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Einführung

Persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse

Pius XII. Pacelli,

Johannes XXIII. Roncalli,

Paul VI. Montini,

Johannes Paul I. Luciani,

Johannes Paul II. Wojtyła,

Benedikt XVI. Ratzinger,

Franziskus, Bergoglio:

Über diese sieben Päpste will ich schreiben, wie ich sie als Zeitzeuge, Theologe und Insider des Katholischen erlebt habe.

»Zwischen dem Tübinger Theologen und den Päpsten waltet ja eine Art Reichsunmittelbarkeit – mit allen damit verbundenen Ambivalenzen.« Dieses Wort des Politikwissenschaftlers Professor Hans Maier, langjähriger Bayerischer Kultusminister und Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat mir erst das Charakteristikum meines Umgangs mit den Päpsten bewusst gemacht und in einen historischen Zusammenhang gebracht. »Reichsunmittelbarkeit« meint in meinem Fall wohl das Verhältnis einer gewissen Unmittelbarkeit und Direktheit ohne Zwischeninstanzen und Beachtung eines Dienstweges, mit Ambivalenzen, positiv-konstruktiven wie negativ-konfrontativen Spannungen.

Es geht hier nicht um eine allgemeine, umfassende, kritisch erarbeitete Geschichtsschreibung zu den letzten sieben Päpsten, von der man Neutralität und Vollständigkeit erwarten müsste. Es geht auch nicht um eine Würdigung der Regierungs- und Verwaltungsaufgaben der Päpste oder um die Darstellung alltäglicher Abläufe, liturgischer Handlungen, Audienzen und Empfänge. Hier geht es vielmehr um einen Bericht von sehr individuellen »Erfahrungen«, die ich persönlich, direkt oder indirekt, mit den letzten sieben Päpsten gemacht habe, und von oft unkonventionellen, aber begründbaren »Erkenntnissen«, die mir in meinem langjährigen Studium der Papstgeschichte und Papstideologie aufgingen, dies oft im persönlichen Umgang mit den sieben Päpsten meiner Lebenszeit.

In diesem Geschehen der letzten Jahrzehnte blieb ich nicht nur, wie mein früherer, inzwischen verstorbener hochgeschätzter Kollege, der Soziologe Ralf Dahrendorf, ein »engagierter Beobachter«. Ich wurde nolens volens ein bescheidener Mitakteur, oft auch Mitleidender, der – aufgrund fachlicher Kompetenz und publizistischer Präsenz – nicht nur als analytischer Problematisierer, sondern auch als synthetischer Problemlöser und Verfechter von Visionen bestimmte Überzeugungen, Werte und Maßstäbe vertrat. Nicht römische Konformität wurde mir zum Ideal, sondern das offene und unerschrockene Einstehen, Widerstehen und Standhalten im Kampf für Freiheit und Wahrheit in katholischer Kirche und Ökumene.

Um eine persönliche Wertung der sehr unterschiedlichen Pontifikate kann und will ich mich nicht herumdrücken, aber sie ist im Kern theologisch begründet. Dass bestimmte Päpste weniger gut »wegkommen« als andere, hat natürlich auch mit meiner Sympathie oder Antipathie zu tun. Wie könnte es anders sein? Doch entscheidend wurde für mich die Nähe zum Evangelium Jesu Christi, auf das sich alle diese Päpste als »Stellvertreter Christi« zumindest theoretisch berufen. Konkret wurde diese Nähe als Treue zum Zweiten Vatikanischen Konzil, das die gesamte katholische Kirche repräsentiert und das Evangelium für unsere Zeit in maßgeblicher Weise neu interpretieren wollte. Auch bei scharf kritisierten Päpsten verschweige ich nicht ihre (in der Kirchenpresse und von Hoftheologen ohnehin ständig ausgebreiteten) positiven Leistungen, und umgekehrt bei hochgelobten Päpsten nicht ihre Versäumnisse und Fehlentscheidungen.

Also alles in allem der kritische Beitrag eines engagierten Zeitzeugen, der sich gewiss um Fairness bemüht, aber gerade deshalb sein Auge auch auf oft vernachlässigte oder bewusst ignorierte schwarze oder graue Seiten der Papstgeschichte richten und seine Stimme den Opfern päpstlicher Politik und Lehre leihen musste und muss. Die Stimme eines Insiders durchaus, aber nicht die eines vatikanischen Höflings, sondern eines katholischen Theologen und früheren Konzilstheologen, der allen Schwierigkeiten zum Trotz loyal zu seiner kirchlichen Gemeinschaft steht und der erst durch konkrete Reaktionen ganz bestimmter Päpste zu einem, wie manchmal von Zeitgenossen etikettiert, »Leader der loyalen Opposition seiner Heiligkeit« gemacht wurde.

Für meine »persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse« und deren Verankerung in soliden Argumenten kann ich mich auf frühere Publikationen stützen, vor allem auf die drei umfangreichen Bände meiner »Erinnerungen«, die meine Lebensgeschichte mit der kirchlichen und politischen Zeitgeschichte verknüpfen. In jedem der Bände ist selbstverständlich von den Päpsten, mit denen ich es in meinem Leben zu tun hatte, immer wieder die Rede. Doch in diesem kleinen Buch hier fasse ich die zerstreuten biografischen Erinnerungen und strukturellen Erwägungen zusammen und biete für jeden einzelnen Papst eine zusammenhängende Geschichte. So gesehen geht es auch hier nicht – ganz so, wie ich es in meinen Abschiedsreden ankündigte – um ein wirklich neues Opus, aber doch um ein neues Opusculum, das dem Leser, so hoffe ich, eine fortlaufende, spannende Lektüre der jüngsten Papstgeschichte zu bieten vermag.

Bei dieser Erzählung ist mir natürlich bewusst, dass die sieben Päpste unserer Zeit eine einzigartige, rund zweitausendjährige Tradition hinter sich haben. Auch wenn der Primat des römischen Bischofs in seiner Anfangsphase und späteren Begründung mit vielen exegetischen und historischen Fragezeichen versehen werden muss, kommt dem Papsttum doch unbestreitbar ein solch religiöses und weltpolitisches Gewicht zu, dass es auch im 21. Jahrhundert ernst genommen zu werden verdient. Andererseits muss auch jeder informierte und redliche Katholik zugeben, dass in dieser Reihe von nach offizieller Zählung 268 »Heiligen Vätern« – etwa im 10. oder 16. Jahrhundert – einige höchst unheilige, unmoralische, ja, verbrecherische Gestalten auszumachen sind. Diese Erinnerung lässt uns Menschliches, Allzumenschliches auch bei Päpsten des 20. und 21. Jahrhunderts erwarten.

