Dagmar Chidolue
Das mit mir und Romeo
FISCHER E-Books
Covergestaltung: Geviert, Conny Hepting, München
Coverabbildung: Plainpicture/Jutta Klee
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401751-8
Das Haus liegt in einem großen Garten mitten zwischen hohen Bäumen. Pappeln und eine riesige Linde. An diesem Tag sah das Grundstück trostlos aus, weil die Bäume kahl waren und der Winter sich von seiner schlechtesten Seite zeigte, grau, nass und ein bisschen nebelig.
Eine Seite des Hauses ist vollständig mit Efeu bewachsen, der sich aber allmählich wie mit Krakenarmen um die Ecken rankt. In hundert Jahren oder so wird das ganze, rot geklinkerte Haus mit seinen geschwungenen Giebeln wohl vollständig überwachsen sein.
Nach hinten raus befindet sich der Wintergarten mit einer zerbrechlich aussehenden, schnörkeligen Gartenliege und unzähligen Kakteen und Blattpflanzen und einem dornigen Gestrüpp, ein gewaltiger Christusdorn.
Seitlich am Haus angebaut gibt es eine große Garage mit einer dunklen, kackbraunen Doppeltür. Eine mit Verbundsteinen gepflasterte Auffahrt führt von der Straße zur Garage. Am Gehsteig wird die Einfahrt von zwei ebenfalls aus Klinkern gemauerten Pfeilern links und rechts begrenzt.
Ich nehme es vorweg: Den Wagen, der dort untergestellt war, könnte man als Geschoss bezeichnen, so ein ellenlanges Monstrum, hellbeige, eine Kiste wie aus dem Mittelalter, ich meine, wie aus einem Film, wo die Jungs selbst beim Angeln Schlips und Kragen tragen und wie alte Männer aussehen und die Mädchen auch schon in den Vierzigern zu sein scheinen, mit ihrer komischen Wellenfrisur.
Die Kiste wurde hin und wieder auch bewegt.
Der Großvater – groß, hager, etwas gebückt und dünnes Haar – stand an der Haustür, als wir ankamen. Wir … das ist Mama, meine jüngere Schwester Hannah und ich. Ich bin Julia.
An den Füßen trug er braunkarierte Hausschuhe, und deswegen kam er uns wohl nicht entgegen. Nein, stimmt nicht, auch mit Straßenschuhen wäre er uns nicht entgegengegangen.
Mama war sozusagen über ihren Schatten gesprungen, als sie entschied, zu ihrem Vater zurückzukehren. Sie hatte Hannah und mir erzählt, dass wir jetzt von ihm abhängig waren und dass wir froh sein sollten, bei ihm wohnen zu dürfen, weil wir sonst finanziell nicht über die Runden kommen würden.
Diese erste Begegnung mit unserem neuen Leben brannte sich mir in Kopf und Herz ein wie ein Film, der in Zeitlupe gedreht ist.
Wir stiegen die sieben Stufen der Eingangstreppe hoch und gaben dem Großvater die Hand. In Gedanken nannte ich ihn ER, groß geschrieben. Ich wusste, ich würde nie Opa zu ihm sagen können, und jetzt weiß ich auch, dass er das nicht gewünscht hätte. Damals noch nicht.
Wir standen auf der Eingangstreppe einige Stufen unter ihm. Er schien auf was wie einen Knicks zu warten, weil er so eine Bewegung mit dem Kopf andeutete.
»Ach«, sagte er mit einer komischen, knatteralten, brüchigen Stimme. »Ist es heute wohl nicht mehr üblich, höflich zu sein?«
Mama, die an diesem Tag besonders jung aussah, versuchte ein schiefes Lächeln, aber es war mir von Anfang an klar, dass er in diesem Haus das Sagen hatte. Mir wurde sofort ganz kalt.
Wir sollten das Erdgeschoss bewohnen. Es war keine abgeschlossene Wohnung, die einzelnen Zimmer konnte man vom Flur oder oben, wo er sich aufhielt, vom Treppenhaus aus erreichen. Und der Wintergarten gehörte zu oben, also dem Großvater.
