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Mein ganzes Wissen über Menschen und Gewalt und wie man Menschen Gewalt richtig antut, ziehe ich aus Serien. Ich schaue oft fünf oder sechs Serien gleichzeitig. Man muss ständig präsent haben, wie welche aufgehört hat und was alles bis dahin passiert ist. Am liebsten sind mir die Serien, die ich nicht mit meinem Mann gucken muss. Da kann ich dann frei wählen, wann ich weitergucke, manchmal sechs, sieben Folgen an einem Abend. Was habe ich eigentlich vorher immer gemacht? Bevor es amerikanische Serien legal in Deutschland zu gucken gab? Keine Ahnung. Ganz schön langweiliges Leben vorher. Die Menschen in den Serien sind meine Wahlverwandten. Ich habe sie viel lieber als meine wirkliche Verwandtschaft. Meine Wahlverwandten bekommen von mir so viel Zeit und Aufmerksamkeit, da bleibt für echte Menschen nicht mehr viel übrig.

1. KAPITEL

Jetzt gehen die wieder an meinen Kühlschrank! Die sind wie eine Meute hungriger Wölfe. Oder sagt man Rudel? Egal. Alle haben sich in unserem Haus verteilt. Manche sitzen sogar auf unserem Bett und quatschen schön ein bisschen. Hoffentlich bleibt’s dabei. Ey, wehe! In der Küche findet so was wie eine Stehparty im Sitzen statt. Auf der Arbeitsfläche. Ein Rock sitzt fast im Käse.

Ich schaue mich um und sehe nur hässliche junge Menschen und die buckelige Verwandtschaft meines Mannes. Ist das schon ein Grund für eine Scheidung? Dass mein Mann seinem kleinen Bruder erlaubt hat, in unserem Haus seine Hochzeit zu feiern? Sein Bruder ist wirklich viel jünger als er, irgend so eine Art Unfall, oder wie nennt man das? Nachzügler? Nesthäkchen? Weil er im Vergleich zu meinem Mann so jung ist, ist es eher keine Bruderbeziehung, sondern eine Vater-Kind-Beziehung. Jörg stimmt oft irgendwelchen absurden Dingen zu, die der kleine Bruder, Arne, anfragt. Diesmal ist es, wie so oft, falsch rum gelaufen. Mein Mann hat mich gefragt, ob sein kleiner Bruder in unserem Haus seine Hochzeit feiern darf, ich habe Nein gesagt, da musste mein Mann mir gestehen, dass er aber leider die Üblichkeiten nicht eingehalten hat, seinem Bruder das schon erlaubt hatte, bevor er mich gefragt hat, und jetzt wegen mir und meiner Absage in der Zwickmühle sitzt.

So wie ich die Situation beurteile, sitzt er nicht in der Zwickmühle wegen meiner Absage, sondern wegen seinem voreiligen Erlauben. Aber egal. Es ist jetzt, wie es ist. Arne feiert seine meiner Meinung nach viel zu frühe Hochzeit jetzt gegen meinen Willen in unserem Haus. Hat das schon mal jemand gehört? Wie wär’s, er arbeitet erst hart, hat dann ein Haus und heiratet dann da drin? Oder wie wär’s mit Hotel oder Kneipe?

Wenn ich jetzt hier rumlaufe und eine Flappe ziehe, wie ich gerne würde, denken alle, ich bin eine frustrierte Hausfrau, also lächel ich, ich versuche, das Lächeln so natürlich wie möglich aussehen zu lassen.

Achtung, gleich kann ich es kontrollieren, an der Treppe im Flur unten hängt ein kleiner Spiegel, mit Möwen dran aus Blech, was auch immer das soll. Als wir das Haus eingerichtet haben, war ich voll mit Hormonen, Nestbautrieb, haben alle zu mir gesagt, ja ja, da war ich wohl etwas kitschig unterwegs, hat schlagartig aufgehört nach der Geburt meiner Tochter, das Kitschigsein.

Ich verlangsame meine Schritte, versuche das natürlichste Lächeln überhaupt, schaue nur den Bruchteil einer Sekunde in den Spiegel und finde das Lächeln gar nicht natürlich. Scheiße, klappt nicht, das Überspielen meiner wahren Gefühle. Mein Gesichtsausdruck sieht eher verzweifelt aus als locker, glücklich, frei.

Ich muss was tun, ich will nicht, dass diese ganzen fremden Arschlöcherfreunde von meinem Pupsischwager meine Gefühle sehen können. Ich gehe in die Küche und hole die Melonen aus dem Kühlschrank. Das war auch die Idee von meinem kleinen schwer verliebten Schwager Arne. Hat er wohl von Jamie Oliver. Den spricht er zu allem Überfluss auch noch immer französisch aus. Er hat schon vor ein paar Tagen mit einer großen Spritze und einer dicken Kanüle von der Apotheke mehrere Melonen mit Wodka präpariert. Man zieht die Spritze mit Wodka auf und spritzt mehrere Ladungen Wodka rein. Man muss sie regelmäßig umdrehen, weil sich sonst der ganze Wodka in die untere Kurve legt, durch die Erdanziehung. Offensichtlich ist in einer Wassermelone noch viel Platz für viel Wodka, weil er da so einiges reingeballert hat, er kam vor seiner Hochzeit die Tage mehrmals vorbei und hat immer noch ein Plätzchen darin gefunden. Der hat mit Sicherheit zwanzig, dreißig Shots Wodka reingepackt. Wenn die Gäste diese Melonen essen, geht’s hier ab.

Ich nehme mir ein Wasserglas, zwei Eiswürfel und mache das ganze Wasserglas voll mit purem Wodka. Alle sind in wichtige Gespräche vertieft, ich trinke einen großen Schluck und stelle das Glas oben auf den Küchenschrank.