Damit ist nun genügend deutlich gemacht: Dieses Buch bietet selbst bei (von Päpsten!) heiliggesprochenen Päpsten keine Hagiografie. Von einem kritischen Wissenschaftler darf man auf argumentativ begründete sowie an der Historie und dem Evangelium geschärfte Urteile hoffen, die nicht mit oberflächlichem und moralisierendem Aburteilen zu verwechseln sind. Die Urteilskriterien können sehr verschiedenartig (politisch, literarisch, kunsthistorisch, philosophisch …), aber doch nicht einfach beliebig sein. Für Christen, und auch für christliche Kirchenhistoriker, muss das letztlich ausschlaggebende Kriterium die Christlichkeit eines Papstes sein. Und diese wird gemessen an den christlichen Urintentionen, letztlich an dem Christus Jesus selber, wie er in den neutestamentlichen Schriften mit einem unverwechselbaren Profil bezeugt ist. Dabei kann zumindest deutlich werden, was klar unchristlich ist und übrigens auch von Nichtchristen oft als solches erkannt wird. Doch auf wahrhaft Menschliches und authentisch Christliches aufmerksam zu machen bereitet dem Verfasser dieses Buches sehr viel mehr Freude, und er hofft, dass auch dies ihm gelingen wird.

Tübingen, im Juni 2015Hans Küng

Pius XII. Pacelli (1939  1958)

2. 3. 1876Geboren in Rom. Studierte Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana und Theologie am päpstlichen Institut Sant’Apollinare
1899Priesterweihe und 1901 Eintritt in den Dienst des Staatssekretariats
1917Titularerzbischof von Sardes, Übernahme der bayerischen Nuntiatur (bis 1925)
1920  29Nuntius für das Deutsche Reich
1929Kardinal
1930Staatssekretär Pius’ XI.
1933Reichskonkordat
2. 3. 1939Wahl zum Papst als Pius XII.
1950Dogmatisierung der Aufnahme Marias in den Himmel
9. 10. 1958Gestorben in Castel Gandolfo

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I. Pius XII. – Eugenio Pacelli

»Unser« Papst: Pius XII.

Dunkle Schatten lägen über der Welt, erklärt uns im Päpstlichen Collegium Germanicum-Hungaricum zu Rom in seiner Tischrede am Tag der üblichen Priesterweihe 1948 der neue Apostolische Visitator für Deutschland, Alois Muench, Bischof von Fargo/USA. Aber niemals habe der Fels Petri so unerschüttert gestanden wie gerade heute. Was dies beweise? Es beweise die große Anhänglichkeit und Anerkennung, die dem Heiligen Vater von allen Seiten entgegengebracht werde. Mit Ergriffenheit hören wir Alumni sein Glückwunschtelegramm für unsere Neupriester, unterzeichnet von Giovanni Battista Montini, Substitut, dem wichtigsten Mann des Staatssekretariats.

Für unsere geistige Formung im Germanikum ist die Ergebenheit gegenüber dem Papst von kapitaler Bedeutung. Ich bin mit meinen 20 Jahren erst wenige Tage in Rom, da fahren wir »Erstjährigen« zusammen mit den Neupriestern und ihren Angehörigen in die päpstliche Sommerresidenz Castel Gandolfo, um dort von Pius XII. persönlich empfangen zu werden. Es ist der 13. Oktober 1948#. Ein großes Erlebnis, keine Frage. Selbst Protestanten und Sozialdemokraten damals sind von diesem Papst begeistert. Eine hohe, schlanke Gestalt, ein vergeistigtes Gesicht, sprechende Hände. Mit seiner perfekten Gestik, seinen Sprachkenntnissen, seiner Rhetorik, seiner klassischen Bildung erscheint Pius XII. allgemein als Idealbild eines Papstes schlechthin.

Für uns Deutschsprachige ist er überdies »der Papst der Deutschen«: ausgesprochen germanophil vor, während und nach der Nazizeit. Seit seiner Zeit als Nuntius in Deutschland ist er von einer fast gleichaltrigen, fähigen deutschen Ordensfrau, seiner höchst einflussreichen Vertrauten »Madre« Pasqualina Lehnert, betreut und von deutschen Mit- oder Zuarbeitern umgeben, zumeist Jesuiten, die unsere Professoren an der Päpstlichen Universität Gregoriana sind.

Noch wird in dieser Zeit keine öffentliche Kritik an Pacellis hochdiplomatischer »Judenpolitik« laut, noch ist seine diktatorische »Innenpolitik« nicht ruchbar geworden. Er erscheint als der »Pastor angelicus« – so lautet der Sinnspruch in der »Prophezeiung« des irischen Bischofs Malachias für ihn, den 106. Papst. Bis zum Weltende sollen es insgesamt 111 Päpste sein; bald werden wir in der Basilika von San Paolo fuori le mura die 111 Medaillons mit den Papstportraits (damals noch fünf leere) samt ihren Sinnsprüchen bestaunen. Inzwischen wissen wir freilich: diese »Prophezeiung« ist eine Fälschung aus dem Jahr 1590#. Viele glauben trotzdem an sie.

Wichtig für uns auch: Eugenio Pacelli ist unverkennbar ein Sympathisant unseres Kollegs. Als Nuntius in München und Berlin hatte er die Konkordate des Vatikans mit Bayern und Preußen abschließen können. Kaum war er von Pius XI. zum Kardinalstaatssekretär ernannt, hatte er schon einen offiziellen Besuch im Collegium Germanicum gemacht. Das war am 12. Januar 1933 gewesen. Nicht bekannt ist im Kolleg, dass derselbe Pacelli in diesen Tagen seinen Vertrauten und Vorsitzenden der katholischen Zentrumspartei, Prälat Ludwig Kaas, einen Altgermaniker, zu einer Koalition mit Hitler gedrängt hatte. Am 30. Januar 1933 war Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, und bereits am 20. Juli desselben Jahres hatte er mit Pacelli das »Reichskonkordat« abgeschlossen. Ein unschätzbarer Prestigegewinn für den deutschen Diktator.

Aufschlussreich, was Pacelli damals als Kardinalstaatssekretär im Germanikum erklärt hatte. Die Erfahrungen seiner Mission jenseits der Alpen hätten ihm »die providentielle Bedeutung« des Kollegs in überzeugender und greifbarer Form vor Augen geführt«. Drei Vorzüge habe das römische Studium. Erstens: »Rom macht weltweit! Ohne den Sinn für die Heimat verkümmern zu lassen, gibt die Ewige Stadt Verständnis für den Mitmenschen anderer Länder und Zonen, Ehrfurcht vor seiner Art, Verbundenheit mit ihm durch das wunderbare Einheitsband derselben Liebe zu Christus und damit auch jene brüderliche Gesinnung, aus der die wahre Völkerversöhnung und der ersehnte Friede ersprießen.« Zweitens: »Rom gibt Liebe zur Kirche und zum Stellvertreter Christi! Nicht als ob diese Liebe dem anderen Klerus der Heimat fehlte. Aber die eigene Erfahrung unterbaut die Festigkeit der Liebe noch stärker und verleiht ihr den köstlichen Beigeschmack der persönlichen Vertrautheit.« Und drittens: »Rom und die Erziehung in diesem Hause schaffen einen hochwertigen Nährboden für späteres priesterliches Wirken!« »Ich glaube«, fährt Pacelli fort, »wir können den Geist Ihres Heims am besten mit zwei Worten bezeichnen: Selbstzucht und Übernatürlichkeit«, und schließt mit dem Satz: »Wenn Priestertum Gnade ist, dann ist der Weg zum Priestertum am Grabe des Felsenmannes unter der segnenden Hand des Papstes doppelte Gnade und doppelte Verantwortung.« Die ganze katholische Rom-Ideologie? Das war sie in nuce. Und die Germaniker applaudierten begeistert.

