Marc Baumann

Mauritius Much

Bastian Obermayer

Martin Langeder

Franziska Storz (Hrsg.)

Feldpost

Briefe deutscher Soldaten aus Afghanistan

Inhaltsverzeichnis

Karte

Von Bunkermentalität, ungewollten Einsichten und einem umstrittenen Krieg

Feldpost – Briefe von der Front

1. Ankunft

2. Der Einsatz beginnt

3. Alltag im Lager

4. Krieg oder kein Krieg?

5. Das große Bild

6. Sehnsucht

7. Fremdes Land

8. Fremde Menschen

9. Fremdes Leid

10. Fremde Kinder

11. Leben mit dem Tod

12. Ablenkung im Lager

13. Weihnachten in Afghanistan

14. Abschied

Abkürzungen und Begriffe

Dank

Die Bundeswehr in Afghanistan

 

Kabul: Bis zu 300 deutsche Soldaten im ISAF-Hauptquartier und im Lager «Camp Warehouse». Im Januar 2002 beteiligten sich deutsche Soldaten erstmals an Patrouillen.

Termez: Etwa 120 Deutsche im Luftstützpunkt in Usbekistan, das als Drehscheibe für Flüge von und nach Afghanistan dient.

Masar-i-Scharif: Derzeit bis zu 2580 deutsche Soldaten, darunter 100 Mann der Schnellen Eingreiftruppe; das Feldlager besteht seit Ende 2005.

Kundus: Aktuell bis zu 1300 Soldaten, 2003 wurde der US-Stützpunkt von der Bundeswehr übernommen.

Taloqan: Der Stützpunkt gehört zum Provincial Reconstruction Team (PRT) Kundus und beherbergt ein Regionales Beraterteam (Provincial Advisory Team) mit 60 Soldaten.

Faisabad: 500 Soldaten; seit 2004 betreibt die Bundeswehr dort ein PRT.

Von Bunkermentalität, ungewollten Einsichten und einem umstrittenen Krieg

Es gibt wieder Feldpost aus einem Krieg mit deutscher Beteiligung, es gibt wieder deutsche Briefe von einer Front. Wieder. Viele Jahrzehnte stand der Begriff Feldpost für etwas aus der Vergangenheit, das in staubigen Kisten auf Großmutters Speicher lag und das ungemein anrührte, weil in jedem Brief ausgesprochen oder unausgesprochen mitschwang, dass diese Zeilen das Letzte sein könnten, was man voneinander hört.

Der Krieg der Deutschen ist ein anderer, die Angst der Soldaten und die der Daheimgebliebenen bleibt die gleiche: Dass es kein Wiedersehen gibt.

 

Aus der Erkenntnis, dass wieder Feldpost nach Deutschland geschrieben wird, entspringt 2007 die Idee, eine ganze Ausgabe des Süddeutsche Zeitung Magazin mit Briefen deutscher Soldaten aus Afghanistan zu bestücken. Der Beitrag erscheint schließlich Weihnachten 2009, daraus geht dieses Buch hervor.

Was die Bundeswehr verhindern wollte

Die Recherche beginnt mit einem Irrtum: Als wir das Feldpostheft planen, sind wir uns sicher, der Bundeswehr damit – ohne dies ausdrücklich zu wollen – einen Gefallen zu tun. Der Einsatz in Afghanistan ist damals wie heute höchst umstritten, der Einsatzort weit weg, und kaum jemand hier weiß so richtig, was die deutschen Soldaten dort eigentlich genau tun.

Was wäre besser geeignet, denken wir, den Deutschen den Einsatz näherzubringen, als die Briefe, E-Mails und SMS, die deutsche Soldaten Woche für Woche nach Hause schicken? Wer könnte besser erklären, wie die Lage in Afghanistan ist, als die Menschen, die jeden Tag dort ihren Dienst tun? Wir sind uns sicher, dass die Feldpost unsere Leser mehr bewegen würde als hundert Leitartikel; weil die Soldaten eben nicht nur von ihrem Einsatz und dem Sinn ihres Tuns erzählen, sondern auch von sich, von ihren Kameraden und von den Menschen im Land. Sie berichten, wie es ihnen selbst damit geht, was sie erleben, wovor sie Angst haben, worüber sie sich freuen und was sie vor Ort bewirken, wie sehr die Kameraden nerven oder helfen, womit sie sich ablenken, was sie vermissen und ob sie nachts schlafen können.