Ich kann das Zeug kaum runterschlucken, finde, es schmeckt sehr chemisch, pur, aber ich zwinge mich, für die Wirkung. Muss hier körperlich anwesend sein, aber keiner kann mich zwingen, geistig anwesend zu sein. Ha!

Ich nehme mir in meiner eigenen Küche ein großes Hackbrett und unser Fleischhackebeil, hole eine Melone aus meinem Kühlschrank und schlage mit einer gezielten Bewegung und viel Schmackes drauf und treffe leider nicht wie geplant die Mitte der Melone. Bei dem Krach auf dem Hackbrett hören alle auf zu reden und gucken mich an. Ich schneide die schlecht geteilte Melone in Verzehrhappen und frage cool in die Runde: »Wodka-Melone gefällig?« Das Wort gefällig sagt man nur, wenn man sich sehr unwohl fühlt. Okay, Chrissi, ab geht’s mit der Kellnerinnenperformance.

Ich hole einen schönen großen, mexikanisch aussehenden Teller und stapel mit meinen ungewaschenen Händen die Melonenspalten auf den Teller, ich laufe rum, lächel alle an und biete die Spalten jedem einzelnen Gast an. Ich komme auch an meinem Mann vorbei, er guckt mich etwas ängstlich an. Zu Recht! Nimmt aber auch ein Stück Melone. Den meisten Leuten sage ich: »Vorsicht, da ist viel Wodka drin«, außer bei den beiden Hochschwangeren, die im Türrahmen stehen und alles verstopfen, ich halte es ihnen kommentarlos hin, sie nehmen jede ein Stück, ich lächel sie breit an und gehe mit meinem Tablett auf einer Handfläche balanciert weiter, aber ich lasse meine Ohren da. Sie reden an der Stelle weiter, an der ich sie unterbrochen habe. Und die eine sagt zur anderen: »Wir nehmen dann eine Babysitterin für die Zeit.«

Die nehmen eine Babysitterin. Das ist ja gut! Warum bin ich da noch nicht draufgekommen. Irgendwie denke ich immer, alles Gute ist nicht für mich, Arbeitserleichterung ist nicht für mich. Damit ist jetzt Schluss. Das ist es. Eine Babysitterin. Sehr gut!

Ich hatte mal einen Beruf, um den mich viele beneidet haben, aber ich habe den Druck nicht ausgehalten, und dann habe ich mir ausgedacht, dass es für mich besser sei, ein Kind zu bekommen, dann könnte ich aufhören zu arbeiten. Aber, ganz ehrlich, ein Kind haben ist viel anstrengender und mit viel mehr Druck verbunden als die Arbeit, die ich vorher hatte. Voll verplant! Das ganze Leben eigentlich.

Okay, sage ich zu mir selber, Chrissi, du bist sauer, dass hier in deinem Haus gegen deinen Willen gefeiert wird von Leuten, die du nicht leiden kannst. Aber du musst auch ehrlich sein, deine Periode steht an. Der Bauch ist aufgebläht, du fühlst dich zehn Kilo schwerer, gib’s zu, der Hauptgrund für deine Aggressivität ist nicht Jörgs Bruder, sondern deine Gebärmutter.

Melone ist alle. Für mich ist das eine gute Ablenkung. Ich gehe zum Kühlschrank und hole die nächste raus. Ich schaue mich wieder um, keiner achtet auf mich, ich stell mich auf meine Zehenspitzen und nehme mein Wasserglas vom Küchenschrank runter. Trinke einen großen Schluck und krieg’s wieder kaum runter. Ekelhaft schmeckt das, aber gute Wirkung, also Chrissi, piss dich nicht so an, runter damit!

Die meiste Zeit der Hochzeitsparty verbringe ich damit, den Gästen mit Alkohol vergiftete Melonenspalten zu servieren. Ich muss mich richtig konzentrieren, vernünftig zu sprechen und zu gehen. Das gönn ich hier keinem, zu merken, dass ich einen im Tee habe.

Ich stehe jetzt im Wohnzimmer und beobachte die Braut, die hat nun wirklich sehr danebengegriffen. Satinkorsagenkleid, bisschen wie Goths es machen würden, aber eben ohne ein Goth zu sein. Chucks dazu und Brille. Aber was für eine, die sind, glaube ich, gerade modern, eher klein und rechteckig mit knallkirschrotem Plastikrahmen. Also, schön ist das nicht. Kann die nicht wenigstens zu ihrer Hochzeit für die Fotos Kontaktlinsen anziehen? Ich glaub, das frag ich die gleich mal. Nein, das machst du nicht, Chrissi, du spinnst ja wohl, du weißt genau, ungefragt negative Dinge zum Äußeren zu sagen ist nicht gut, kommt nicht gut an, und wer ist dann die Hysterische? Du! Das ist die Periode in dir, die das machen will. Am Ende musst du dich wieder bei allen entschuldigen, bitte mach das nicht. Tu dir das selber nicht an. Oft genug schon passiert, so was, leider. Ich stehe mir selber viel im Weg rum.

Ich spüre meine Beine Richtung Terrassentür gehen, ich halte der Braut die Melone hin und frage: »Bisschen Melone für die glückliche kleine Brillenschlange?« Chrissi, du bist so eine Asikuh! Sie lächelt mich freundlich an, nimmt die Melone, riecht daran, sie weiß ja von ihrem Mann, dass er was vorhatte mit Melonen. Sie lächelt und beißt genüsslich hinein. Schlimm, diese jungen verliebten glücklichen Menschen, da könnt ich ausflippen! Sie merken nicht mal, wenn sie beleidigt werden. Haltet mich zurück, sonst wird meine Gebärmutter hier noch ausfallend. Ihh, das klingt ekelhaft, sogar im Kopf.