Freilich: Als am 2. März 1939 auf der Piazza San Pietro weißer Rauch aus der Sixtina aufsteigt, erzählt mir einmal der spätere Augsburger Bischof Stimpfle, rechnen die Germaniker keinesfalls damit, dass derselbe Pacelli zum Papst gewählt werden könnte. Schon immer galten die Kardinalstaatssekretäre als politisch zu exponiert und deshalb als für das Papstamt ungeeignet. Aber als das »Habemus Papam« auf den Namen »Eugenium Pacelli« geht, jubeln die Germaniker noch mehr als alle anderen. Sie wissen schon 1939, was wir Germaniker 1948 erst recht wissen: Dieser Papst ist aufgrund von Werdegang, Ausrichtung und Sympathie in ganz besonderer Weise »unser« Papst. Selbstzucht und Übernatürlichkeit! Pacellis Schlüsselworte werden uns noch beschäftigen.

Und in der Tat werden denn auch nie so viele Germaniker zu Bischöfen ernannt wie unter Pius XII.: von Luxemburg bis Brixen, von Speyer, Freiburg, Eichstätt und München bis Limburg und Würzburg … Der neue Bischof von Würzburg, Julius Döpfner (26. 8. 1913 – 24. 7. 1976), mit dem ich später als dem Kardinal von München und Präsidenten der Deutschen Bischofskonferenz zu tun bekomme, besucht uns als Deutschlands jüngster Bischof in unserem ersten Kollegsjahr 1948#. Einmalig in der Kollegsgeschichte: Er findet hier noch fünf Alumnen vor, die mit ihm den roten Talar der Germaniker getragen haben und 1939 auf dem Petersplatz dabei waren. Aber während Döpfner vom Kaplan zum Vizeregens des Priesterseminars und schließlich zum Bischof avancierte, mussten die anderen, weil in Deutschland zum Militärdienst eingezogen, zuerst hier ihre Studien abschließen, darunter der genannte Josef Stimpfle.

13. Oktober 1948: In Castel Gandolfo sehe ich Pius XII. zum ersten Mal »leibhaftig«, wie er unseren Neupriestern viel Erfolg in ihrem Apostolat und uns »Neorubri« (neu im roten Talar) Mut und Ausdauer im Studium wünscht. Ist es nicht erhebend, den Summus Pontifex so ganz nah zu erleben und seine Sympathie zu erfahren? Mit dem Apostolischen Segen versehen, fahren wir in froher Stimmung nach Rom zurück, wo nun nach all den Feiern der Ernst des Lebens beginnt. Schon zwei Tage darauf, am 15. Oktober, gehen wir zum ersten Mal an unsere Universität, die Pontificia Universitas Gregoriana, wo vom Rektor in feierlicher Inauguration das neue Schuljahr eröffnet wird. Die Gregoriana wird im Jahr 2001 ihren 450. Geburtstag feiern und 21 Heilige, 10 Päpste und mehr als ein Drittel der gegenwärtigen Kardinäle unter ihren früheren Studenten zählen.

Dem Papst ganz nahe

1950 ist in Rom ein besonderes, ein »heiliges« Jahr! Zum ersten Mal können zahllose deutsche Pilger nach Rom kommen. Großer Bedarf an Pilgerführern – warum nicht auch Germaniker? Dies ist das Argument von Don Carlo Bayer, Altgermaniker, Leiter des deutschen Pilgerkomitees in Rom. Der Rektor stimmt zu. Und bald sind wir, weil in unseren wehenden roten Soutanen überall leicht sichtbar, unter Pilgern und Pilgerinnen besonders beliebt. Wir sind ja auch keine gewöhnlichen Touristenführer, sondern junge Theologen, die den Menschen neben äußeren Daten und Fakten den inneren Geist der traditionellen Stätten des Christentums zu vermitteln trachten. Außer der willkommenen Tagesvergütung erhalten wir von unserer Pilgergruppe am Ende jeweils eine respektable Summe Trinkgeld. Ich deponiere das Geld vorschriftsgemäß beim P. Minister, um so etwas Kapital anzusammeln für die Rückreise in den Heimaturlaub nach drei Jahren, wofür ich schon früh einen größeren Umweg über Wien plane.

Der Höhepunkt der Romfahrt ist für die meisten Pilger die Papstaudienz, jetzt wegen der großen Scharen meist in der Peterskirche. Meine Gruppen zeigen sich dort jeweils nicht wenig erstaunt, wenn sie ihren Pilgerführer plötzlich vorn neben dem Papstthron vor der grandiosen Confessio Berninis stehen sehen. Ich weiß nicht mehr, wer mich da zuerst durch die hinteren Eingänge in die Basilika geführt hat, damit ich als Sprecher der Deutschsprachigen das »Vater unser« vorbete und »Großer Gott, wir loben Dich« anstimme. Jedenfalls sehe ich so, direkt unter der Kuppel Michelangelos, wie auf einen Schlag die ganze Basilika im Licht erstrahlt und der Summus Pontifex auf der Sedia gestatoria in die Peterskirche getragen wird, wie er absteigt, wie er die Ehrengäste begrüßt, wie er sich von Begeisterten die Hände küssen lässt. Aber auch, wie er anschließend zur Confessio kommt und sich neben mir vom Leibarzt seine Hände desinfizieren lässt. Verständlich und menschlich. Unser Mikrofon wird jetzt direkt vor seinen Thron gestellt. Von dort aus hält er seine offizielle Begrüßung und eine Ansprache. Abgeschlossen alles mit dem feierlichen Apostolischen Segen. Natürlich schreibe ich mit Freuden nach Hause, wie nahe ich schon dem »Heiligen Vater« gekommen bin.

Ein anderer Germaniker hat nicht dasselbe Glück. Wir führen nämlich vorwiegend die besonders zahlreichen Frauen- und Mädchengruppen durch Rom; noch heute habe ich Spaß an den mir damals zugesandten hübschen Fotos. Selbstverständlich bleiben jene Roten, die nicht wie ich einen Platz an der Confessio haben, auch in Sankt Peter inmitten ihrer Gruppen. Dies aber gefällt dem Heiligen Vater gar nicht. Und wie sein Vorgänger Pius X. ins Kolleg telefonieren ließ, weil er von seinem Fenster aus auf dem Petersplatz einen »Roten« allein sah (statt vorschriftsmäßig mindestens zu zweit), so winkt eines Tages Pius XII. von seinem Thron aus mit großer Geste einen Germaniker aus seiner Mädchenschar heraus. Offensichtlich sieht der Papst hier des Priesteramtskandidaten »Selbstzucht« in Gefahr. Ja, er wartet mit der Ansprache, bis der Arme, jetzt auch der Kopf hochrot, ganz vorn, von seiner Gruppe getrennt, Aufstellung genommen hat.