Kurzum: Wir wollen dafür sorgen, dass sich unsere Leser für den Bundeswehreinsatz wirklich interessieren, weil die Menschen, die diesen leisten, ihnen durch selbst aufgeschriebene Gedanken und Gefühle viel näherkommen, als wenn sie nur olivgrün durch den Hintergrund eines Tagesschau-Berichts laufen. Anders gesagt: Die Briefe sollen eine «ferne Front plötzlich ganz nah» werden lassen (diese Formulierung entleihen wir der Laudatio der Jury des Henri Nannen Preises 2010).

Sicher: Manches von dem, was in den Feldpostbriefen steht, mag politisch nicht relevant sein, und vieles würde in einem offiziellen Kommuniqué des Verteidigungsministeriums natürlich anders klingen, aber näher als in den eigenen Worten der Soldaten kommt dieser Einsatz nie wieder an die Bevölkerung heran. Das denken wir zumindest, als wir die Recherche beginnen, und sind uns deshalb sicher, dass die Führung der Bundeswehr das genauso sehen würde.

Wir haben uns getäuscht. Anfangs klingen die Telefonate mit den Presseoffizieren verheißungsvoll, es gibt Versprechungen und Initiativen, es werden zeitweise sogar bundeswehrintern Briefe von Soldaten gesammelt. Dann werden wir vertröstet und hingehalten, Wochen und Monate vergehen, Entscheidungen werden verschoben, Ansprechpartner wechseln – und irgendwann ist plötzlich Schluss. Es werde keine Zusammenarbeit geben, wird uns mitgeteilt. Das Absurde daran ist, dass die Begründung für diese Absage sich ständig ändert.

Zuerst heißt es, die Veröffentlichung solcher Briefe gefährde die Sicherheit der Soldaten, in den Briefen könnten militärisch relevante Details stehen. Also erklären wir, dass wir, wenn die Bundeswehr uns unterstützt, keine Zeile drucken, die das Verteidigungsministerium beziehungsweise dessen Pressestab nicht freigeben – diese Zusage machen wir wohlgemerkt erst nach langem Zögern, weil ein solcher Eingriff natürlich eine Art Zensur darstellt, wenn auch eine Zensur, die wir meinen verantworten zu können, so es tatsächlich um die Sicherheit der Soldaten geht. Wir erlauben der Bundeswehr also, alle Passagen zu streichen, in denen – nach ihrer Einschätzung – die militärische Sicherheit der Soldaten gefährdet wird.

Daraufhin behauptet der nächste Ansprechpartner, es sei schlicht nicht möglich, an solche Post von Soldaten zu kommen, man könne schließlich niemandem befehlen, seine Briefe veröffentlichen zu lassen. Wir weisen darauf hin, dass wir natürlich nur freiwillig gegebene Briefe nähmen und dass sowohl uns wie auch der Bundeswehr selbst schon solche Briefe vorlägen.

Die nächste Reaktion: Man habe die Briefe gelesen, sie seien nicht druckbar. Das Deutsch der Soldaten sei zum Teil fehlerhaft, es kämen Kraftausdrücke darin vor, die afghanische Zivilbevölkerung werde beschimpft, und insgesamt seien diese Briefe «unter dem Niveau, das man von Bundeswehrsoldaten erwarte». Wir bitten darum, wenigstens ein paar dieser bemängelten Briefe sehen zu dürfen – selbstverständlich mit der Zusage, nichts davon zu verwenden –, damit wir verstehen könnten, was die Bundeswehr als «unter ihrem Niveau» versteht. Diese Bitte wird abgelehnt. Also bieten wir der Bundeswehr an, sie könne die Briefe auswählen und uns lediglich solche Passagen zukommen lassen, in denen weder Kraftausdrücke, Flüche oder grammatikalische Fehler enthalten seien.