Die Räume, die ein wenig düster auf mich wirkten, hatten lange leer gestanden, weil ER angeblich die Situation vorausgeahnt hatte. Er schien immer alles zu wissen.
Vor seiner Pensionierung war er Schuldirektor gewesen. Von Kopf bis Fuß Lehrer. Sogenannte Alte Schule. Staubtrocken.
Oha, dachte ich.
ER kam mir vor wie ein Dinosaurier, siebzig, achtzig, neunzig, hundertdreißig Jahre alt.
Mama hatte schnell alle Formalitäten für den Eintritt in die zuständige Schule erledigt, und am Montag nach unserem Umzug sollten wir dort hingehen und ich also in meine neue Klasse kommen.
Die Schule war nicht weit entfernt. Wir wohnten hier in der Innenstadt, und die Stadt war auch nicht so ein Nest wie der Ort, in dem wir vorher gewohnt hatten. Ein paar zigtausend Einwohner.
Ich versuchte, meine Angst vor mir selber zu verbergen. Ich dachte, es ist, wie es ist.
»Ich möchte lieber wieder nach Hause zurück«, sagte Hannah noch einen Tag, bevor es losging.
Sie sprach ihre Furcht vor neuen Mitschülern offen aus, aber es war kindisch. Sie wollte nicht wahrhaben, dass unser Zuhause nunmehr dieses Haus war, dieses Haus, diese Stadt und diese neue Schule. Das war so ein Moment, in dem ich merkte, dass meine Schwester doch viel jünger ist als ich.
»Du musst da durch«, wollte Mama sie trösten.
»Ich will da nicht durch.«
Wir mussten aber beide da durch.
Mama hatte uns zum Trost für den neuen Anfang noch am Samstag kurz vor Ladenschluss T-Shirts gekauft. Wohl die erstbesten, die ihr unter die Finger geraten waren. Für Hannah ein Shirt in Rosa mit Schmetterlingen drauf und der Aufschrift Pink Lady. Auf der Schulter war die Naht ein wenig aufgetrennt, und Mama musste sich gleich hinsetzen und sie zunähen.
Für mich hatte sie ein ziemlich ödes, blaues T-Shirt mit silberfarbenem Aufdruck erstanden. Ein Schnäppchen. Der Text hatte einen Fehler, auf den mein Großvater missbilligend hinwies, als er mir im düsteren Treppenhaus einen Gruß entgegenknurrte.
»Es heißt en und nicht on«, sagte er.
»Was … bitte?«, fragte Mama.
»La vie en rose«, zitierte er. »Französisch. En und nicht on, meine liebe Tochter.«
Mama zuckte mit den Schultern, und ich konnte zuerst gar nicht nachvollziehen, was er meinte. En und on hörte sich gleich an, besonders bei seiner schnarrenden Aussprache.
»Wahrscheinlich ist es Glückssache, Fremdsprachen richtig anzuwenden«, meinte er sarkastisch.
»Ich habe andere Sorgen«, antwortete Mama. »Außerdem habe ich das Hemd nicht bedruckt.«
»Aber lesen solltest du können.« Er musste immer das letzte Wort behalten.
Ich hatte auch andere Sorgen. Wie es sein würde, wenn ich in die neue Klasse käme. Immer und immer wieder stellte ich mir das vor.
Aber ich hatte wohl nicht genug Phantasie für alles, was danach kam.
Und ich dachte auch zurück an die Jahre hinter uns.
Wir wohnten damals noch in dem Nest, das eigentlich aus fünf Ortsteilen bestand. Deshalb war es nicht so einfach, sich gegenseitig zu besuchen, außer man hatte eine Mutter, die Chauffeuse spielte. Mama war dazu nicht in der Lage, das heißt, wir hatten normalerweise gar kein Auto, weil unser Vater damit herumkurvte, und der war so gut wie nie da. Ich sage ausdrücklich herumkurven, obwohl es sich verächtlich anhört, und genauso meine ich das auch.