Doch dies genügt dem Pastor Angelicus nicht. Prompt lässt er durch seinen Privatsekretär, P. Robert Leiber SJ, unseren Rektor wissen, Seine Heiligkeit wünsche nicht, dass Germaniker Frauen- oder Mädchengruppen führen. Wir sind perplex. Große Diskussion. Doch dem »Wunsch« des Papstes wird selbstverständlich Folge geleistet. In der zweiten Jahreshälfte können wir nur noch wenige Pilger führen. Ich finde dies völlig unverständlich und frage unseren Exerzitienmeister P. Johannes Hirschmann aus Frankfurt/St. Georgen, einen bekannten Moraltheologen. Dieser öffnet mir für alle Zukunft die Augen mit der entwaffnenden Erklärung: Auch Päpste seien nun einmal vor »Sexualkomplexen« nicht gefeit. »Selbstzucht« kann also auch innere Unfreiheit bedeuten.

Doch auch vonseiten der Kollegsleitung hat man Angst, die stramme Kollegsdisziplin könne unter den Pilgerführungen leiden. Jedenfalls erklärt uns eines Abends der Präfekt der Philosophenkammer, Josef Stimpfle, bei der abendlichen Ankündigung – diese macht immer der »oberste« Germaniker in der Selbstverwaltung des Kollegs – vor dem Silentium religiosum tiefernst: Er habe heute in der Stadt einen Mitbruder gesehen, »einfach so, einfach so«. Und mit strenger Miene streicht er mit seinen Händen von oben nach unten über seinen Talar, wie wenn dieser Mitbruder nackt durch Roms Straßen gegangen wäre. Doch das »einfach so« – es wurde unter uns sprichwörtlich – bezieht sich lediglich darauf, dass jener Mitbruder in der römischen Bruthitze ohne die fußlange rote Scholastika, einfach so nur im roten Talar, durch die Stadt gegangen war. Was draußen keinem Menschen auffällt, kann die innerkirchliche Ordnung ernsthaft erschüttern. Einfach so.

Alle Pilgerführer erhalten nach dem Heiligen Jahr 1950, vom Kölner Kardinal Frings überreicht, eine bronzene Verdienstmedaille am grünen Ordensband. Neben Kardinal Valerio Valeri steht auch der neu kreierte Kardinal von München, der Germaniker Joseph Wendel. Eine volle Woche erleben wir von ganz nah, welche höfischen Zeremonien fällig sind, wenn der Papst einen seiner »Söhne« (Kardinäle sind ganz und gar »Kreaturen« des Papstes, während Bischöfe als seine »Brüder« zu respektieren sind) installiert: Überbringung des Ernennungsbigliettos, »Visite di calore« der Kardinäle und des diplomatischen Corps, Festbankett, eine heilige Aufregung, alles bei uns im Kolleg. Dann im Vatikan halböffentliches Konsistorium, gefolgt vom öffentlichen Konsistorium, schließlich die Besitzergreifung der römischen Titelkirche Santa Maria Nuova. SCV ist auf den Limousinen die Abkürzung für »Stato e Città del Vaticano« – von den spöttischen Römern übersetzt mit »Se Cristo vedesse – Wenn dies Christus gesehen hätte«. In der Tat: Was hat dies alles mit Jesus Christus zu tun?

Erstarrte Fronten

Am 13. Oktober 1951 beendet Pius XII. in aller Form die Feierlichkeiten des Heiligen Jahres 1950#. Und zwar mit einer Rundfunkansprache an eine Million Pilger im portugiesischen Wallfahrtsort Fatima. Kardinallegat Tedeschini teilt der Öffentlichkeit mit, dass der Papst – o Wunder – im vergangenen Jahr in Rom die gleichen Erscheinungen am Himmel beobachtet habe, die seit 1917 als das Sonnenwunder von Fatima bezeichnet werden. Bei uns im Germanikum haben selbst intensive Marienverehrer zu dieser Zeit keine derartigen Erlebnisse.

Eine kritische Sicht der Amtsführung Pius’ XII. setzt sich auch bei mir höchst langsam durch. Seine frühe Enzyklika »Divino afflante Spiritu« (1943), wesentlich vom Rektor des Bibelinstituts, Augustin Bea, inspiriert, bedeutete für die Bibelwissenschaft eine wahre Befreiung: moderne Methoden erlaubt, Archäologie, Paläontologie, Studium der semitischen Sprachen und der Alten Literatur erwünscht, die Bedeutung der verschiedenen literarischen Formen der Texte zu beachten … Aber schon die Instructio »Ecclesia catholica« der Inquisitionsbehörde, des Sanctum Officium, vom 20. Dezember 1949, gegen die ökumenische Bewegung, welche die von der katholischen Kirche verweigerte Teilnahme an dem im Vorjahr in Amsterdam gegründeten Weltrat der Kirchen unterstreicht, befremdet mich.

Aber vieles weiß oder verstehe ich damals nicht. Etwa dass der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin schon 1926 seinen Lehrstuhl am Pariser Institut Catholique verloren hatte und seither von der römischen Inquisition verfolgt wird; dass er zu seinen Lebzeiten kein einziges seiner theologischen Werke gedruckt sehen darf; ja, dass er nun im Lauf der Säuberung – im Gefolge der Enzyklika »Humani generis« über einige glaubensbedrohende Ansichten – 1951 irgendwo aufs Land im Staat New York verbannt wird, wo seinem Sarg am Ostersonntag 1955 ein einziger Mensch folgen wird. 1968 werde ich als Gastprofessor in New York ganze 160 Kilometer am Hudson entlang zu seiner Grabstätte fahren, und es wird mich schmerzen, dass das Grab des großen Paläontologen und Theologen in keiner Weise ausgezeichnet ist, sodass ich es nur mit Mühe finden kann. »Damnatio memoriae – aus dem Gedächtnis auslöschen«: eine alte römische Sitte!

Kein Zweifel: Im Vatikan hat 1950 die letzte, reaktionäre Phase des Pontifikats Pius’ XII. begonnen, die in der Theologie Friedhofsruhe einkehren lässt und für die Arbeiterpriester in Frankreich eine Katastrophe bedeutet. Aber auch in der großen Politik zwischen Ost und West scheint sich wenig zu bewegen. Der Kalte Krieg ist zum Stellungskrieg erstarrt, der bestenfalls Stellvertreterkriege wie in Korea zulässt. In Moskau ist Stalins Herrschaft ebenfalls in die Endphase eingetreten. Präsident Truman wird bald von General Eisenhower abgelöst. Gegenüber der Sowjetunion verfolgt er eine »Politik der Stärke«, deren Exponent sein Außenminister John Foster Dulles ist, Onkel des zum Katholizismus konvertierten Jesuitentheologen Avery Dulles, der es unter Johannes Paul II. noch zum Kardinal bringen sollte.