Die Antwort der Bundeswehr: Die Veröffentlichung solcher Briefe gefährde die Sicherheit der Soldaten, in den Briefen könnten militärisch relevante Details stehen. Wir drehen uns im Kreis, über Wochen und Monate.

Nun ist klar, dass wir das Heft ohne die Hilfe der Bundeswehr recherchieren würden. Wir schreiben Hunderte Mails und Nachrichten in sozialen Netzwerken im Internet, telefonieren mit ungezählten Soldaten, schreiben Briefe und hören uns im Bekanntenkreis um. Und kommen Stück für Stück weiter. Fast alle Soldaten, die wir im Zuge der Recherchen sprechen, sind von der Idee begeistert. Auch wenn die meisten selbst nicht in Afghanistan waren und viele von den dort gewesenen keine Briefe oder Mails aufgehoben haben oder sie nicht veröffentlicht sehen wollen, geben sie doch fast immer unsere Nummern und Mailadressen weiter, veröffentlichen sie in Blogs und Foren, empfehlen uns Kameraden und geben Tipps für die Recherche.

Blockiert wird immer erst am oberen Ende der Dienstkette, dort hat man offensichtlich eher Angst vor Öffentlichkeit, intern nennen viele Soldaten den Presse- und Informationsstab ohnehin gern Presse- und Informationsverhinderungsstab.

Im Herbst 2009 hat sich wohl bis zur Bundeswehr-Führung herumgesprochen, dass wir bei der Suche nach Feldpost nicht ohne Erfolg sind. Aus der versagten Unterstützung für unser Projekt wird nun der Versuch, unser Vorhaben zu verhindern: Mehrfach werden uns – von wohlgesinnten Soldaten – Mails zugespielt, die vom Presse- und Informationsstab der Bundeswehr an ausufernde Verteiler geschickt wurden. Ein Zitat daraus:

«Das SZ-Magazin (Süddeutsche Zeitung) möchte Auszüge aus Feldpostbriefen und E-Mails von Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan veröffentlichen. Ziel des Artikels ist es nach Aussage der Redaktion, den Lesern einen möglichst realistischen Einblick in den Alltag des deutschen Kontingents zu geben. Dazu fragt die Redaktion bei verschiedenen Stellen/​Standorten der Bundeswehr Kontakte und Informationen nach. Ggf. besitzen die Journalisten bereits Kontakte zu Soldaten, die sich für das Projekt zur Verfügung stellen würden.

PrInfoStab hat entschieden, das Vorhaben nicht zu unterstützen. Anfragen der SZ nach Kontakten zu Soldaten sind daher abzulehnen.

Wenn bekannt ist, dass Soldaten sich freiwillig an dem Bericht mit Briefen beteiligen wollen, sind sie durch Vorgesetzte auf die geltenden Bestimmungen zur Weitergabe sicherheitsrelevanter und dienstlicher Informationen hinzuweisen. Angeschriebene LdI’s unterrichten alle Pressearbeiter des eigenen Bereiches (incl. der na) über o. a. Sachverhalt und informieren Befehlshaber, Kdr’e und Vergleichbare geeignet.»

 

Das Verhalten der Bundeswehrführung ist nicht nur ärgerlich – für uns Journalisten –, sondern vor allem grundfalsch. Inwiefern kann das Ziel, «einen möglichst realistischen Einblick in den Alltag des deutschen Kontingents zu geben», nicht vereinbar mit den Interessen des Militärs eines demokratischen Landes sein? Tatsächlich wäre doch genau das Gegenteil erstrebenswert: Die Bürger eines demokratischen Landes sollten so genau wie möglich darüber Bescheid wissen, wie der Alltag der deutschen Soldaten in einem Krisengebiet aussieht, welche Gefahren ihnen drohen und welche Chancen sich aus dem Einsatz für die Zivilbevölkerung vor Ort ergeben. Schließlich sind es die Bürger unseres Landes, die – zumindest indirekt – über einen solchen Einsatz zu entscheiden haben.