Zu Weihnachten … das war Weihnachten vor unserem Umzug … zu Weihnachten hatte Mama uns beiden, Hannah und mir, Handys geschenkt.
»Das würde mich beruhigen«, hatte sie gesagt. »Falls mal irgendetwas ist.«
Sie erwartete, dass meine Schwester und ich keinen Blödsinn damit machen würden. Deshalb hatte sie die Handys jeweils mit Prepaid-Karten bestücken lassen und mehr als fünfzehn Euro pro Monat durften wir somit nicht verbrauchen. Bis jetzt hatte es bei mir gelangt, aber es war auch erst Mitte Januar. Hannah, die an die anderthalb Jahre jünger ist als ich, hatte ihren Monatsetat schon gegen Ende Dezember ausgeschöpft. Sie rief nachmittags oft ihre Freundinnen an.
Mama konnte sich auch nicht dazu entscheiden, den Festnetzanschluss auf Flatrate umstellen zu lassen.
»Wir könnten dann aber umsonst telefonieren«, schlug ich vor.
»Nichts auf der Welt ist umsonst, Julia«, hatte sie geantwortet.
Hach.
Sie hatte hinzugefügt: »Außer den Erfahrungen, die man macht.« Sie konnte in jenen Tagen manchmal sehr sarkastisch sein.
Wenn wir, Hannah und ich, von irgendwoher endlich nach Hause kamen, konnte ich sehen, dass Mama richtig erleichtert war. Wir waren ihr Ein und Alles, okay, okay. Sie erwartete, dass wir pünktlich von der Schule oder nachmittags vom Sportverein nach Hause kamen. Sportverein?
Hannah Leichtathletik und ich Badminton. Badminton machte ich nur, weil Liv auch im Badminton-Club war. Und weil sich die Sporthalle in unserem Ortsteil befand, dem Neubaugebiet. Wir wohnten auch in einem ziemlich neuen Wohnblock mit lauter Eigentumswohnungen, uns gehörte die Wohnung sogar, obwohl … eigentlich gehörte sie der Bank.
Außer Schule und einmal in der Woche Sport nachmittags, machten wir nichts groß. Und Mama schien jedes Mal aufzuatmen, wenn wir endlich zu Hause waren. Vielleicht lag es daran, dass unser Vater so gut wie nie da war. Und wenn, dann gab es sowieso nur Streit. Trotzdem wartete Mama darauf, dass er irgendwann wieder einmal auftauchte, weil es Dinge gab, die zu entscheiden waren, und dann hoffte sie wohl darauf, dass er wieder verschwand. Dazu später noch einiges.
Mama schien auf eine Katastrophe zu warten. Oder auf ein Drama. Wenn Hannah oder ich von einer Grippe erwischt wurden, war Mama auch erleichtert. Als ob das schon die ersehnte Katastrophe war, mit der sie aber umgehen konnte. Ihr Gesicht trug trotz der Katastrophenstimmung keine Anzeichen der Anspannung, keine tiefen Falten. Mama hatte sich im Griff, und sie wirkte noch ziemlich jung, sehr akkurat mit ihren halblangen, braunen Haaren. War ja auch noch nicht mal Ende dreißig.
An diesem Montag im Januar, von dem ich zuerst berichten will, haben dann schließlich Veränderungen angefangen, mit denen Mama fertig werden musste und vor allen Dingen wir, Hannah und ich. Wir ahnten nicht, dass es eine Zeitlang für uns heftig werden würde. Im Nachhinein sieht es jedoch aus, als musste es so kommen und wäre richtig und gut gewesen, na ja, auch wegen Romeo und so.
Irgendwann war das Drama da. Eigentlich war es schon das Ende davon. Soweit wir das mitbekommen hatten.
Unsere Eltern ließen sich scheiden.