In der Bundesrepublik Deutschland folgt dem Wiederaufbau die Westintegration. 1951 beenden die Westmächte den Kriegszustand mit Deutschland. Trotz päpstlichen Einspruchs wird am 10. April das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den westdeutschen Unternehmen des Bergbaus und der eisenschaffenden Industrie verabschiedet. Am 10. September schließt die Bundesrepublik einen Wiedergutmachungsvertrag mit dem Staat Israel, während der Vatikan dem Judenstaat die diplomatische Anerkennung aus ideologischen Gründen nach wie vor versagt. Der Vatikan spielt immer mehr die Rolle der weltpolitischen Nachhut. Bezüglich des Kommunismus gilt nach wie vor das Decretum des Sanctum Officium vom 1. Juli 1949: Wer der kommunistischen Partei beitritt, sie fördert, kommunistische Bücher oder Zeitschriften herausgibt, liest oder in ihnen schreibt, ist ipso facto exkommuniziert. Doch im Land von »Don Camillo und Peppone« – diese vergnüglichen Filme mit dem französischen Schauspieler Fernandel werden auch uns in der Sommervilla San Pastore gezeigt – nimmt man es nicht so genau. In Rom werden die Gesetze gemacht und (nur) in Deutschland gehalten.

Das päpstliche Mariendogma

Am 1. November 1950 erblicke ich meine Professoren Bea, Hürth, Tromp und andere Mitglieder des Sanctum Officium direkt vor mir auf dem Petersplatz. Sie sitzen zusammen mit dem französischen Außenminister Robert Schuman – einem Europäer der ersten Stunde – auf den Ehrenplätzen bei einem Großereignis des »außerordentlichen« päpstlichen Lehramtes: der Definition eines neuen Dogmas über Maria. »Die unbefleckte Gottesmutter und immerwährende Jungfrau Maria ist«, so erklärt Pius XII. feierlich und für alle Katholiken verbindlich, »nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen worden« (ob sie gestorben ist, lässt der Papst bewusst offen).

Ein unfehlbarer Spruch, da ex cathedra vom obersten Lehrer und Hirten der katholischen Kirche unter dem besonderen Beistand des Heiligen Geistes ausgesprochen: Zum ersten Mal nimmt der Papst die durch das Vatikanische Konzil 1870 erfolgte Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit in Anspruch. Und dies jetzt gegen allen Widerspruch von Protestanten, Orthodoxen und nicht zuletzt von Katholiken, die über diese »von Gott« angeblich »geoffenbarte Glaubenswahrheit« in der Bibel schlichtweg keinen Beleg finden. Mein eigener Basler Diözesanbischof, Franziskus von Streng, ist 1950 prominent dabei als päpstlicher Thronassistent mit Kerze. Warum? Weil unser Bistum die sündhaft teure neue Bronzetür des Heiligen Jahres zwar bezahlen durfte, auf deren gewaltigen Türflügel aber nicht etwa der Name unseres Bischofs eingegossen wurde, sondern der des früheren deutschen Zentrumsvorsitzenden und Papstfreundes Prälat Ludwig Kaas, jetzt Direktor der vatikanischen Fabbrica di San Pietro. Auch dies ist alte römische Tradition: Für die eigenen Lorbeeren lässt man andere bezahlen. Doch was hat Kaas davon? Kaum zwei Jahre später muss er »das Zeitliche«, das ihm so sehr am Herzen lag, »segnen«.

Ob wir denn mit diesem unfehlbaren Dogma gar keine Probleme hätten? So fragen uns deutsche Theologiestudenten aus Bonn, die in unserem Refektorium zu Gast sind. Soeben war ein langer Artikel des führenden deutschen Patrologen Prof. Berthold Altaner erschienen, der mit vielen Belegen aufzeigt, dass dieses Dogma keine historische Grundlage in den ersten Jahrhunderten besitzt, sondern auf die Legende einer wundersüchtigen apokryphen Schrift aus dem fünften Jahrhundert zurückgeht. Wir Germaniker – unter dem Einfluss von Männern wie Tromp und Hürth – wollen von diesen Einwänden nichts hören. Wir meinen, die deutschen Theologiestudenten seien durch ihre »rationalistischen« Professoren von der an der Gregoriana verbreiteten Erkenntnis abgehalten worden, dass sich ein solches Dogma nun einmal langsam, quasi »organisch« im Lauf der Dogmengeschichte »entwickelt« habe, dass es aber im Grunde schon in biblischen Sätzen wie »Maria, Du bist voll der Gnade, der Herr ist mit Dir« (Lk 1,30) angelegt, »implizit« also, enthalten sei.

In meiner Surseer Heimat praktizierten wir auch in der katholischen Jugendbewegung eine recht selbstverständliche Marienverehrung, vor allem stimmungsvolle Maiandachten und Waldweihnachten – ohne Probleme. Aber in Rom wird jetzt eine enthusiastische Marienverehrung von Pius XII. wie schon von Pius IX. bewusst strategisch eingesetzt, nicht zuletzt mit Hilfe des großen italienischen Volkspredigers P. Riccardo Lombardi SJ. Zum triumphalen Abschluss seines »Kreuzzugs der Güte« in der Stadt Rom hält man schon am 8. Dezember 1949 – natürlich immer mit den Kommunisten im Visier – unter Beteiligung Hunderttausender eine riesige Prozession ab, bei der wir Germaniker mit anderen Seminaristen abwechselnd stolz das Gnadenbild von Santa Maria Maggiore nach Sankt Peter tragen dürfen. Die Abschlussveranstaltung des »Kreuzzugs« findet dann nachts in Santa Maria Maggiore statt mit einer in Roms Pfarrkirchen übertragenen gewaltigen Predigt P. Lombardis, die, bezeichnend für diese Frömmigkeit, endet mit: »Evviva Gesù! Evviva la Madonna! Evviva l’Italia!«

Solche Marienverehrung verbindet sich für uns freilich mit einer zunehmend kritischen Einstellung gegenüber neuen Marienerscheinungen wie etwa denen im bayrischen Heroldsbach in den 40er- und 50er-Jahren. Über deren kirchliche Nichtanerkennung wird unser Mitbruder, der zuständige Bamberger Weihbischof und Erforscher der Frühscholastik Arthur Michael Landgraf, uns bald eingehend berichten. Nach dessen nüchternen Kriterien wären sicher auch die Erscheinungen von Fatima kirchlich nie anerkannt worden.