Unsere Recherche für das Heft fällt am Ende zusammen mit dem Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Kaum im Amt, spricht Minister Karl-Theodor zu Guttenberg öffentlich davon, man müsse «der Bevölkerung den Einsatz besser erklären», und auch davon, dass in Afghanistan «kriegsähnliche Zustände» herrschten. Umgehend schreiben wir zu Guttenberg an, in der Hoffnung, auf ein offenes Ohr zu stoßen. Wir erhalten keine Antwort.

Von der Friedensmission zum Krieg

Dieses «Erklären des Einsatzes» findet bis heute nicht statt, obwohl sich die Lage in Afghanistan nicht verbessert, sondern verschlechtert hat und sich damit auch die Aufgaben der deutschen Soldaten änderten. Mittlerweile ist der Einsatz in Afghanistan de facto ein Kriegseinsatz, obwohl er offiziell «innerstaatlicher bewaffneter Konflikt» genannt werden muss. Der Norden, das Einsatzgebiet der Deutschen, ist inzwischen fast genauso gefährlich wie der Süden des Landes.

Allein im Jahr 2010 sterben acht deutsche Soldaten im Kampf gegen die Taliban, zuletzt am 7. Oktober 2010 Oberfeldwebel Florian Pauli. Kurz vor Weihnachten fiel der 46. deutsche Soldat in diesem Krieg, vermutlich bei einem Unfall mit der Dienstwaffe. Das Jahr 2010 ist damit das blutigste Jahr des deutschen Afghanistan-Einsatzes. 2002 fallen zwar ebenfalls neun Soldaten, doch sie alle sterben bei Unfällen, beim Entschärfen einer Rakete oder bei einem Hubschrauberabsturz. Die neun Gefallenen von 2010 werden alle bis auf einen im Kampf getötet.

Auf den Tag genau neun Jahre bevor Oberfeldwebel Florian Pauli in der nordafghanischen Provinz Baghlan, südlich von Kundus, von einem Selbstmordattentäter in den Tod gesprengt wird, beginnt der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen die afghanischen Taliban. Der Tod des deutschen Sanitäters ist so tragisch wie bezeichnend: Florian Pauli wird von einem afghanischen Bauern angesprochen, der vorgibt, Hilfe zu brauchen. Pauli ruft seinen Übersetzer herbei, der sich in einer Wagenburg einige Meter entfernt befindet, wo Fallschirmjäger aus dem niedersächsischen Seedorf ein provisorisches Lager aus ihren gepanzerten Fahrzeugen gebildet haben. Als der Dolmetscher losgehen will, zündet der Bauer den Sprengsatz unter seiner Kleidung. Florian Pauli ist sofort tot.

Er stirbt, weil er tut, was sein Auftrag ist: Vertrauen bei der afghanischen Zivilbevölkerung schaffen. Deshalb lässt er den späteren Selbstmordattentäter herankommen und ruft den Dolmetscher.

Davon, dass deutsche Soldaten im Gefecht in Afghanistan sterben könnten, ist zu Beginn des Bundeswehreinsatzes nicht die Rede. Der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 22. Dezember 2001 folgend, sollen die deutschen Soldaten beim Wiederaufbau Afghanistans helfen sowie die Regierung und die Demokratisierung Afghanistans schützen. Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 beteiligt sich Deutschland an der sogenannten Afghanistan-Schutztruppe (ISAF: International Security Assistance Force) genauso wie an der Jagd auf islamistische Terroristen im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF). Schon am Tag nach den Anschlägen in New York versichert Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA die «uneingeschränkte Solidarität» Deutschlands. Wenig später entschließt sich auch die NATO, die Attacke auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington als Angriff auf sich selbst zu betrachten und den Bündnisfall auszurufen. Schnell ist klar, dass die USA gegen das Taliban-Regime in Afghanistan militärisch vorgehen würden, das Osama bin Laden und andere Drahtzieher des Anschlags aus den Reihen des Terrornetzwerks al-Qaida beherbergt hat.

