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Nichts sagen

Annette Feldmann
Nichts sagen

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Inhalt

Heute

Früher

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Heute

„Ihr seht euch gar nicht ähnlich.“

Ari musterte Daniel und mich kritisch. Hinter uns schoben sich lautlos die Schleppkähne auf dem Rhein vorbei, die in der Dunkelheit zu weißen, grünen und roten Lichtern geschrumpft waren. Es roch nach Grillanzünder, nach Bier und nach Fluss. Dort wo jemand rauchte, glühten orangefarbene Punkte auf. Gunnar hatte einen uralten Ghettoblaster und noch ältere Kassetten mitgebracht, und die Beatles untermalten unsere Party.

Daniel und ich sahen uns wirklich nicht ähnlich. Er hatte seinen Zehn-Zentimeter-Vorsprung gehalten und war jetzt eins fünfundneunzig groß. Mit seinen dünnen Armen und den Storchenbeinen wirkte er schlaksig und ungelenk, doch der Eindruck täuschte. Er spielte Handball in der Regionalliga, studierte Sport und war allein schon deshalb fit und hatte Muskeln. Ich stieg nur ab und zu auf mein Rennrad und kickte höchstens mal im Park. Ich hatte auf die Geisteswissenschaften gesetzt: Linguistik und Kulturwissenschaft. „Professor Nils“ nannte Daniel mich, wenn ich beim Lernen meine blonden Haare zerwühlte. Obwohl, viel zerwühlen konnte ich da nicht. Das Wort Frisur war für die dichte, widerspenstige Wolle auf meinem Kopf definitiv zu hoch gegriffen. Ich sah eher aus wie Anakin Skywalker nach einem Elektroschock.

Daniel hatte vor Kurzem seine kinnlange, schokobraune Matte abrasiert und musste sich seitdem alle paar Meter den Vorwurf „Scheiß-Nazi“ anhören.

„Biologisch gesehen sind Nils und ich auch keine Brüder.“ Daniel holte Luft, um eine seiner pseudowissenschaftlichen Erklärungen abzugeben. Wenn er ein bisschen knülle war, fielen die endlos aus.

„Ja, was denn jetzt?“ Verwirrt sah Ari fast noch süßer aus. Sie kniff ihre blauen Augen leicht zusammen und guckte von einem zum anderen.

„Nils hat ...“, fing Daniel wieder an.

„Quasi adoptiert.“ Ich fand diese Worte passend. Ich war bei Daniels Eltern, Karin und Hannes, aufgewachsen. Ich betrachtete sie und nicht etwa Maren, meine Mutter, und meinen Stiefvater Robert als meine Eltern. Den schon mal gar nicht.

„Wer ist adoptiert?“

„Ich“, sagte ich.

„Ach so.“

Ich merkte, dass sie gern weitergefragt hätte, sich aber nicht traute. Ich bemerkte auch diesen bestimmten Ausdruck in ihren Augen, der signalisierte, dass sie sich für mich interessierte. Ich kannte diesen Blick. Und wahrscheinlich hatte ich sie den ganzen Abend genauso angeguckt. Daniel erzählte plötzlich von Bierdosen, deren Inhalt er vernichten müsse, und wankte davon, um welche aus dem Rhein-Kühlschrank zu holen.

„Möchtest du noch was trinken?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

„Wie wär’s damit?“ Ich hielt ihr eine Lucky Strike hin.

„Nee, ich rauch nicht.“

„Willst du anfangen?“

„Ich bin seit einem Jahr nikotinfrei, also verführ mich nicht.“

„Zumindest nicht zum Rauchen“, sagte ich leise, rückte näher an sie heran und legte ihr meinen Arm um die Schultern. Schweigend saßen wir eine Weile so da. Irgendwann begann ich, sie vorsichtig zu streicheln. Haare, Gesicht, Nacken. Ihre Haut war weich und kühl.

„Das ist wunderschön“, murmelte Ari mit geschlossenen Augen.

„Du bist wunderschön“, flüsterte ich und legte meine Hand auf ihre Brust. Ari schauderte.

„Du fühlst dich gut an.“ Meine Stimme klang atemlos. Dann fasste sie mir zwischen die Beine. „Du dich auch.“ Ich zog sie ins Gras, und endlich küssten wir uns.