Auf dem Petersplatz nun an diesem strahlenden 1. November des Heiligen Jahres 1950 bin ich mit Begeisterung bei der Definition des Dogmas dabei. Ich vollziehe auch in aller Stille jene Weihe der vollständigen Hingabe an Maria und durch Maria an Jesus, wie sie der französische Volksmissionar und Ordensstifter Grignion de Montfort (+1716, von Pius XII. 1947 heiliggesprochen) propagiert hatte. Sie ist mir empfohlen worden vom sonst so kritischen P. Wilhelm Klein, unserem Spiritual, ein glühender Marienverehrer, der in »geistiger Exegese« freilich sogar in den Paulusbriefen Maria (als »geschaffene Gnade«) zu finden trachtet. Davon werde ich mich mit zunehmender Kenntnis der kritischen Schriftauslegung und kirchenpolitischer Erfahrung immer mehr distanzieren.

Die Arbeiterpriester – ein Testfall

Anfang der 1950er-Jahre hatte sich Frankreich – mit seiner großen Kommunistischen Partei, seinen starken Gewerkschaften und zahllosen Streiks – zu einem Krisenherd der katholischen Kirche entwickelt. Frankreichs Bischöfe waren alarmiert worden durch die religionssoziologische Untersuchung der Abbés Godin und Daniel unter dem Titel »France, pays de mission?«. »Frankreich – ein Missionsland«? Der Befund ist denn auch alarmierend: Ein fast totaler Verlust der Arbeiterschaft, von der gerade noch zwei Prozent religiös aktiv sind! Es ist vor allem der Kardinal-Erzbischof von Paris, Emmanuel Suhard, der, wiewohl auch er wie die Mehrzahl der französischen Bischöfe durch die Kollaboration mit dem autoritären nazihörigen Pétain-Regime kompromittiert, jetzt entschieden auf diesen Befund reagiert. Schon früh lese auch ich seinen weit über Frankreich hinaus bekannten, genau analysierenden Hirtenbrief »Essor ou déclin de l’Eglise? – Aufschwung oder Verfall der Kirche?« Im März 1953 spricht bei uns im Germanikum der Sekretär der »Semaines Sociales de France«, Professor Folliet aus Lyon, über Frankreichs Arbeiterbewegung und seine sozialkatholische Bewegung.

Dem Vatikan ist die Religionssoziologie – von Gabriel Le Bras an der Sorbonne etabliert – verdächtig, da sie gegenüber dem herrschenden Triumphalismus ein realistisches Bild von der zum Teil desolaten Lage der Kirche an der Basis zeigt. Verdächtig natürlich auch die »Rückkehr zu den Quellen«, da so von der Bibel und den Kirchenvätern her eine andere Theologie und ein weniger juristisches Bild der Kirche entwickelt wird als in der herrschenden Neuscholastik. Verdächtig ebenfalls jeglicher »Ökumenismus«, der in den anderen christlichen Kirchen Wahres und Gutes und sogar eine Form von »Kirche« zu finden vorgibt. Verdächtig unter all diesen Umständen erst recht die »Arbeiterpriester«.

Mit großer Anteilnahme verfolge ich so das unter Kardinal Suhards Protektorat nach dem Krieg gestartete Experiment der »Mission de Paris«, später der »Mission de France«, welche die Arbeiterschaft zurückzugewinnen sucht: und zwar durch Priester als Arbeiter, durch »prêtres ouvriers«. Was man schon während des Krieges unter den französischen Zwangsarbeitern in deutschen Rüstungsfabriken ausprobiert hatte, soll jetzt auch in Frankreich realisiert werden. Man schickt Priester als Arbeiter in die Fabriken, damit sie dort als Seelsorger unter den Arbeitern wirken. Eine fast unmögliche Aufgabe angesichts der seit den Revolutionen von 1789 und 1848 anhaltenden Entfremdung der jetzt meist sozialistisch-kommunistischen Arbeiterschaft von der verbürgerlichten, »kapitalistischen« Kirche. Kommen da die engagierten Arbeiterpriester darum herum, sich die berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft zu eigen zu machen? Gar der Gewerkschaft, oft auch der Kommunistischen Partei, beizutreten? Von sieben Millionen Lohnempfängern in Frankreich verdienen 1953 mehr als eine Million weniger als 30 Dollar im Monat. Als besser Gebildete werden Arbeiterpriester vereinzelt in Betriebsräte oder gar als Gewerkschaftssekretäre gewählt. Mit heißem Herzen lese ich den auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Roman von Gilbert Cesbron »Les saints vont en enfer« – »Die Heiligen gehen in die Hölle«.

Und in die »Hölle« kommen die Arbeiterpriester jetzt tatsächlich. Doch nicht in die des totalitären Kommunismus, sondern in die der totalitären römischen Inquisition. Diese kann zwar Abweichler nicht mehr physisch, wohl aber psychisch verbrennen. Es ist jener Kardinal Pizzardo, Sekretär der vatikanischen Kongregation für die Seminare, dem ich meine Silbermedaille für das philosophische Lizentiat verdanke, der jetzt unter der Direktive des Sanctum Officium und in Zusammenarbeit mit dem Pariser Nuntius Marella im August/September 1953 eine breit angelegte römische Welle der Repression anrollen lässt: Allen französischen Seminaristen ist ab sofort Ferienarbeit in den Fabriken untersagt. Alle Arbeiterpriester sind aus den Fabriken zurückzurufen in die religiösen Häuser der Orden und Diözesen. Das Seminar der »Mission de France« wird geschlossen. Die Professoren werden nach Hause geschickt. Das alles geschieht selbstverständlich nicht ohne Billigung Pius’ XII. Es ist der Wunsch des Heiligen Vaters persönlich …

90 Arbeiterpriester sind die Betroffenen, mehr waren von Rom ohnehin nicht toleriert worden. Und die sollen unter fast 50 000 Weltpriestern und Ordensleuten für die Kirche eine so ungeheure Gefahr darstellen? Die Weltpresse verfolgt die Ereignisse aufmerksam, und überall, auch in unserem Kolleg, wird die Frage leidenschaftlich diskutiert. Zum ersten Mal bin ich fest überzeugt: Pius XII. ist in dieser Frage im Unrecht! Das Ende der Arbeiterpriester ist eine Tragödie. Und mit dem Ende der Arbeiterpriester ist ja auch das Ende der sie unterstützenden Theologie gekommen.

Theologen-Säuberung: Yves Congar gegen die »römische Hydra«

Eine zweite Säuberung (und beabsichtigte Einschüchterung auch der nicht direkt Betroffenen) setzt jetzt ein, nicht mehr gegen die Jesuiten, die sich nach der Enzyklika »Humani generis« (1950) als gebrannte Kinder rechtzeitig aus der Mission de France zurückgezogen hatten, sondern gegen die Dominikaner. Genau wie in autoritären oder totalitären Regierungssystemen werden führende Mitglieder ohne irgendein legales Verfahren und ohne Möglichkeit der Verteidigung aus ihren Stellungen entfernt. Von Menschenrechten redet kein Mensch und erst recht kein Papst. Mit allen Mitteln sollen die Orden, die sich aufgrund ihrer aus dem Mittelalter stammenden Verfassung einen Rest von Autonomie gegenüber der römischen Zentrale bewahrt haben, zur politischen Unterordnung unter den Willen des in Rom herrschenden Machtkartells gezwungen werden.

