hat es nicht geschafft.“

Cade öffnete den Mund. Er sah aus, als ob er nicht richtig gehört hätte. Dann dämmerte es ihm. „Oh nein“, flüsterte er.

„Wir haben getan, was wir konnten“, sagte der Chirurg, „aber er hatte mehrere Verletzungen. Eine sehr schwere Kopfverletzung und die Schusswunde in seinem Oberkörper.“

Cade starrte ihn einen Moment lang einfach nur an. „Nein, da gab es keinen Schuss. Nur den Aufprall aufs Auto. Er lief herum und dann plötzlich vor mein Auto ...“

Der Chirurg schüttelte den Kopf. „Er wurde wirklich angeschossen. Vielleicht ist er deshalb vor Ihr Auto gestolpert.“

Blair sah an Cades Gesichtsausdruck, wie verwirrt er war. „Meinen Sie, er wurde vorher schon angeschossen und hat versucht, Hilfe zu holen? Und als ich vorbeikam, habe ich ihn dann überfahren?“

Der Chirurg zog seine OP-Mütze aus und knüllte sie zusammen. „Ich bin sicher, dass Sie versucht haben, es zu verhindern, Chief. Aber es ist tatsächlich so, dass er wahrscheinlich schon verletzt war. Es sieht so aus, als wäre aus kurzer Entfernung auf ihn geschossen worden. Vielleicht war es ein Selbstmordversuch. Vielleicht hat er die Nerven verloren und wollte Hilfe holen.“

Blair sah, wie Cade leichenblass wurde, und für einen Moment dachte sie, er würde gleich zusammenbrechen. „Er hätte überleben können“, sagte Cade. „Ich hätte ihm helfen können.“

Blair überwand ihre Hemmungen und umarmte Cade. Er ließ sich gegen sie fallen. Sie fühlte, wie sein Körper zitterte, wie er nach Atem rang, als er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Sie strich ihm über das feuchte Haar.

„Ich habe einen Mann getötet ... einen völlig unschuldigen Mann, von dem ich noch nicht mal den Namen weiß.“

Blair wusste, dass er im Einsatz schon Menschen getötet hatte, bewaffnete Menschen, die ihre Waffen gebrauchen und einen Mord begehen wollten.

Aber das hier war etwas völlig anderes. „Cade, es war nicht deine Schuld.“

„Warum habe ich nicht früher gebremst? Warum bin ich nicht langsamer gefahren? Ein Mann steht da tödlich verletzt auf der Straße und ich sehe noch nicht mal, dass er Hilfe braucht.“

„Woher solltest du das wissen?“ Blair wollte ihn loslassen, aber er hielt sie so eng umschlungen, dass sie ihn weiterhin im Arm hielt. Morgan begann ihm über den Rücken zu streichen.

Der Chirurg sah aus, als wüsste er nicht, ob es besser wäre zu gehen oder zu bleiben. „Chief, wie sollen wir weitermachen, nachdem Sie nun von dem Schuss wissen?“

Cade richtete sich auf, sah den Arzt an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Naja, der Schuss verändert alles. Ich werde den Gerichtsmediziner anrufen. Wir müssen den Leichnam untersuchen, Bilder machen und die Kleidung nach Beweisen durchsuchen.“ Er machte eine Pause und seine Augen flackerten, als er über die nächsten notwendigen Schritte nachdachte. „Geben Sie mir eine Minute Zeit, Doc.“

Cade sah dem Doktor nach, als dieser zu den OPs zurückging. Morgan standen die Tränen in den Augen, als sie sein Gesicht berührte. „Cade, sieh mich an“, flüsterte sie.

Cade sah zu ihr hinunter.

„Du weißt genau, dass du es nicht absichtlich getan hast“, sagte sie. „Der Mann war bereits tödlich verletzt. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.“

Cade strich sich mit der Hand durch sein nasses, schwarzes Haar. „Ich habe einen Mann getötet, der in Not war. Wie soll ich das nur seiner Familie beibringen? Vielleicht ist er verheiratet oder hat sogar Kinder.“

Blair wünschte, sie wüsste, was sie jetzt tun sollte. „Wir finden seine Identität schon heraus, Cade.“

Cade begann auf- und abzugehen. „Ich muss in der Polizeistation anrufen und ihnen sagen, dass es sich nicht mehr nur um eine Unfallstelle, sondern möglicherweise um einen Tatort handelt. Wir müssen herausfinden, woher er kam, damit wir feststellen können, ob es Selbstmord oder Mord war. Seinen Wagen hat er vermutlich am South Beach Pier geparkt, weil er aus dieser Richtung zu kommen schien. Es regnet immer noch, deswegen wird der Parkplatz nicht allzu voll sein. Vielleicht können wir herausfinden, welches Auto ihm gehört und die Waffe finden ...?“

Blair überlegte, ob sie ihm irgendwie helfen könnte. „Cade, was kann ich tun?“

„Gar nichts“, antwortete er. „Ich muss mich nur sofort an die Arbeit machen. Danke, dass ihr gekommen seid, ihr zwei.“

Blair sah ihm nach, als er den Flur hinunterlief.