Hannah und mir machte das nichts aus, das ist die Wahrheit. Für uns war Vater schon immer nie richtig vorhanden gewesen. Wenn er mal zu Hause – fast nur stundenweise – vorbeigeschaut hatte, dann war es Mama nicht gut gegangen. Verheulte Augen, rote Nase. Hannah und ich waren dann in unserem Zimmer geblieben. Wir hockten auf unseren Betten und taten irgendwie beschäftigt, lesen oder so, wir horchten aber hinüber. Da ging es so richtig ab. Streit, Streit, Streit.
Was bekamen wir davon konkret mit?
Nicht viel.
Dass unser Vater ein Hallodri war, wie Mama ihm das mal in einer ihrer Auseinandersetzungen vorgeworfen hatte?
Dass er sich finanziell immer übernommen hatte und sich einen Dreck um die Familie kümmerte?
Dass er Geld aus dem Fenster rauswarf?
Dass er sich umorientiert hatte, was immer das hieß? Mama traute sich lange nicht, das Wort Geliebte auszusprechen.
Hannah und ich schauten uns, wenn wir den Streit mitbekamen, höchstens von der Seite an. Es kam vor, dass wir verschämt grinsen mussten. Manchmal standen Tränen in Hannahs Augen. Das konnte ich gar nicht gut haben. Ich wandte mich dann ab und musste auch fast heulen. Ich wollte das gar nicht.
Dann, als das mit der Scheidung anstand und Mama entschlossen war, die Sache durchzuziehen, war sie gefasst. So schnell wie möglich wollte sie das alles hinter sich bringen. Von ihm, unserem Vater, war sowieso nichts zu holen. So wie ich das verstand, hatte er noch nicht mal für die Zukunft gesorgt. Für das Alter. Es gab groß nichts, was aufzuteilen gewesen wäre. Selbst wir Kinder nicht. Er soll gesagt haben, dass wir in Zukunft nur noch Mama gehören würden.
Schöner Vater.
Irgendwie tat es mir trotz allem weh.
Wir saßen noch in der Wohnung, die verkauft werden sollte. Es war nicht einfach, sie loszuwerden, und es kamen immer wieder Leute zur Besichtigung. Mann, das nervte vielleicht! Und diese Absagen! Viele Leute steckten nun ihre Nasen in unser Leben, in Hannahs und mein Zimmer zum Beispiel, und dann zogen sie ab. Ohne sich je wieder zu melden.
Die Zeit wurde knapp. Ich verstand, dass die Bank auf die Kreditraten wartete.
Endlich schien es zu klappen. Auch diese Leute, die sich für die Eigentumswohnung sehr interessierten, konnten das Geld nicht aus dem Ärmel schütteln.
Wir drückten die Daumen. Hannah und ich, ohne zu wissen, wie es später weitergehen würde. Wir waren ziemlich blöd, aber wir dachten, das müsste Mama irgendwie regeln.
Mama meinte, sobald die Zusage von der Bank der Käufer vorliege, würde sie sich bei uns melden. Damit wir mit dem Daumendrücken aufhören könnten.
»Ja, Mama«, sagte ich. »Egal, wo ich bin, ruf mich an.«
Wozu hatte ich denn sonst das Handy?
Natürlich hatte ich mein Handy nicht ständig an. Während des Unterrichts war es sowieso verboten. Hannah, die zwei Klassen tiefer war, also in Klasse vier, war schon mal so schusselig gewesen, ihr Telefon anzulassen, und irgendeine Freundin hatte ihr gesimst. Es ist nicht einmal passiert, sondern drei-, viermal. Da wurde das Handy von ihrer Klassenlehrerin konfisziert und nur mit entsprechenden nachdrücklichen Hinweisen an Mama persönlich ausgeliefert. Es war peinlich, aber nicht für Hannah. Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt. Mama hatte sich auch nicht sonderlich aufgeregt. Sie hatte eben andere Sorgen.
Mein Handy war meistens nicht an, nur wenn es mir gerade mal einfiel. Manchmal auch in den Pausen. Falls mal irgendetwas sein sollte, wie Mama sich ausgedrückt hatte. Ich hatte mir die Warterei auf irgendwas schon von ihr abgeguckt.