Zunächst sind die deutschen Truppen nur in Kabul stationiert, Ende 2003 beschließt der Deutsche Bundestag, das Mandat auch auf die Provinz Kundus im Norden auszuweiten. 2004 kommt Faisabad als Standort hinzu, seit 2006 ist die Bundeswehr für den gesamten Norden Afghanistans (Regional Command North mit Sitz in Masar-i-Scharif) zuständig. Ein Jahr später schickt Deutschland sechs Tornado-Flugzeuge zur Luftaufklärung nach Afghanistan; dieser Einsatz wird 2010 ebenso beendet wie die Teilnahme Deutschlands an OEF. Dabei hat vor allem die deutsche Marine am Horn von Afrika patrouilliert, um den Nachschub an Waffen und anderen Gütern für al-Qaida zu unterbinden. Allerdings jagen weiterhin hundert deutsche Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) Taliban-Kämpfer in Afghanistan.

Dennoch braucht es eine Tragödie, um die geballte Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit auf Afghanistan zu richten: Am 4. September 2009 lässt der deutsche Oberst Georg Klein zwei gestohlene Tanklastwagen bombardieren. Dabei sterben bis zu 142 Menschen, unter ihnen viele Zivilisten. Nur langsam und bruchstückhaft wird die Öffentlichkeit über die wahren Vorgänge informiert. In der Folge verlieren Franz Josef Jung, zu diesem Zeitpunkt Arbeitsminister, Staatssekretär Peter Wichert und Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan ihre Ämter. Auch der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gerät unter Druck – wegen der Entlassung von Wichert und Schneiderhan und weil er den Einsatz zunächst als «militärisch angemessen» bezeichnet, um ihn nur einen Monat später als überzogen und falsch einzuschätzen.

Der Luftschlag gegen die Tanklastzüge ist aus deutscher Sicht wohl der Wendepunkt des Krieges, zumindest was seine Wahrnehmung betrifft. Unter dem deutschen Einsatz in Afghanistan haben Politiker, aber auch die Öffentlichkeit jahrelang verstanden, dass die Soldaten vor allem Schulen aufbauen und Brunnen graben. Von einem Krieg spricht niemand, obwohl es bereits anderthalb Jahre nach Beginn des Einsatzes zum ersten tödlichen Anschlag auf das deutsche Kontingent kommt: Am 7. Juni 2003 sterben vier Soldaten auf dem Weg zum Flughafen, als ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug ihren Bus rammt. Sie sind auf dem Weg nach Hause, nach Deutschland.

Dennoch gilt der Bundeswehreinsatz in den Jahren der rotgrünen Bundesregierung weiter als «Friedensmission», zur Zeit der Großen Koalition heißt er «Stabilisierungseinsatz». Noch 2009 benutzt der damalige Verteidigungsminister Jung diese Bezeichnung, als mit Sergej Motz am 29. April 2009 der erste Bundeswehrsoldat in Afghanistan überhaupt im Gefecht stirbt und immer mehr Bundeswehrsoldaten durch Anschläge fallen. Erst Minister zu Guttenberg ändert die Wortwahl, wenn auch zögerlich, Schritt für Schritt. Zunächst spricht er von «kriegsähnlichen Zuständen», dann betont er, er habe Verständnis für Soldaten, die sich im Krieg wähnten. Als Nächstes sagt er, bei der Realität in Afghanistan könne man «umgangssprachlich von Krieg» sprechen. Erst bei der Trauerfeier für Oberfeldwebel Florian Pauli verweist zu Guttenberg auf die «Bedingungen des Krieges», über die man offen und ehrlich reden müsse. Schließlich sagt Angela Merkel beim Truppenbesuch Ende Dezember 2010 in einer Rede vor Soldaten: «Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat.»

Diesen Kriegsbedingungen möchte zu Guttenberg offenbar auch förmlich Rechnung tragen, mit einer neugeschaffenen «Gefechtsmedaille» – der erste Orden der Bundeswehr seit dem Zweiten Weltkrieg, der explizit für Verdienste im Kampf verliehen wird. Erster Träger der Gefechtsmedaille ist posthum Sergej Motz, dessen Angehörigen der Orden Mitte November 2010 von zu Guttenberg übergeben wird.