Ich habe auch ganz fatale Gedanken über meinen Mann, ich finde ihn schwach seiner Familie gegenüber. Wenn man eine Frau hat, muss man ihr gegenüber loyal sein und nicht mehr der übergriffigen Familie von früher. Wie heißt die Kackfamilie, aus der man kommt? Kernfamilie? Warum ist das bei uns nicht so wie bei den Tieren? Die meisten gehen doch einfach weg von den Eltern, wenn sie geschlechtsreif sind, also bei uns wäre das so mit vierzehn. Das fänd ich gut. Und dann, wie im Tierreich, sieht man auch seine Eltern nie wieder. Danke fürs Großziehen und tschüss, dann hat man die nicht an der Backe, bis die was?, achtundneunzig werden. Oh Gott. Dann müsste ich jetzt auch nicht klarkommen mit Jörgs Familie. Dann hätten wir nur unsere. Wär das schön, nur die eigene, selbst ausgesuchte!

Diese Hochzeit in unserem Haus gegen meinen Willen ist nur eine von vielen Entscheidungen, bei denen ich mir gewünscht hätte, dass mein Mann auf meiner Seite steht, er aber Verständnis dafür will, dass er seiner Familie immer alles zusagen muss. »Ach bitte, Schatz«, hat er gesagt, »kooomm, mein kleiner Bruder, was soll ich ihm denn sagen, warum er nicht in unserem Haus feiern kann«, und so weiter, wenn ich mich durchsetze, bin ich sonst wieder der Buhmann.

Nee, nee, das mach ich nicht mit. Ich geh jetzt ins Bett. Merkt doch eh keiner, ist ja nicht meine Hochzeit hier, ich kann machen, was ich will, im Gegensatz zum unter Beobachtung stehenden Brautpaar. Ich gehe ganz langsam und unauffällig unsere gelb-weiße Treppe hoch, halb abgeschliffen damals beim Einzug, niemals richtig fertig gemacht, wie so vieles hier drin. Irgendwann sieht man das nicht mehr, hab ich gedacht, ich seh es aber trotzdem noch. Hmmm.

Wie im Tierreich, damit die anderen Tiere mich nicht so wahrnehmen, schleiche ich mich in meinem eigenen Haus, Blick zum Boden, in mein Schlafzimmer, unser Schlafzimmer. Ich schließe die lichtdichten Rollos direkt am Fenster, darüber, weil die lichtdichten hässlich sind, die schönen Samtvorhänge. Dunkelblau, wie die Nacht. Schön. Dunkel ist fast so entspannend wie tot. Herrlich! Rein für die Optik, bisschen bescheuert, merk ich grad, wenn’s eh dunkel ist, na ja, die Fehler, die man so beim Einrichten macht.

Ich leg mich auf Jörgs Seite des Bettes, mache meinen Rücken ganz gerade und schwer auf dem Laken, wickel die Bettdecke um meine Füße, wickel den oberen Teil um meine Oberarme und stopf sie ein bisschen unter meinen Schulterblättern fest. Der Bezug der Decke und das Laken fühlen sich beim Reinschlüpfen noch kühl und hart an, aber die Körperwärme macht sie gleich weich und fließend. Ich denke so Sachen wie: Ich bin ganz klein, kann eh nichts ändern, loslassen, loslassen, Chrissi, denke an das Universum, wie klein du bist, es war schon immer da, du bist im Vergleich zum Universum bald tot. Das Universum ist eigentlich ganz schön gruselig in seiner Riesigkeit und Nichtverstehbarkeit und Unendlichkeit, es hat einfach zu viele -keits, um dahintersteigen zu können. Aber es gibt mir das Gefühl von Kleinheit. Und dann kann ich endlich schlafen. Zack, schon bin ich in diesem Zustand zwischen wach und schlafend. Wenn mich jetzt jemand stören würde, wäre ich wieder hellwach, wenn mich keiner stört, bin ich gleich weg. Keiner stört mich, also bin ich weg, ab ins Schlafland. So schön.

Ich werde von einem Gewackele an meinem Fuß geweckt. Ich bleibe erst mal still liegen, weil ich überhaupt nicht weiß, was los ist. Könnte ja ein Tier sein, eine Schlange, ein Hund, oh Gott, die Vorstellung, die beißen mir in den Fuß! Still bleiben, nicht zucken. Dann spricht es plötzlich im Zimmer. Das sind Leute, ich dreh durch, in meinem Schlafzimmer, da fällt mir wieder diese unsägliche Hochzeit meines Schwagers ein. Diese beiden Leute da am Fußende sind schwer verliebt oder auf jeden Fall schwer geile Partygäste. Wahrscheinlich hab ich die abgefüllt mit der Melone. Oh nee. Boah, wie lang hab ich geschlafen?

Ich bleib einfach ganz still liegen, die haben mich bis jetzt noch nicht bemerkt, vielleicht werde ich ja Zeuge sexueller Handlungen, das wär ja was! Mir kommt die Stimme von dem Mann bekannt vor, der redet ein bisschen Hamburger Slang. Denen hab ich wirklich Wodka-Melone angedreht, also, ganz ehrlich: Bin ich auch alles selber schuld, was hier gleich passiert. Sie scheinen ziemlich stramm zu sein, wälzen sich am Fußende ständig hin und her, sie kichert, er hamburgert was in ihr Ohr, das ich leider nicht verstehen kann. Die merken meine Beine nicht, die merken gar nichts mehr. Ich atme ganz ruhig, vielleicht machen die ja noch mehr.