„Naja, ich glaube, hier können wir jetzt nichts mehr tun“, stellte Morgan fest. „Wir gehen am besten auch.“

Aber Blair starrte nur in die Richtung, in die Cade gegangen war. „Ich glaube, ich bleibe besser hier. Nimm mein Auto und fahr’ nach Hause.“

„Warum?“

„Weil ich glaube, dass er nach der Untersuchung der Leiche Beistand brauchen wird. Dann möchte ich hier sein. Ich werde mit ihm nach Hause fahren.“

Morgan schaute sie eine Weile einfach nur an. „Bist du ganz sicher? Das kann Stunden dauern.“

„Ist schon in Ordnung. Ich kann warten.“

„Und was ist mit der Bücherei?“

„Gray Foster hat mir versprochen, sie abzuschließen.“

Morgan seufzte. „Also gut. Falls es zu lange dauert, ruf’ mich an, dann hole ich dich ab.“

Als Morgan gegangen war, setzte Blair sich auf den Stuhl, auf dem Cade eben gesessen hatte, und wartete.

Zwei Stunden später sah sie den Gerichtsmediziner mit einigen Sanitätern, die die Leiche in einen Krankenwagen schoben, um sie zur Leichenhalle zu bringen. Cade und Joe McCormick, der einzige Kriminalbeamte seiner Dienststelle, der schnell ins Krankenhaus gekommen war, als er von der Schussverletzung erfahren hatte, liefen hinter ihnen her.

Blair stand auf, und als Cade sich umdrehte, sah sie, wie blass und ausgelaugt er aussah. Sie sah das Erstaunen auf seinem Gesicht, als er sie erblickte. „Du bist ja immer noch hier.“

Sie kam sich ein wenig albern vor. „Ich dachte nur, dass du auf der Heimfahrt vielleicht ein wenig Gesellschaft brauchen könntest. Morgan ist mit meinem Auto gefahren.“

Sein Blick wurde sanft, als er auf sie hinunterblickte. „Das ist lieb von dir, Blair.“

Die Narben auf ihrer Wange fühlten sich heiß an und sie wusste, dass sie glühten. Sie drehte ihr Gesicht weg und schaute zu Joe und dem Gerichtsmediziner hinüber, die beim Ausgang standen. „Nun, was denkst du? War es Mord oder Selbstmord?“

„Das ist schwer zu sagen“, murmelte Cade. „Das Einzige, was ich weiß, ist, dass der Aufprall auf mein Auto mehr Schaden angerichtet hat als der Schuss. Er hätte vielleicht überlebt, wenn ...“

„Wenn er nicht vor dein Auto gelaufen wäre?“ Cade wollte die ganze Last der Schuld auf sich laden. Das durfte sie nicht zulassen.

Er fuhr sich mit den Händen durch sein vom Regen zerzaustes Haar. „Ich glaube, wir machen uns besser auf den Weg. Wenn ich zurückkomme, wartet ein Haufen Arbeit auf mich.“

Sie passte ihre Schritte den seinen an. „Haben sie den Mann schon identifiziert?“

„Nein, aber wir sollten bald die ersten Anhaltspunkte haben. Joe schickt seine Fingerabdrücke gerade durchs AFIS.“

„AFIS?“

„Automatisiertes Fingerabdruckidentifizierungssystem. Wenn die Fingerabdrücke dieses Mannes jemals zuvor erfasst wurden, werden wir ziemlich bald eine Übereinstimmung finden. Aber sie haben bisher immer noch kein Auto oder Apartment oder Hotelzimmer gefunden, das zu ihm gehört. Der Regen ist auch nicht gerade hilfreich. Die Spuren wurden verwischt, sodass sie nicht feststellen konnten, woher er kam.“

Sie gingen durch die Notfallaufnahme und blieben dann draußen einen Moment unter dem Vordach stehen, während Cade in das Unwetter starrte. Blair erkannte an seinem Augenausdruck, dass er nicht wegen des schlechten Wetters zögerte. Er ging immer noch die Ergebnisse der gerade abgeschlossenen Untersuchung der Leiche durch und versuchte, irgendeine logische Schlussfolgerung daraus zu ziehen.