An diesem Tag, den ich natürlich nie vergessen werde, an diesem Montag, schaltete ich mein Handy in der zweiten großen Pause an. Vielleicht auch nur, um ein wenig vor Liv anzugeben. Sie war meine Freundin zu der Zeit, habe ich ja schon angedeutet.
Mein Handy piepste zweimal.
Hups.
Ich war ziemlich überrascht, dass jemand auf die Mailbox gesprochen hatte. Es war Mama gewesen.
»Julia«, hatte sie gesagt, und zwar ein wenig aufgeregt. »Ich kann Hannah auch nicht erreichen.«
Dann hörte ich nur so ein komisches Geräusch, als halte sich jemand am Handy fest, so ein knirschendes Geräusch, als wäre das Handy schon fast am Auseinanderbrechen. Auf einmal aber Schluss.
Liv musste gesehen haben, dass ich ziemlich verdattert ausgesehen hatte.
»Ist was?«, fragte sie. »Was ist los, Süße?«
Ich zog die Schultern hoch und sagte: »Meine Mutter«, und: »Ja, irgendwas ist wohl los.«
Ich sah mich auf dem Schulhof nach Hannah um. Die Grundschule, in die sie ging, befand sich auf dem gleichen Schulkomplex, und hin und wieder sahen wir uns auf dem Pausenhof.
»Hey.«
»Hey.«
Ich konnte meine Schwester in diesem Moment aber nicht entdecken und versuchte sie per Handy zu erreichen. Blöd von mir, weil Mama das ja schon probiert hatte. Und Hannah war nach der Sache mit der Beschlagnahme sowieso vorsichtiger geworden.
Mama hatte nicht gesagt, was los sei. Deshalb rief ich zu Hause an.
»Ja …«, sagte Mama. »Gut, dass du anrufst.«
Dann hörte ich sie nur schnaufen.
»Was gibt es, Mama?«, fragte ich.
Ich versuchte, ganz gelassen zu sein. Ihr war ja wohl nichts passiert, also meinte ich, es könne gar nichts Schlimmes sein.
Und so war es denn eigentlich auch.
»Es hat geklappt«, sagte Mama schließlich. »Die Finanzierung steht. Die Wohnung ist damit verkauft. Und jetzt ist endlich Schluss, Schluss, Schluss mit allem.«
Boah!
Sie fuhr fort: »Ich dachte, ihr solltet es gleich wissen.«
»Ja, Mama«, sagte ich. »Das ist doch prima.« Und mir war ganz leicht ums Herz. »Ich sag Hannah auch gleich Bescheid.«
»Mach das«, sagte Mama.
Im Innersten dachte ich, dass jetzt alles gut und in Ordnung sein würde. Wir hatten keinen Grund, unglücklich zu sein.
Ich lief schon bei Ende der großen Pause hinüber in die Grundschule und holte meine Schwester aus dem Klassenzimmer. Die nächste Unterrichtsstunde bei ihrer strengen Klassenlehrerin fing pünktlich auf die Sekunde bereits an.
»Ist es denn wichtig?«, fragte Hannahs Lehrerin.
Ja, was hatte sie sich denn gedacht.
Hannah schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Vor der Klasse wollte ich ihr nicht beibringen, dass wir unsere Wohnung los waren. Das war weder eine Katastrophe noch eine weltbewegende Sache. Nur … wir hatten so lange darauf gewartet. Deswegen war es wichtig.
Ich erzählte es Hannah rasch im Schulkorridor.
Und dann mussten wir uns mit unserer Freude gedulden, bis zum Ende der Unterrichtsstunden.
Ich wartete draußen vor den Fahrradständern auf meine Schwester.
Na, nun komm schon, Hannah!
Dann strampelten wir nach Hause. Es war, als wäre alles, was mit unserem Vater zusammenhing, erledigt. Aus und vorbei. Eigentlich waren wir darüber sehr, sehr froh.