Scheint eine gute Hochzeit zu sein für meinen kleinen bekloppten Schwager, wenn die Leute sich schon so weggeballert haben, auch wenn ich denen die Melone jetzt angeboten habe. Ich weiß aus Erzählungen, dass es immer gut ist, wenn man nach einer Hochzeit von Entgleisungen der Hochzeitsgäste berichten kann und alle damit zum Lachen bringt. Weil, wer will schon erzählen: Es war eine wunderschöne Hochzeit, das Brautpaar passt gut zusammen, das Essen war toll, und ALLE HABEN SICH GUT BENOMMEN UND GUT VERTRAGEN. Keiner will das erzählen! Jeder will erzählen: Weißt du noch, als Dingsi und Bumsi auf der Gastgeberin hackestramm gebumst haben oder Fredo irgendwo hingekotzt hat und Heinz und Hässlich-wie-die-Nacht sich voll geprügelt haben im Garten? Da freu ich mich doch, dazu beitragen zu dürfen, dass diese Geschichten über die Hochzeit meines Schwagers erzählt werden können.

Wann springe ich auf, damit die beiden einen Herzinfarkt bekommen? Ich warte noch, fühle mich wie Andreas Kieling beim vorsichtigen Filmen irgendwelcher Tierpaarungen.

Ach Mann, Chrissi, flirting with desaster, du könntest die auch jetzt einfach erschrecken und rausschmeißen. Machst du aber nicht. Neeeee. Wenn jemand, wie die beiden Saufis hier, so ins offene Messer rennt, dann muss man auch ein bisschen zustoßen, dass es richtig reingeht. Das habe ich mal gelesen in einem Jack-Reacher-Krimi, wie schwer es eigentlich ist, selbst mit einem scharfen Messer richtig reinzukommen in den Rumpf. Sagen wir mal, das Messer ist gekrümmt oder nur an einer Seite scharf, kriegt man es wirklich nur schwer rein, das heißt, wenn man es eilig hat und die Person sich wehren könnte oder weglaufen, muss man direkt beim ersten Mal richtig doll, so feste, wie man kann, zustoßen, vielleicht auch mit beiden Händen zusammen und richtig mit Armkraft.

Ich lege meinen Kopf langsam seitlich, um auf meine Digitaluhranzeige zu schauen. Es ist 15:51 Uhr. So was liebe ich ja. Oh Mann, da krieg ich direkt bessere Laune, nachdem diese Hooligans mich hier wie ein dreckiges Bettlaken behandeln. Aber meine Chance wird kommen. Ich spüre Haut an meinem Fuß. Iiiihhh. Da ist wohl was verrutscht bei den Notgeilen. Ganz vorsichtig bewege ich meinen Fuß in die Richtung, aus der die Haut kam. Ich fühle was Weiches, sehr Schwabbliges, oh Gott, manche Frauen haben aber auch Pech mit ihren Genen, das ist der Arsch oder Oberschenkel von der Frau, da wäre es doch gelacht, wenn ich nicht mit dem Dicken Onkel da irgendwo reinkäme. Die rollen hin und her und hecheln und stöhnen immer wilder, und ich bohre mit meinem dicken Zeh zwischen den Fettröllchen und Stofffalten durch, jetzt stecke ich irgendwo drin, aber ich bin mir nicht sicher, kann alles Mögliche sein. Ich ärgere mich sehr, dass ich meinen dicken Zeh nicht früher mehr auf Feinmotorik trainiert hab. Dann könnte ich jetzt besser fühlen, wo ich bin. Eine Ménage-à-trois, ich kann’s noch nicht mal im Kopf aussprechen, ohne dass die anderen beiden wissen, dass wir drei sind.

Ich gehe über zum ursprünglichen Plan A und erschrecke sie und treibe sie auseinander wie zwei sich paarende läufige Hunde. Das sagt man, glaub ich, nicht, weil läufig ja nur Hündinnen sein können, whatever. Ich gehe mit meinem Oberkörper nach oben, wie ein Vampir, der sich in seinem Sarg aufsetzt, nur ohne das Quietschen. Die beiden erschrecken sich total, sie fällt links fast aus’m Bett, und er springt rechts weg. Beide sind ganz blass, und keiner sagt was. Ganz still und erstarrt alles. Ich versuche, sie ganz neutral anzugucken, schlage die Bettdecke zur Seite und stehe auf. Und gehe einfach aus dem Zimmer, weil sie es nicht tun. Ich lasse die Tür weit offen stehen und gleite wie ein Gespenst die Treppe runter. Ich höre noch von ihr den leise gesprochenen Satz: »Was sollte das denn jetzt?« Tja. Weiß ich auch nicht genau. Aber jetzt mal ganz ehrlich: Wer hat sich denn hier auf wen gelegt? Die haben ja wohl angefangen!

Ich gucke mich um, immer noch ist das ganze Haus voll mit fremden Leuten. Ich habe nicht lang genug geschlafen, um den Alkohol im Körper abzubauen.