„Ich kann deinen Wagen holen“, sagte Blair. „Dann kannst du hier einsteigen.“

Er starrte immer noch in den Regen und schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Ich möchte nicht, dass du nass wirst, damit ich trocken bleibe. Ich hole das Auto und du kannst hier einsteigen.“

„Auf keinen Fall.“ Sie riss ihm die Schlüssel aus der Hand und lief zum Wagen. Doch sofort rannte er hinter ihr her, erreichte das Auto noch vor ihr und öffnete ihr die Tür. Triefnass stieg sie ein.

Cade stieg auf der anderen Seite ein, schlug die Tür zu und legte seine Hände ans Lenkrad. Einen Moment starrte er durch die Windschutzscheibe, durch die wegen des Regens alles verschwommen aussah, als ob er neue Kräfte für die Heimfahrt sammeln müsse. Das Prasseln des Regens auf dem Dach wurde in unregelmäßigen Abständen von Donnergrollen begleitet. „Du hättest nicht die ganze Zeit hierbleiben müssen, Blair.“

Sie beobachtete die Regentropfen, die beim Aufprall große Kreise auf der Fensterscheibe bildeten. „Ich weiß.“

„Wie hast du das Ganze überhaupt mitbekommen?“

„Durch Melbas Gebetskette.“

Cade sah sie erstaunt an. Blair wusste, dass er dachte, dass sie nicht gerade eine Frau des Gebets war. „Sie hat dich angerufen, damit du betest?“

„Natürlich nicht. Sie hat Morgan angerufen. Und sie hat es mir dann erzählt.“

„Oh.“ Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Blair wusste, dass ihr Unglaube in den Dingen, an die er glaubte, wie eine Mauer zwischen ihnen stand. Sie wollte keinen Glauben vorheucheln, wenn er bei ihr nicht vorhanden war.

Er fuhr vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr auf der vielbefahrenen Straße, die am Krankenhaus vorbeiführte, ein. „Vielleicht kann ich auf dem Rückweg zusammen mit dir über den Fall nachdenken“, sagte Blair, „und dir bei der Identitätsfindung des Mannes helfen, falls es keine Übereinstimmung bei den Fingerabdrücken gibt. Du musst schon zugeben, dass ich ziemlich gut darin bin, Probleme zu lösen.“

Er dachte einen Moment darüber nach. „Ich glaube, ich kann keinen besseren Partner dafür finden als dich.“ Er seufzte. „Du hättest Polizistin werden sollen.“

„Ja, das wäre bestimmt ein Erlebnis. In schwarzer Kleidung sehe ich furchtbar aus.“

Er lächelte, und Blair durchströmte ein leichtes Siegesgefühl.

Eine Weile fuhr er schweigend durch den Sturm, weil er sich so auf die Straße konzentrierte, dass er dabei keine Unterhaltung führen konnte. Er fuhr übervorsichtig, als ob er sicher sei, dass ihm gleich noch ein in Not geratener Fußgänger vors Auto laufen würde.

Das ständige Wischen der Scheibenwischer störte Blair beim Nachdenken. Die Ermittlung der Identität des Mannes würde Cades Gefühle über das Erlebnis zwar nicht lindern, aber er würde dann wenigstens nicht ganz so hilflos dastehen.

„Vielleicht solltest du ein Bild des Mannes an die Medien weitergeben und es in den Zehn-Uhr-Nachrichten ausstrahlen lassen. Dann kannst du davon ausgehen, dass spätestens bis Mitternacht jemand angerufen hat, der ihn kennt.“

„Aber wo sollen wir ein Bild von ihm herkriegen, Blair? Wir können ja schlecht ein Bild von der Leiche in den Nachrichten zeigen. Ich will nicht, dass seine Familie es auf diese Weise erfährt.“

„Ja, du hast Recht.“ Sie dachte eine Weile darüber nach. „Vielleicht reicht ja schon eine Beschreibung seiner Kleidung und seines Aussehens mit Gewicht, Größe, Augenfarbe ...“

Er atmete tief durch. „Vielleicht wird er schon vermisst. Vielleicht hat bereits jemand angerufen. Dann könnte ich zu ihnen nach Hause fahren und ihnen erklären, was passiert ist.“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Du selbst?“

„Wer denn sonst?“

„Tja, ich weiß nicht, aber vielleicht solltest du jemand anders hinschicken, Cade?“

Sie sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. „Nein, ich sollte selbst hingehen.“

Wieder schwiegen sie. Blair wusste, dass es keinen Zweck hatte, noch länger zu versuchen, Cade von seinem Entschluss abzubringen. So schwer es auch für ihn war, er würde niemals einen anderen bitten, es zu tun.