Nicht nur der Papst, auch das Sanctum Officium bleibt bei solchen Aktionen gerne im Hintergrund. Es ist der Dominikanergeneral, der Spanier Emanuel Suárez, der im Februar 1954 angewiesen wird, die drei Provinziäle von Paris, Lyon und Toulouse, die Patres Avril, Belaud und Nicolas, ihrer Ämter zu entheben. Tragischerweise kommt Suárez am 29. Juni, nachdem er in Rom am Fest von St. Peter und Paul teilgenommen und die ganze Nacht hindurch selber sein Auto gesteuert hatte, zwischen Perpignan und der spanischen Grenze ums Leben. Die Elite des Predigerordens (OP, Ordo Praedicatorum) ist jetzt lahmgelegt. Denn vier weitere berühmte Dominikanertheologen, die ich später persönlich kennenlerne, werden aus Paris verbannt: Pierre Boisselot (Verlagsleiter der Editions du Cerf), Henri Féret (Lehrstuhl für Katechetik), Marie-Dominique Chenu (der große Anreger, exzellenter Thomaskenner und Theologiehistoriker, zeitkritischer Verfasser einer Theologie der Arbeit und Hauptstütze der Arbeiterpriester) und vor allem Yves Congar. Dieser wird im Februar 1954 aus seinem Heimatkonvent Le Saulchoir bei Paris ausgeschlossen und nach Jerusalem verbannt, bevor er nach Cambridge abgeschoben und generell mit Rede- und Publikationsverbot belegt wird. Fehlt nur noch, dass man ihn (wie in der Sowjetunion) in eine Nervenheilanstalt steckt: Denn wer gegen das System (»Kirche« oder »Partei«) ist, der kann doch nur verrückt sein …

Zu meiner Überraschung treffe ich Yves Congar, diesen bedeutendsten Ökumeniker und Ekklesiologen unserer Kirche, jetzt aber ein gemiedener »auteur suspect«, im Winter 1954/55 in Rom, wo er sich zwischen seinem Exil in Jerusalem und Cambridge kurze Zeit aufhält. Erst später höre ich, dass er vom Sanctum Officium dringend nach Rom gerufen worden war, ohne aber je vorgelassen zu werden. So martert man die Menschen. Er darf in Rom weder predigen noch Vorträge halten, ja nicht einmal im Sprechzimmer Studenten empfangen. Als Mitglied eines kleinen internationalen Ökumenischen Zirkels, geleitet in Nachfolge von P. Charles Boyer SJ vom hervorragenden holländischen Liturgiewissenschaftler Herman Schmidt SJ, dessen Vorlesungen ich eifrig besuche, bin ich gut zwei Stunden mit Congar zusammen. Gastgeber ist das Centro »Unitas« an der Piazza Navona, das von den bewundernswert engagierten holländischen Damen des Gral-Laienordens geführt wird.

Wir Studenten können uns kaum vorstellen, was in dem ruhig und freundlich in unserer Runde sitzenden, verketzerten und zur öffentlichen Untätigkeit verurteilten Dominikaner vor sich geht. Er spricht hier über sein der Zukunft zugewandtes Kirchenverständnis, das auf die Laienschaft baut und auf die Ökumene ausgerichtet ist. Erst im Jahr 2000 – sechs Jahre nach seiner Erhebung zum Kardinal, fünf Jahre nach seinem Tod! – wird sein erschütterndes »Journal d’un théologien 1946  1956« veröffentlicht: Congars dunkelstes Jahrzehnt im Kampf gegen die »römische Hydra« (»l’hydre romaine«). Aufgrund seiner grausamen Erfahrungen mit der unheiligen römischen Inquisition – das Wort »Heiliges Offizium« setzt er immer in Anführungszeichen – hat er längst in vielem tiefer als wir kritische römische Studenten dieses kranke religiöse System und dessen Symptome durchschaut: die römischen Methoden, die behaupten, Gott zu dienen, indem sie die Freiheit des Evangeliums unterdrücken. Congar schreibt in seinem Tagebuch bereits 1937 über dieses »kirchliche, klerikale System, wo die Gewissen geknechtet werden, die Beziehungen der Seele mit Gott aber abgeleitet und kontrolliert erscheinen«: »eine Religion durch Bevollmächtigung (›procuration‹) zugunsten des Klerus, ein kirchliches Imperium, dessen Autokrat der Papst ist«.

Aber Congar hat die Hoffnung nicht aufgegeben. Denn er ist überzeugt, dass diese Kirche sich reformieren muss, wenn sie nicht verfallen soll. Man solle mit denen, die sie verlassen haben, diskutieren und sie nicht bekämpfen: »débattre plutôt que combattre!« Und was die Arbeiterpriester angeht, hat er den viel zitierten Satz geschrieben: »On peut condamner une solution si elle est fausse, on ne peut condamner un problème.« – »Man kann eine Lösung verurteilen, wenn sie falsch ist; man kann kein Problem verurteilen« (»Témoignage Chrétien« 1953).

Nie wollte Congar austreten, nicht aus dem Orden, nicht aus dem geistlichen Amt, nicht aus der Kirche, gar ein Schisma provozieren. Aber zutiefst verabscheut er das System, das er mit dem stalinistischen vergleicht (und das »Heilige Offizium« mit der Gestapo), weil es mit Denunzierung und Geheimhaltung in der Kirche eine Atmosphäre der Verdächtigung und der Gerüchte schafft und letztlich auf Angst beruht, auf der Angst nicht nur vor dem Kommunismus, sondern vor jeglicher Veränderung des Status quo. Ernsthaft ringt Congar mit der Frage, ob er sich nicht zum Komplizen mache, wenn er seinem Ordensgeneral, in dem er immer den Nachfolger seines Ordensgründers, des heiligen Dominikus, sieht, unbedingt gehorche. Einem General, der ihn zwar gegenüber dem Heiligen Offizium verteidige, aber doch immer nur innerhalb eines Systems, ohne je die diesem System inhärenten Lügen zurückzuweisen: »Ich habe heute Angst, dass das Absolute und die Simplizität des Gehorsams mich in eine Komplizenschaft hineinzieht mit diesem abscheulichen System der geheimen Denunzierungen, welches die wesentliche Bedingung des ›Heiligen Offiziums‹ ist, Zentrum und Scheitelpunkt für den ganzen Rest. Denn, tatsächlich, wenn der P. General Chenu, Féret, Boisselot und mich ohne Grund – ich meine ohne einen anderen Grund als die Unzufriedenheit des ›Heiligen Offiziums‹ und seiner Schriftgelehrten vom päpstlichen Hof – mit Sanktionen belegt, so arbeitet er für die Verdächtigungen und die Lügen, die verlogenerweise auf uns lasten.« Congars Schlussfolgerungen: »Es ist das System und seine Lügen, die ihm inhärent sind, die man ganz und gar zurückweisen müsste« (»Journal«, 23. 3. 1954).