Ich gehe in die Küche, schaue mich noch einmal um, recke mich zu meinem Wasserglas hoch, alle sind in lustige Gespräche vertieft, ich sehe meinen Mann nicht, die Braut mit Brille stößt grad mit jemandem an, und ich stoße mit mir selber an. Ich führe langsam und genüsslich das Glas an die Lippen, ich nehme einen großen Schluck und direkt noch einen, dabei kommt mir fast die Kotze hoch, aber runter damit. Draußen auf der kleinen Terrasse, die von der Küche abgeht, schreit eine Frau kurz auf. Ich gehe automatisch hin, obwohl ich eigentlich denke, alles Schlechte, das euch passiert, ist gut. Sie hat sich wohl erschreckt über etwas, das von oben kam, jetzt liegt es da auf der Terrasse vor ihr. Es ist der Eichhörnchenkobel von dem Eichhörnchenpärchen, das den auf dem Fensterbrett des Kinderzimmers für seine Jungen gebaut hat. Er sieht einfach aus wie ein fein gebautes Vogelnest, nur dreimal so groß. Keiner fasst ihn an, alle sagen: »Iiihh, bah, was ist das, wo kam das her, aus dem Himmel? Vom Dach?« Ich halt es nicht aus. Ich nehm das kleine Kunstwerk in beide Hände und trage es schnell die Treppe hoch. Oh Mann, jetzt stört der Wodka sehr im Blut. Puh. In der ersten Etage bleibe ich stehen, ich kann in unser Schlafzimmer sehen, die beiden Notgeilen sind weg, gut so, und ich spähe in das dunkle Innere des Kobels. Haben die schon Junge da drin? Ich halte mein Ohr ganz nah an das Loch und warte. Was weiß ich denn, ob die Babys von denen fiepsen. Oder irgendwelche andere Geräusche machen. Da bewegt sich was Kleines an meinem Ohr. Ich gehe ganz langsam in die Knie, damit es nicht tief fällt, wenn es rauskullert. Ganz vorsichtig nehme ich das Gebilde vom Ohr weg und gucke es noch mal an, da hängt so ein kleiner nackter Fredo am Eingang vom Kobel. Halb behaart, halb nackt, die Augen, so weit ich das sehen kann, noch geschlossen und so dick und blau geschwollen, wie man es von Vogelbabys kennt. Ganz minikleine Öhrchen, an den Kopf angelegt, und aus den fast menschenähnlichen Händchen wachsen schon ganz ordentliche Krallen raus. Also, eins lebt schon mal. Ich halte den Kobel schräg, sodass das kleine Ding vom Ausgang wegpurzelt. Dann gehe ich noch eine Etage höher zum Zimmer meiner Tochter. Die sitzt in ihrem Bett, hellwach. Ich betrete das Zimmer und sehe meinen Mann, er steht neben DEM GEKIPPTEN FENSTER an der Wickelkommode und bereitet die Wicklung vor. Das Kind guckt mich komisch an, wegen dem Teil, das ich so vorsichtig an ihrem Bettchen vorbeitrage. Mein Mann bemerkt mich: »Hallo? Was hast du denn da?«

»Das ist das Nest von dem Eichhörnchenpaar, das du gerade durchs Kippen des Fensters zwei Stockwerke tief hast fallen lassen mit wer weiß wie vielen Babys drin«, sage ich. Ich lege es auf der Wickelablage ab, mache alles sehr schmutzig, öffne das Fenster, vor dem wir außen eine Sicherheitsstange angebracht haben, damit man nicht ganz so leicht rausfällt. Das hatte sich das Eichhörnchen zunutze gemacht und vor der Stange, also zwischen Stange und Fensterscheibe, sein Häuschen gebaut. Der Kobel sah mir schon die ganze Zeit so eng an die Scheibe gebaut aus, wenn man das Fester aufkippt, löst es sich und kommt ins Rutschen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich mindestens dreimal meinem Mann gesagt habe, dass er das Fenster nicht mehr öffnen darf, wegen den Eichhörnchen. Jetzt hat er’s vergessen und die Eichhörnchenbabys auf dem Gewissen. Ich bin sehr sauer.

Nachdem ich das Teil gut wieder zwischen Stange und Fenster gequetscht habe, verlasse ich das Zimmer. Schweigend. Er guckt mir bestimmt resigniert hinterher. Plötzlich fällt mir was ein, was ich in der Schule gelernt habe, aber ich weiß nicht, ob es auch auf Eichhörnchen zutrifft, auf jeden Fall trifft es auf Rehkitze zu. Dass, wenn der Mensch die anfasst, die nicht mehr angenommen werden von der Mutter. Oh nein, ich hätte Handschuhe anhaben sollen, als ich das Teil hochgetragen hab. Wahrscheinlich hat Jörg die eine Hälfte der Babys getötet, und ich hab jetzt durch meinen Körpergeruch dafür gesorgt, dass die andere Hälfte nicht mehr versorgt wird.

Scheiße. Schnell zum Wasserglas zurück.

Im Flur steht auch eine Uhr mit Digitalanzeige. 16:16 Uhr. Ich lächel in mich rein. Wie ich das liebe, dieses universelle Glück, genau dann draufgeguckt zu haben. Ich fühle mich auserwählt. Nur für was? Auf jeden Fall bin ich die Einzige hier, die weiß, wo der Wodka steht, und die Einzige, die einen Wodka-pur-Cocktail auf sich warten hat.

Ich schwebe in die Küche und recke mich wieder und nehme noch einen großen Schluck.

Wie eine Vergewaltigung ist das doch hier. Das eigene Haus ist ja ein bisschen wie der eigene Körper, und ich fühle mich hausmäßig vergewaltigt! Nicht von den beschissenen Gästen hier, sondern von meinem Mann, der sich nicht gegen seinen bescheuerten Bruder durchsetzen kann und lieber seine Frau vergewaltigt, als dem abzusagen. ACHTUNG. Jörg kommt grad mit Mila die Treppe runter und alle im Flur sagen »oh, wie süß« und alles. Sie meinen wahrscheinlich meine Tochter. Sie sieht sehr süß aus für andere. Da hat sie wohl Glück gehabt. Sie ist ganz schlank, im Gegensatz zu ihrer Mutter, sie hat unglaublich süße engelsgelockte weißblonde Haare und süße kleine, stechend blaue Augen, die hat sie von mir. Alle finden sie so süß, aber ich kenne sie auch anders. Wenn ich sie blond und blauäugig anschaue, sehe ich manchmal Gollum aus ihr rausgucken. Nur ganz kurz, aber es ist da. Sie kneift manchmal die Lippen so missmutig zusammen und reißt ein klein wenig die Augen auf, dann sehe ich es in ihr. Tut mir leid, kleine Mila, dass ich in dir das Gollum sehe. Ihdl.