„Es ist verrückt, wie leicht das Leben außer Kontrolle geraten kann“, sagte er.

Sie ließ ihren Blick auf ihm ruhen. „Allerdings. Ich war auch schon in so einer Situation.“

Sein Blick wurde sanft und er schaute zu ihr hinüber. „Ja, ich weiß.“

Sie musste es nicht sagen. Der schlimmste Tag ihres Lebens war der Tag, an dem ihre Eltern ermordet wurden. Gerade stand sie noch mit hochgekrempelten Ärmeln in der Stadtratssitzung und kämpfte gegen die Schließung des Hanover Houses, und kurz darauf stand sie schon in dem Raum mit den Leichen ihrer Eltern. Cade war die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen.

„Ich habe mich an diesem Tag auch total hilflos gefühlt“, flüsterte Cade, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.

„Das warst du aber nicht und das bist du auch jetzt nicht.“ Sie fuhren über den Island Expressway nach Tybee Island, schlängelten sich durch den Verkehr bis zur Mündung des Savannah River und überquerten dann die Brücke nach Cape Refuge. „Mein Handy hat auf der Insel keinen Empfang. Ich fahre kurz zur Polizeistation und sehe nach, wie weit sie gekommen sind“, sagte er. „Und dann bringe ich dich nach Hause.“

„Lass dir ruhig Zeit“, antwortete sie. „Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern. Ich rufe Morgan an und sage ihr, dass sie mich abholen soll.“

Sie fuhren den Ocean Boulevard an der Nordspitze der Insel entlang und als sie bei der kleinen Polizeistation ankamen, sahen sie, dass der Parkplatz bereits mit Übertragungswagen vollgeparkt war.

Die Medien hatten also schon Wind von der Sache bekommen.

Cade stöhnte. „Das darf doch nicht wahr sein.“

„Fahr weiter, Cade“, sagte Blair. „Nimm dir eine Minute Zeit zum Nachdenken.“

Cade fuhr an der Polizeistation vorbei und weiter über die Insel. „Sie müssen den Polizeifunk abgehört haben. Das kann ich gar nicht brauchen. Jetzt wird es auf allen Kanälen gesendet.“

„Aber sie können auch nicht wissen, wer der Mann ist, oder? Deshalb schadet es doch nichts.“

Cade lachte leise. „Genau. Sie berichten nur, dass der Polizeichef von Cape Refuge einen verletzten Mann überfahren hat. Und jede Familie in der Stadt, deren Vater nicht zu Hause ist, wird denken, dass er es war.“

„Vielleicht wird durch die Nachrichten jemand gefunden, der die Leiche identifizieren kann.“

Cade erreichte den South Beach Pier, wo der Unfall passiert war. Jetzt war die Straße wieder frei. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor Kurzem etwas Schlimmes passiert war ... etwas, wie der sinnlose Tod eines Mannes. Das Blut war vom Regen weggewaschen worden.

Er fuhr am Hanover House vorbei zu Blairs Haus, das sich direkt neben der Bücherei befand. Er bog auf den geschotterten Parkplatz ein, in einen Hain von Pinien und Silberakazien, und hielt an.

Sie stieg nicht aus. „Cade, wirst du das schaffen?“

Einen Moment lang gab er keine Antwort – er starrte nur durch die Windschutzscheibe auf die Bäume hinter ihrem Haus. „Ja. Danke, dass du gekommen bist. Das war wirklich lieb von dir.“

Für einen Augenblick schwieg sie, weil sie nach den richtigen Worten suchte.

„Cade, falls du nicht allein zu der Familie fahren willst, um ihr zu erzählen, was passiert ist, werde ich dich begleiten. Ich weiß, dass ich nicht gerade der einfühlsamste Mensch auf der Welt bin. Aber ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man eine Person, die man liebt, verliert.“

Er streichelte ihre Hand. „Danke für dein Angebot. Ich sage dir dann Bescheid.“

„Und meiner Meinung nach hast du, als du mir erzählt hast, was mit meinen Eltern passiert ist …“

Er sah sie an und wartete darauf, dass sie weiterredete.

„Also, du hast es gut gemacht und du wirst es auch diesmal gut machen.“

„Danke“, sagte er.

Sie stieg aus und rannte durch den Regen zu ihrer Haustür. Aber sie ging nicht hinein, bis Cade wegfuhr und außer Sichtweite war.