Unser Krieg? Der Krieg und die Deutschen

Offiziell jedoch gilt für den Einsatz jedoch weiterhin die Bezeichnung «innerstaatlicher bewaffneter Konflikt», weil es einen Krieg im völkerrechtlichen Sinne nur zwischen zwei Staaten geben kann. Tatsächlich würden aber wohl die meisten Bundeswehrsoldaten in Afghanistan der Einschätzung zustimmen, sich im Krieg zu befinden. Das stellen auch die Bundeswehrärzte fest: Immer mehr Soldaten leiden an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), weil sie die Grausamkeiten des Krieges nicht verarbeiten können. Allein 2009 sind 466 Soldaten mit solchen Störungen behandelt worden, sagt der Sanitätsdienst der Bundeswehr. Das sind doppelt so viele Fälle wie noch 2008. Sibylle Beate Dunker, Psychologin aus Köln, hat für ihre Dissertation über «Prognose und Verlauf der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Soldaten der Bundeswehr» mit 650 von 3000 Soldaten des 14. deutschen Kontingents nach ihrer Heimkehr gesprochen. Sie geht davon aus, dass etwa sieben Prozent eines jeden Bundeswehrkontingents, das für mehrere Monate nach Afghanistan geschickt wird, danach an solchen Traumata leiden.

Angesichts der steigenden Opferzahl und der immer härter werdenden Kämpfe sinkt die Zustimmung der Bevölkerung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr immer mehr. Im März 2002 veröffentlicht das Forsa-Institut eine Umfrage, nach der 62 Prozent der Deutschen das deutsche Engagement am Hindukusch befürworten. Nur knapp ein Drittel ist dagegen. Im April 2010 haben sich die Zahlen mehr als umgekehrt: Infratest dimap ermittelt, dass 70 Prozent der Bürger die deutschen Truppen sofort aus Afghanistan abziehen würden. Nur 26 Prozent wollen den Einsatz fortsetzen.

Man kann durchaus die Frage stellen, ob die Führung der Bundeswehr mit ihrer Wagenburgmentalität daran eine gehörige Mitschuld trägt. Wer will, dass die Bevölkerung Verständnis hat für einen solchen Einsatz, muss sich um dieses Verständnis bemühen, muss den Einsatz erklären und mit den Menschen über Sinn und Unsinn des Einsatzes diskutieren – nicht zuletzt im Sinne der deutschen Soldaten am Hindukusch. Denn die wissen natürlich, wie unpopulär ihr Einsatz in Deutschland ist. Umso schwerer ist es für sie, damit umzugehen, dass sie täglich ihren Kopf für eine Mission hinhalten, die zwar nach wie vor eine Mehrheit des Bundestags für richtig hält, der Großteil der Bevölkerung mittlerweile aber ablehnt. Sie fühlen sich alleingelassen – von der Politik und den Bürgern. Gleichzeitig steigen die Belastungen durch die Intensivierung des Krieges, und die Einsätze für die Soldaten werden immer länger. «Ich beobachte seit einiger Zeit eine schleichende Verlängerung der Stehzeit im Einsatz von vier auf sechs oder sogar noch mehr Monate», sagt Hellmut Königshaus, der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der Süddeutschen Zeitung.

Der Dialog mit der deutschen Bevölkerung über die Zukunft dieses Einsatzes ist also nötiger denn je. Der erste Schritt dafür ist, überhaupt erst einmal das Interesse am Thema Afghanistan zu wecken, es den Menschen näherzubringen, sie zu involvieren und sie dazu anzuregen, sich eine Meinung zu bilden. Wie es einer Demokratie ansteht.

In diesem Buch finden sich Briefe von Soldaten, die von dem Sinn des Afghanistan-Einsatzes überzeugt sind, und Briefe von solchen, die daran zweifeln. Briefe von Soldaten, die noch immer bei der Bundeswehr sind, und Briefe von solchen, die ihren Dienst quittiert haben. Wir möchten mit diesem Buch keine bestimmte Position vertreten, wir wollen aber die Diskussion beleben und vor allem das Interesse wecken. An dem Einsatz und an den Menschen, die ihn in unser aller Namen ausführen. Ihnen möchten wir auch danken: den Soldaten, die dem Willen der Bundeswehr getrotzt und uns ihre Briefe überlassen haben. In 17 Fällen mussten wir ihren Namen ändern – um sie vor ihrem Arbeitgeber, der Bundeswehr, zu schützen.

 

München, im Januar 2011