An der Tür wird sich von einigen jetzt brav verabschiedet. Weil ich mich so freue, dass die Spacken gehen, laufe ich so übersprungshandlungsmäßig in den Flur und bin plötzlich mitten in dieser Verabschiedungsorgie. Alle fallen mir um den Hals, bedanken sich für die Gastfreundlichkeit, nee, ist klar, und gehen endlich durch die Tür nach draußen und bleiben draußen. Jaha, fickt euch, tschüühüüsss.

Ach, ist das schön, meine Laune bessert sich merklich. Schön. Dann setzt so eine Art Dominoeffekt ein, weil ein paar Leute gehen, trauen sich auch andere, diese Feiglinge! Ich sage artig Tschüss, und: schön, dich kennengelernt zu haben, obwohl ich sie gar nicht kennengelernt habe. Ich schwöre, bestimmt die Hälfte der Leute ist schon weg. Yeah. Wie lange es wohl dauert, bis ich mich wieder zu Hause fühle in meinem eigenen Zuhause?

Jörg steht weiter hinten im Flur, kurz vor der Küche, mit Mila auf der Hüfte, ich glaub, ich verschlaf die restlichen Abgänge der Gäste. Ich vertrag halt auch nichts mehr, deswegen bin ich so platt. Ich gehe in meiner Schmittchenschleichermanier die Treppe rauf und höre beim leisen Hochgehen Jörg sagen: »Ja, klar, wir suchen auch grad einen Babysitter, ist doch besser so.« Ach, suchen wir schon? Sehr gut. Na dann. Gute Nacht.

2. KAPITEL

Die Augen sind noch zu, aber der Geist wacht langsam auf. So stell ich mir das Gefühl im Körper vor, wenn man am Tag zuvor viele neue Sportübungen mit Muskelgruppen veranstaltet hat, die man sonst nicht bewegt. Es ist aber leider kein Muskelkater. Jetzt fällt mir alles wieder ein. Oh Gott. Wie viel Uhr? Ich dreh mich erst nach links, Jörg liegt nicht an seinem Platz. Ich dreh mich nach rechts: digitale 09:11-Uhr. Scheiße. Zwei Minuten zu spät geguckt. Knapp! Na ja, wenn man schläft, kann man ja wohl nichts dafür. Es ist schon hell. Schlechtes Gewissen. Komm, Chrissi, tu mal so, als würdest du was hinkriegen. Ich prügel mich aus dem Bett. Oberkörper hoch. Das erinnert mich an das Sexpärchen von gestern. Bah, ey, in unserm Bett.

Ich hab noch die Klamotten von gestern an. Die ziehe ich mir aus und stopfe sie komplett in den Rattanwäschekorb. Im Treppenhaus ruf ich: »Jörg? Bist du da?« Keine Antwort. Ab ins Bad. Gucken, wie schlimm die Verwüstung im Gesicht ist.

Ich stehe vor dem Spiegel in unserem schönen, hotelmäßig stylischen Spa-grauen Schieferplatten-Naturstein-Badezimmer und finde: ICH HABE TROCKENE HAUT! Vor allem an den Augenlidern. Ich öffne unseren shabbychic Apothekerschrank, den ich extra mal an einem guten Tag an den Ecken abgefräst habe, damit er aussieht wie hundert Jahre alt. Da steht ein kleines schönes Plastikfläschchen, geformt wie ein Tränentropfen. Das habe ich mal in einem unserer Urlaube in New York in Chinatown gekauft. War ganz preiswert. Aber der nette Mann in der chinesischen Apotheke pries es an wie das Goldene Kalb. Da fall ich doch gerne drauf rein, auf so was. Und jetzt, genau jetzt, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dieses Zaubermittel an mir selber ausprobiere. Ich träufle mir also zwei Tropfen auf die Zeigefingerspitzen und reibe das neonrot leuchtende Öl die oberen Wimpernkränze entlang. Fast gleichzeitig tropft die zähe Flüssigkeit an beiden Augen zwischen den Wimpern hindurch und läuft brennend ins Auge. Was hab ich getan? Der Schmerz wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Okay, das halt ich nicht lange aus. Sicher nicht. Ich schließe die Badezimmertür auf und schreie den Namen meines Mannes. Ich setze mich im Schneidersitz auf unseren hellgrauen, dicken, mit Knubbeln gearbeiteten Badezimmervorleger. Und schreie viermal so laut ich kann, und ich kann sehr laut: »Jö-hö-rg!!«

»Ja-ha.«

Er rennt von oben, von seinem kleinen sinnlosen Computerkabuff, was eher ein Kleiderschrank ist, die gelb-weiße Holztreppe runter und stürmt ins Badezimmer. Weiß der Geier, was er denkt, was mir wieder passiert ist. Mir passiert viel im Haushalt. Ich stehe mit ihm auf Kriegsfuß, mit dem Haushalt, aber auch mit meinem Mann. »Was ist?«, hechelt er völlig außer Atem, als er reinkommt.

»Habe mir dieses Zeug in die Augen geschmiert, und das brennt jetzt wie die Hölle.«

»Warum hast du das gemacht?«

»Hab’s ja nicht extra gemacht. Ist doch jetzt egal, was soll ich machen?«

»Ähm, ähm, steht doch immer auf jeder Verpackung: mit viel Wasser ausspülen.«

Ja, gut, das ist gut.

Er dreht das kalte Wasser auf, stellt sich hinter mich und hebt mich unter den Achseln hoch.

Er sagt: »Ich halte dir die Augen auf, und du schaufelst dir das Wasser da rein.«

Ich hänge meinen ganzen Oberkörper übers Waschbecken, er stellt sich hinter mich, sein kleiner Penis samt Hodensack drückt sich durch die Anzughose gegen meine rechte Pobacke, ich rutsche etwas nach rechts, damit der sich in der Mitte ablegen kann, passt dann besser, das Puzzle.