„Das war ja klar!“ Eine Bierfahne wehte auf uns herunter. Markus, der mit Daniel und unserem Mitbewohner Gunnar Sport studierte, stand vor uns. „Du stürzt dich auch echt auf alles, was Titten hat!“

„Du bist besoffen, Markus. Hau ab!“

„Ich hab dich vor dem Kerl gewarnt, Ari, hab ich doch.“ „Was ich mache, geht dich nichts an.“

„Wenn du mit ihr deine übliche Nummer abziehst, mach ich dich fertig“, stieß Markus hervor und taumelte davon. Das Knistern zwischen uns nahm er mit. Ari strich ihr T-Shirt glatt.

„Mein Exfreund. Mist. Ach, dieses Arschloch.“

„Ist ja nicht deine Schuld. Markus und ich können uns halt nicht besonders gut riechen.“

„Wieso?“

„Einfach so.“ Wir saßen im Gras, ohne uns zu berühren, und sahen auf den Fluss.

„Was hat Markus mit ‚deine übliche Nummer‘ gemeint?“, fragte sie nach einer Weile.

„Keine Ahnung.“

Ari warf mir einen verächtlichen Blick zu.

„Ich glaube, er spielt darauf an, dass ich noch nie eine feste Freundin hatte, sondern nur Affären, sozusagen“, sagte ich.

„Warum?“

„Weiß nicht. Es ist irgendwie einfacher.“

„Hast du Angst vor Markus?“ Sie grinste.

„Sehr witzig.“

„Dann bring mich nach Hause.“

Am nächsten Abend saßen Daniel und ich auf unserem Balkon. Wir hatten die Füße auf das Geländer gelegt und genossen die laue Sommerluft und den vom Sonnenuntergang spektakulär gefärbten Himmel. Rechts hinter den Bäumen blinkte der Fernsehturm. Daniel kapierte immer noch nicht, nach welchem System er die Zeit anzeigte, auch wenn ich es ihm schon hundertmal erklärt hatte. Es war 21.14 Uhr.

„Wie lief’s gestern eigentlich mit Ari?“

„Gut.“

Es war anders als mit allen anderen. Größer, intensiver, schöner. Ich hatte mich wohl gefühlt. Es ging nicht nur um Sex, sondern um viel mehr: Wir hatten stundenlang gequatscht, uns ewig geküsst und uns zwischendurch einfach nur angesehen. Ich war verliebt. Ich hatte furchtbare Angst.

„Ist ’ne Wiederholung angesagt?“

„Mal gucken.“

„Weiß sie, dass du noch nie eine feste Freundin hattest?“, fragte Daniel gespielt streng.

„Jaaahaaaa.“

Das Thema war nicht neu. Ich hatte ihm nie von der Sache erzählt, aber manchmal glaubte ich, dass er es ahnte. Er fragte mich nie danach, warum ich mich auf keine feste Beziehung einließ.

„Wirst du sie anrufen?“

„Nerv nicht, Danne.“

Früher

„Du solltest Nachhilfe nehmen“, sagte Karin. Hannes saß an seinem Schreibtisch und las sich noch einmal die beiden Briefe durch. Die blauen Briefe, in denen stand, dass ich sitzenbleiben würde, wenn ich meine Mathe- und Englischnoten nicht entscheidend verbesserte.

„Du hattest doch früher immer so gute Zensuren.“ Karin war gerade aus der Dusche gekommen und rubbelte mit einem Handtuch ihre kurzen braunen Haare trocken.

„Das war eben früher“, sagte ich.

Sie wechselten einen besorgten Erwachsenen-Blick.

„Nils, komm mal her.“ Hannes versuchte, mir in die Augen zu gucken. „Was ist denn mit dir? Willst du doch lieber nach München?“

Maren und Robert hatten Nordrhein-Westfalen für ein halbes Jahr gegen die bayerische Landeshauptstadt getauscht. Eines der „renommiertesten Architekturbüros Deutschlands“ hatte ihm dort die Leitung für ein „großes internationales Projekt“ übertragen. Für sechs Monate die Schule zu wechseln sei Unsinn, fanden Maren, Hannes, Karin und er. Also blieb ich hier.