Ich sah mich auf dem Fahrradweg nach Hannah um. Wir lächelten uns an. Manchmal hatten wir dieselben Gefühle, das wusste ich. Wir sahen uns auch ähnlich. Ein bisschen haselmausig.
Unser Aussehen hatten wir von Mama mitbekommen. Zum Glück. Wir wollten nicht so sein wie unser Vater, nicht innen drin und nicht äußerlich.
»Los, mach schon«, sagte ich und fuhr schneller und schneller.
Wir radelten hintereinander her, ich vorneweg. Nicht umdrehen, dachte ich, die Zukunft liegt vor uns.
Ich hatte keine Ahnung, was noch alles vor uns lag.
Hannah und ich hatten erwartet, dass Mama nun aufatmen würde. Sie war ja nicht allein, sie hatte uns, und uns hatte sie schon immer gehabt, jedenfalls von unserer Warte aus.
Sie sah jetzt aber nachdenklich aus. Sie grübelte. Und endlich rückte sie damit heraus, dass wir unser Leben doch sehr verändern müssten, weil …
Weil unser Vater so großspurig aufgetreten war, zumindest nach außen hin. Eine andere Vierzimmerwohnung würden wir uns nicht leisten können. Mama könnte sie gar nicht bezahlen. Sie hatte in den letzten Jahren nicht gearbeitet, weil unser Vater ihr das nicht gestattet hatte.
Und was nun?
»Und was nun?«, rief auch Liv ins Telefon, als ich ihr die Neuigkeiten berichtete.
Hannah lümmelte sich vor mir auf dem Boden. Sie meinte wohl, sie würde was mitbekommen, sie dachte wahrscheinlich, ich wüsste mehr als sie, nur weil ich eineinhalb Jahre älter war als sie. Manchmal spielte der Altersunterschied bei uns eine große Rolle, manchmal aber auch nicht.
Mama jedoch hatte keinen richtigen Plan, wie es weitergehen würde. Wir hingen irgendwie in der Luft.
»Ich seh das schon kommen, dass ihr ganz wegzieht«, sagte Liv.
»Ach nee … ja, meinst du … ach nee«, sagte ich. »Kann ja nicht sein, wohin denn und überhaupt …«
Wir mussten über kurz oder lang aus unserer Wohnung ausziehen. Von dem Verkaufserlös wurden die Schulden bezahlt. Da würde nichts überbleiben. Ich hatte darüber gar nicht nachgedacht. Es war Mamas Sache. Oder auch noch die von unserem Vater. Keine Chance, in der Wohnung bleiben zu können. Es war ziemlich doof, dass ich mir nicht schon vorher Gedanken gemacht hatte.
Mama rechnete und rechnete, telefonierte viel und sah wieder sorgenvoll aus, aber anders als vorher. Sie stülpte sich kein Lächeln über ihr Gesicht wie früher, als sie das uns zuliebe meinte tun zu müssen. Sie sah jetzt wie sie selbst aus. Wie jemand, der ein konkretes Problem hat, das gelöst werden muss.
Und dann kam es raus.
Sie sagte uns das mit einem sehr strengen Gesichtsausdruck, der keinen Widerspruch duldete. Sie versuchte sich gegen uns zu wappnen, aber Hannah und ich hatten ja keine andere Lösung. Wir waren weit entfernt davon, erwachsen zu sein.
»Wir werden in das Haus von eurem Großvater ziehen«, sagte Mama.
Und weil wir nur stumm dasaßen, Hannah wieder auf dem Boden, die Hände hinter ihrem Rücken abgestützt, fuhr Mama fort, ihren Entschluss zu begründen. Sie redete und redete.
»Ich wollte nie wieder dorthin zurück«, sagte sie. »Ihr kennt euren Großvater so gut wie gar nicht. Ja … gar nicht. Und ich konnte all die Jahre nicht dorthin zurückkriechen. Meinem Vater könnte ich viel vorwerfen, wenn er auch recht behalten hat.«
Wir sahen Mama weiterhin stumm an.