Er tastet sich von hinten ganz vorsichtig mit seinen kurzen, dicken Fingern durch mein Gesicht zu den Augenlidern und spannt beide Augen gleichzeitig mit beiden Händen auf. Wie bei Uhrwerk Orange, die Folterszene mit der Augenspange, wo der eine Typ gezwungen wird, sich Sachen anzugucken, die er nicht gucken will, irgendeine Therapie war das im Film, aber eine harte. Weiß aber nicht mehr, was er sich angucken musste. Vergewaltigungen vielleicht? Er hatte doch vorher die Frau, die Mutter in der Familie, bei der seine Truppe eingebrochen war, vergewaltigt. Sollte diese Augenspangenaktion ihm die Vergewaltigung austreiben? Scheiße, ich weiß es nicht mehr.

Das Wasser macht es auf jeden Fall kein bisschen besser. Kann es noch schlimmer werden? Scheiß New York, scheiß Chinatown. Scheiß chinesischer Apotheker. Scheiß TCM.

»Okay, hilft nichts, wird immer schlechter eher. Ich will zu einem Augenarzt, das fühlt sich an, als würde es meine Augen verätzen.«

»Gut, bleib hier, ich hol den Autoschlüssel.«

»Oh nein, dein Bruder hat doch den Wagen ausgeliehen, um seinen Scheiß zu transportieren!«

»Ähm, ich ruf ein Taxi.«

»Taxi 19 aber bitte.«

»Ja ja, im größten Schmerz immer noch die richtige Firma unterstützen wollen. Meine Frau. Tststs.«

Sag ich ja, unsere Ehe ist am Arsch. Ich habe sie durch meine unzähligen PMS-Schübe ruiniert!

Zurück zum Taxi. Ich bin mal von einem Taxifahrer hier in unserer Stadt richtig lang am Arsch gestreichelt worden, gegen meinen Willen. Musste eine einigermaßen kurze Strecke fahren und sage ihm, er soll bitte bei Betrag X, den ich mithatte, anhalten und dann steig ich aus und geh den Rest zu Fuß. Er lächelt, nickt und sagt ganz jovial: »Ja ja. Schon gut.«

Wir erreichen auf dem Taxameter Betrag X, und er sagt, ich soll bitte den Po anheben, damit der Kontakt in meinem Sitz denkt, dass ich ausgestiegen bin. Er sagt: »Schön oben lassen, ja? Schaffst du das?« – Du? Okay, wir duzen uns schon nach einer Taxifahrt. Und um mich bei meiner schwierigen sportlichen Herausforderung zu unterstützen, hält er die ganze restliche Fahrt seine rechte Hand unter meinen Po und tätschelt ihn mit einer streichelnden Bewegung, bei der er ganz langsam mit seinen Fingerspitzen meine Poritze entlangfährt. Und was mache ich?? Nichts! Ich bin so geschockt von so viel Ekelhaftigkeit und Dreistigkeit, dass ich einfach nichts sage. Habe dann natürlich noch Beschwerde eingereicht, mit Taxinummer, ich war so geistesgegenwärtig, mir eine Quittung geben zu lassen, und der Honk so dumm, sie auch rauszurücken. Also konnte die Zentrale mithilfe der Taxinummer auf der Quittung im Prinzip ganz einfach rausfinden, welcher Fahrer das war. Als ich ein paar Tage später wissen wollte, was die Beschwerde bewirkt hatte, war mein Schreiben verschwunden. Das ist zweimal hintereinander passiert. So macht man Opfer mürbe, mich auch leider. Die haben mich durch totales Ignorieren und Verarschen dazu gebracht, dass ich einfach nichts mehr unternommen habe und der Typ weiter die Ärsche seiner Fahrgästinnen gegen ihren Willen streichelt.

Und deswegen unterstütze ich jetzt ein neues Konkurrenzunternehmen in unserer Stadt, das der bis dahin Monopoltaxifirma den Kampf angesagt hat. Taxis sollten vor allem für Frauen ein Zufluchtsort sein in der gefährlichen Nacht und nicht ein Ort, an dem man den nächsten Übergriff erlebt!

Wie lange Jörg braucht, um mich zu holen.

»Weißt du die Nummer? Hundertneunzigtausend geht die!«

»Gott, ja, natürlich, Mann.«

Hihi, wenn ich ihn nerve, nennt er mich immer Mann. Aber guck mal, weil ich was an den Augen habe, regt er sich auf, also, guck, er empfindet doch noch was für mich, trotz diesem beschissenen Alltag mit Kind, der jede Liebe zerstört.

Jetzt steht er im Türrahmen und guckt mich ganz besorgt an, das find ich schön. Deswegen hab ich auch gerne mal was, das bringt uns zusammen, irgendwie. Dann kann er sich kümmern.

Meine Augen brennen und tränen, das Wasser läuft nur so über die Wangen, offensichtlich versuchen die Augen, sich mit selbst produzierten Niagarafällen zu reinigen, so, wie wir versuchen zusammenzubleiben, klappt beides nicht gut.

Ich lächel ihn an. Mit meinen roten Klüsen. Ist schade irgendwie, wie alles schiefläuft in der Liebe. Wie wir uns voneinander entfernt haben. Doof. Ich wollte doch auch eigentlich noch sauer sein wegen der fremden Hochzeit im eigenen Haus. Geht jetzt aber irgendwie wegen den Augen und seiner Fürsorglichkeit gar nicht. Verschieb’s, Chrissi!

»Komm, ich helf dir hoch, du Rotaugenapache.«

Er packt mich ein bisschen zu feste an, um mich hochzuziehen, und stützt mich wie so eine alte Oma auf dem Weg die Treppe runter.

Der Taxifahrer klingelt.