„Da will ich auf keinen Fall hin! Zu Hause ist bei euch!“

Es stimmte. Ich war immer hier gewesen. Papa starb, als ich sechs war. Maren, meine Mutter, war als Stewardess viel unterwegs. Ich verbrachte Tage, Nächte und Wochenenden bei Hoffmanns. Daniel und ich kannten uns aus dem Kindergarten und wuchsen wie Brüder auf. Wer sich die Fotoalben von Hannes und Karin ansah, würde niemals anzweifeln, dass ich zur Familie gehörte. Nur Babyfotos besaßen sie nicht von mir. Ansonsten hatte Karin, die als Übersetzerin arbeitete, aber ausgebildete Fotografin war, alle wichtigen und unwichtigen Momente unserer Kindheit mit ihrer Kamera festgehalten. Außer auf dem Klo hingen überall an den Wänden Fotos von uns.

Meine Babyfotos hatte Maren. Sie bewahrte sie unsortiert in einer „Quality Street“-Blechdose auf. Als Karin ihr zu Weihnachten einen Abzug ihres Lieblingsbildes von mir schenkte, mit selbst geschnittenem Passepartout in einem alten Holzrahmen, legte Maren es zu der Dose im Wohnzimmerschrank.

Das Foto war ein halbes Jahr nach Papas Tod entstanden. Maren musste wie immer arbeiten, und ich fuhr mit Karin, Hannes und Daniel in den Urlaub an die holländische Nordseeküste. In den drei Wochen regnete es kein einziges Mal. Die Sonne knallte vom Himmel, selbst nachts kühlte es kaum ab. Daniel und ich stürzten uns mit riesigen Gummitieren in die Wellen oder bauten gigantische Sandburgen. In der letzten Bauphase einer unserer Weltraumstationen aus Sand drückte Karin ab. Wir standen nebeneinander auf dem Landeplatz, den wir mit Stöckchen und Muscheln markiert hatten. Zwei spirrelige braun gebrannte Jungs, Arm in Arm. Daniels Haare waren von der Sonne gebleicht, mein hellblonder Schopf leuchtete weiß im Julilicht. Wir strahlten vor sommerlicher Glückseligkeit.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte Hannes.

„Nichts“, sagte ich und floh in mein Zimmer. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Pubertät. Rebellion. Egal. Doch ganz tief in mir brannte der Wunsch, sie würden herausfinden, was los war. Jeden Tag wünschte ich mir das.

Ich lag bäuchlings auf dem Bett. Schon wieder heulte ich. Wie ich das hasste.

Hannes kam herein.

„Geh weg“, schluchzte ich und drängte mich dicht an die Wand. Doch er setzte sich zu mir.

„Warum weinst du denn?“ Seine dunkle Stimme war ganz sanft. Ich zog mir die Decke über den Kopf. Er sollte gehen. Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich konnte nicht.

„Ich glaube“, hörte ich ihn nah an meinem Ohr, „du hast vor irgendetwas furchtbare Angst.“

Ich zappelte, doch Hannes hielt mich fest. Ich heulte noch mehr. Nichts sagen. Nichts sagen. Nichts sagen. Als er mir über den Kopf streichelte, schlug ich seinen Arm weg. Ich ertrug es nicht, angefasst zu werden. Dann kamen die Bilder. Sie tauchten ständig wieder auf. Vor allem nachts. Tagsüber schaffte ich es, sie zu verdrängen. Meistens. Es war wahnsinnig anstrengend. Am liebsten würde ich nie ins Bett gehen, um nicht allein in der Dunkelheit zu liegen und zu grübeln. Und sobald ich schlief, kehrte außerdem der Albtraum wieder.

„Du meinst, du kannst es niemandem erzählen, nicht einmal Karin oder mir. Oft ist es aber besser, sich jemandem anzuvertrauen, Nils. Auch wenn du glaubst, dass niemand dir helfen kann. Mir kannst du vertrauen, das weißt du doch. Und helfen kann ich dir auch, da bin ich ganz sicher. Aber dazu musst du mir erst erzählen, was mit dir los ist.“ Er drückte mich noch einmal und ging.

Helfen. Wie sollte Hannes mir helfen können? Niemand konnte das. Und keiner würde es glauben, selbst Hannes und Karin nicht. Ich würde es ohnehin nicht erzählen. Bloß nichts sagen. Ich hasste mich. Ich schämte mich so entsetzlich.