Ob ich selber andere Entscheidungen bezüglich meines Lebensweges getroffen hätte, wenn mir Congar das, was er damals nur seinem »Journal« anvertraute, verraten hätte? Die Gefährlichkeit eines unbedingten Gehorsams, selbst gegen sein eigenes Gewissen, war mir ja auch schon vorher schmerzhaft deutlich geworden, und ich habe mir diesbezüglich meine Meinung gebildet: Glaube ist nicht Unterwerfung unter eine menschliche Autorität, sondern unbedingtes Vertrauen auf Gott selbst.

Affinität des päpstlich-autoritären Kirchenverständnisses zum faschistisch-autoritären Staatsverständnis

Henri de Lubac und die Jesuiten haben sich äußerlich der kirchlichen Autorität unterworfen – und schweigen. Die Kirche sei »quand-même notre Mère – trotzdem unsere Mutter«, wird mir de Lubac während des Konzils unter der Kuppel von St. Peter tadelnd sagen, nachdem ich meinen ersten kritischen Vortrag über »Wahrhaftigkeit in der Kirche« gehalten hatte. Auch Yves Congar und die Dominikaner haben sich äußerlich der kirchlichen Autorität unterworfen – und schwiegen. Insofern ist es nicht richtig, wenn man im Jahr 2000 Yves Congars ganz privates »Journal« der Jahre 1946  1956 mit »La révolte d’un théologien« anpreist. Alle französischen Priester und Theologen, so kann man in den 50er-Jahren triumphierend in Rom verkünden, hätten sich den römischen Maßnahmen im Geist des Gehorsams »unterworfen«: »Humiliter se subiecerunt.« – »Demütig haben sie sich unterworfen« ist die traditionelle Formel. Alle? Außer 40 (von 90) Arbeiterpriester, die sich weigern, die Fabrikarbeit aufzugeben und sich zu unterwerfen! Man hat nicht mehr viel von ihnen gehört. Damnatio memoriae. Ihre Namen sind vergessen. Ob vielleicht irgendwann einmal jemand ihre Geschichte schreiben wird?

Mitten in den Auseinandersetzungen um die Arbeiterpriester fliegen am 5. November 1953 die drei französischen Kardinäle Feltin (Suhards Nachfolger in Paris), Gerlier (Lyon) und Liénart (Lille) nach Rom, um persönlich bei Pius XII. zu intervenieren. Ohne allen Erfolg. Drei Jahre später in Paris werde ich bei einem kleinen Abendessen auf Einladung des aufgeschlossenen Msgr. Lalande, Vorsitzender von »Pax Christi« und früher Sekretär von Kardinal Suhard, Gelegenheit erhalten, Kardinal Pierre Gerlier bezüglich dieser Unterredung zu befragen. Der Papst sei nicht zu überzeugen gewesen, meint der Primas von Gallien. Am Ende habe er gesagt: »Ma conscience de pape m’oblige d’agir ainsi« – »Mein Gewissen als Papst verpflichtet mich, so zu handeln«. Und, jetzt zu mir gewandt, Kardinal Gerlier: »Et alors, qu’est-ce que vous voulez faire« – »Was wollen Sie da machen, cher Monsieur l’Abbé?« Ich zucke die Schultern und ärgere mich nachträglich darüber, dass mir die Antwort nicht einfiel: »Démissionez, Eminence.« Oder noch besser: »Résistez!« – »Widerstehen Sie!« Doch »Résistez« war die Parole der französischen Hugenotten gegen Kardinal Richelieu. Und hätte sich angesichts eines solchen bischöflichen Gewissens (»conscience d’évêque«) und der angedrohten Demission der drei Führer der »Eglise de France« das Gewissen gerade dieses Papstes wirklich noch geändert?

Ich weiß es bis heute nicht. Damals war die Stellung des ebenso selbstbewussten wie selbstgerechten Pius XII. noch unangefochten. Freilich weiß man bereits: Weder der italienische Überfall auf Albanien am Karfreitag 1939 noch die Auslösung des Zweiten Weltkriegs durch den deutschen Überfall auf Polen im September 1939 noch der schon seit 1942 dem Papst bekannt gewordene Holocaust konnten Pius XII., den »Stellvertreter«, zu einer öffentlichen Verurteilung veranlassen. Doch Rolf Hochhuths »christliches Trauerspiel« wird erst 1963 erscheinen.

Immer klarer wird mir: Das Versagen jeglichen prophetischen Protestes angesichts all der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die totalitären Machthaber einerseits und das autoritäre Einschreiten desselben Papstes gegen die Erneuerer in der eigenen Theologie und Kirche andererseits haben im Grunde dieselbe Wurzel: Es ist die unübersehbare Affinität zwischen des Papstes autoritärem, das heißt: antiprotestantischem, antiliberalem, antisozialistischem, antimodernem Kirchenverständnis und einem höchst autoritären, das heißt: faschistischen Staatsverständnis. Deshalb ja auch Konkordate Pacellis mit Hitler-Deutschland, Salazar-Portugal und Franco-Spanien. Bezeichnenderweise hat Pius XII. die, von Pius XI. 1926 verbotene, nationalistisch-faschistoide Action Française (für die das absolute Übel die Demokratie und das absolute Heilmittel die Monarchie ist) schon wenige Wochen nach seiner Wahl wieder zugelassen. Aber die bereits vorbereitete Enzyklika seines Vorgängers gegen Nazismus und Antisemitismus – Gustav Gundlach ist einer der drei Redakteure – lässt er liegen. Aus dem harten Kern der Action Française rekrutierten sich 1940 Marschall Pétains katholische Anhänger, während sich die Katholiken in der Résistance (de Gaulle, Bidault, Schuman, Abbé Pierre …) oft gegen die Hierarchie auf den Primat ihres Gewissens berufen mussten.

Servile Bischöfe

Das Schlimme an diesem autoritären, quasi faschistischen Kirchenverständnis ist, dass es von den Bischöfen weithin mitgetragen wird, wie es wiederum Yves Congar schon damals sehr klar erkannt hat: Für die Bischöfe (die sich übrigens zum schönen Teil auf die Seite des Regimes von Marschall Pétain gestellt hatten) seien die Dominikaner »eine Résistance, das heißt wir (die Dominikaner) sind die einzige organische Kraft, die denkt, die eine Unabhängigkeit hat und die sich nicht damit begnügt, wann immer der römische Götze (l’idole romaine) gesprochen hat, auszurufen, ›es ist nicht ein Mensch, es ist ein Gott, der gesprochen hat‹ (Apg 12,22: so wurde damals König Herodes, der das königliche Gewand angezogen und sich auf den Thron gesetzt hatte, nach seiner Rede vom Volk gefeiert, bevor ihn der Engel des Herrn schlug, weil er Gott nicht die Ehre gab, und er von Würmern zerfressen den Geist aufgab)«.