Mit geschlossenen Augen werde ich zum Auto geführt, im Auto schweigen wir uns an. Der Fahrer parkt illegal direkt vor der Tür des Augenarztes und lässt uns raus. Jörg bezahlt, ich bin ja blind. Und sagt ihm, er soll bitte warten, bis wir wiederkommen. Müsste er dann nicht die Uhr weiterlaufen lassen? Jörg ist so ein Geizkragen! Die Sprechstundenhilfe träufelt mir schon Schmerztropfen in die Augen, gleich als wir reinkommen, ich setze mich auf den ersten Stuhl, den ich ertasten kann, und soll dort sitzen bleiben und die Augen zuhalten. Ich habe großes Misstrauen Menschen gegenüber, deshalb ist es für mich sehr unangenehm, in einem Wartezimmer zu sitzen, das ich nicht kenne, den Geräuschen nach gefüllt mit vielen Menschen, die ich nicht sehen kann. Aber vielleicht die mich ja auch nicht?! Jörg klärt mit der Sprechstundenhilfe lauter Dinge, ich glaub, er füllt grad dieses Blatt aus, das man beim Erstbesuch ausfüllen muss über Name, Adresse, Krankenkasse, Aids und so.

Plötzlich sind die Schmerzen weg, und ich mache die Augen wieder auf und kann zum Glück wenigstens verschwommen sehen. Sehr gut, so Schmerztropfen, als wär nie was gewesen. Brennt nur noch ein wenig. Ich darf vor den ganzen Leuten, die warten, zur Ärztin durch. Sie guckt sich eine Sekunde lang jedes Auge an, muss ja noch nicht mal was fragen, weil ihr das alles schon vorher erzählt wurde. Sie sagt mir nur, weiter diese Tropfen nehmen und abwarten, was anderes kann man mit verätzten Augen leider nicht machen. Und wir dürfen wieder gehen. Dafür hat die jetzt Medizin studiert?

Im Auto, auf dem Rückweg, bin ich von dem Schreck völlig k. o. und lehne mich halb dösend an Jörgs Schulter an, wie ich es früher gemacht habe, als wir frisch zusammen waren. Da ist man ja immer so unglaublich glücklich, dass es den anderen gibt. Die ganze Fahrt wird geschwiegen, als könnte man nicht sprechen, wenn man was an den Glotzerchen hat. Jörg genießt sichtlich, der Held zu sein. Selten genug so eine Situation, leider.

Als wir wieder zu Hause reinkommen, hören wir Mila schreien. Oh, vergessen. Ich gucke mit meinen wässrigen Augen völlig entsetzt Jörg an. Okay, ich habe sie auch vergessen, aber ich hatte ja Schmerzen, ich habe eine gute Ausrede. Und er? Oh Gott, jetzt vergisst er auch schon unser Kind. Beide sagen nichts dazu, die Blicke sagen alles. Ich Vorwurf, er Verzweiflung.

Im Wohnzimmer legt er mich aufs Sofa, läuft hoch und holt Mila aus ihrem Bettchen und setzt sie zu mir auf die Brust, sie kuschelt sich bei mir ein und wird ganz ruhig. Er baut uns ein richtiges Bettenlager im Wohnzimmer auf, mit Tablett und Getränken drauf und Süßem und allen Kissen und Decken, die er im Haus finden kann. Das ist so schön von ihm. Ich fühle mich geborgen, wie bei meiner Mutter damals, wenn ich krank war. Er bringt den Laptop ans Bettenlager, ich bedanke mich, gehe aus Gewohnheit oder Sucht automatisch auf Spiegel online. Aber ganz ehrlich, denke ich sofort: Wen interessiert’s? Ich habe gerade fast mein Augenlicht verloren, ja ja, aber ich übertreib schon wieder, beruhige mich langsam und überlege, was ich Schönes machen kann am Laptop. Was könnte ich mir denn kaufen, damit ich Glückshormone ausschütte?

Ich wollte schon immer mal eine Rolex haben, und weil ich ja bald weg vom Fenster bin, kaufe ich mir jetzt einfach eine schöne Damen-Rolex bei eBay. Chrissi, du alter Haudegen. Gute Idee! Dieses Weg-vom-Fenster muss ich noch mal genau durchdenken, aber nicht jetzt, bin müde und will was Gutes für mich machen. Das habe ich mein Leben lang nicht gemacht, und jetzt auf den letzten Metern habe ich verdammt noch mal vor, nett zu mir zu sein. Meine Finger kringeln an Milas kleinen perfekten Löckchen im Nacken. Welches Tier hat noch mal so Locken? Am Po, glaub ich? Enten? Erpel? Ich glaube, ja, ich muss lächeln, und Mila lächelt mit.

»Ich liebe dich«, flüstere ich ihr zu. »Tut mir leid.«

Lenk dich ab, Chrissi. Ich gucke mal, was es so gibt. Gebe den Suchbegriff »Rolex Oyster« bei eBay ein. Ich kenne mich gar nicht aus, habe aber mal was von Oyster gehört, die sieht aus wie aus Perlmutt, und das finde ich schön. Hätte ich früher nicht zugegeben. Aber jetzt wird mein Herz weich, wegen der besonderen Umstände. Es gibt hier eine mit helllila Schimmer. So was Kitschiges würde ich mir normalerweise nicht erlauben, aber jetzt ist alles anders. Ich werde ganz anders. Alles ist erlaubt, die letzten Tage. Schön, dass nur ich das weiß, dann kann ich es auch genießen, wenn die andern das wüssten, würden sie es mir sicher versauen, mich traurig angucken und schrecklich anstrengende Gespräche führen. 2400 Euro. Oopsi! Ich kaufe mir die erste teure Uhr meines Lebens, sonst immer nur so beschissene kleine Flohmarkt-Damenührchen, ich esse auch aus dem gleichen Grund jetzt schon jeden Tag das teure Angussteak vom REWE