Vorher hatte ich immer sehr gute Noten gehabt, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Sogar in Mathe, obwohl ich Zahlen langweilig finde. Wahrscheinlich hatte ich einfach einen Lehrer-Bonus. Die ersten paar Wochen hat keiner gemeckert. Nils fängt sich sicher wieder, werden sie gedacht haben. Doch ich fing mich nicht. In der Schule tat ich überhaupt nichts mehr. Ich musste mich mit ganzer Kraft darauf konzentrieren, nicht daran zu denken. Nicht völlig durchzudrehen. Mir war alles egal: Gleichungen, Balladen, if-clauses, Hausaufgaben sowieso.

Nach der Englischstunde bat mich Frau Westphal, noch einen Augenblick dazubleiben. Ich wusste, was kommen würde. Missmutig stopfte ich meine Hefte und Bücher in die Tasche und wartete an ihrem Pult, bis die anderen weg waren.

„Wie geht’s dir, Nils?“, fragte sie.

„Gut.“

„Wenn es dir wirklich gut geht, was ich hoffe, kannst du mir dann einen Grund dafür nennen, warum du dich in allen Fächern so drastisch verschlechtert hast?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich möchte mich mit deinen Erziehungsberechtigten treffen.“ Sie gab mir einen Briefumschlag. „Du kannst gern dabei sein, wenn du magst.“

„Nein. Aber ich richte es aus.“ Damit verschwand ich aus dem Klassenzimmer. Zu Hause gab ich Karin den Brief.

„Post für euch. Von Frau Westphal.“

„Du hast auch Post bekommen. Liegt auf dem Küchentisch.“

Der Brief war von Maren und Robert. Ich öffnete ihn erst nach dem Essen in meinem Zimmer. Las ihn, zerknüllte ihn und warf ihn wütend aus dem Fenster. Nein Nein Nein! Nie im Leben! Ich schlug mit den Fäusten gegen die Wand, wieder und wieder. Erst als ich Blut sah, spürte ich den Schmerz. Meine Gedanken drehten sich um meine zerschrammten Fingerknöchel, alles andere verbannte ich aus meinem Bewusstsein.

Nachmittags ging ich zum Fußballtraining. Wie so oft in den letzten Wochen schon eine Stunde vor Beginn. Ich rannte ein paar Kilometer auf der Aschenbahn und stemmte im Kraftraum Gewichte. Solange ich mich auspowerte, dachte ich nicht daran. Ich dachte nur, nächster Schritt, nächster Schuss, nächstes Heben. Abends ging ich wie zerschlagen nach Hause. Erleichtert. Es war Zeit vergangen, ohne dass ich an ihn hatte denken müssen.

Als Daniel und ich abends zusammen nach Hause kamen, saß Hannes schon in der Küche.

„Hallo Jungs, wie war’s?“ Er spielte Fußball in einer Hobbymannschaft und wollte immer wissen, wie es bei uns lief. Er kam auch zu den meisten unserer Spiele. Während wir den Mineralwasserbestand verringerten, erstatteten wir Bericht.

„Sag mal Nils, was haben Maren und Robert denn geschrieben? Hat dich das so verwirrt, dass du den Garten mit dem Papierkorb verwechselt hast?“ Hannes schnippte mir den zerknüllten Brief über den Tisch zu. Nein, gelesen hatte er ihn nicht, das würde er nie tun.

„Du hast gesagt, ich kann diesen Sommer wieder mit euch in Urlaub fahren, oder?“, vergewisserte ich mich.

Hannes nickte.

„Ja klar. Nach Schweden. Wir haben doch schon das Ferienhaus von Gunnars Verwandten gemietet. Wieso?“

„Sie wollen, dass ich mit ihnen wegfahre. Nach Griechenland. Zwei Wochen.“

„Dann machst du zweimal Urlaub. Ist doch toll. Oder überschneidet sich das?“

„Weiß ich nicht. Aber ich will auf gar keinen Fall mit denen wegfahren!“

„Und warum nicht?“ Hannes sah mich aufmerksam an.

„Ich will ganz einfach nicht!“

„Das weiß ich jetzt. Warum?“

„Das ist doch scheißegal!“, schrie ich und riss den Brief in Fetzen. Trampelte darauf herum wie Rumpelstilzchen. Dann rannte ich nach oben. Am liebsten hätte ich mich eingeschlossen, aber den Schlüssel hatte Hannes mir vor ein paar Wochen weggenommen. Meine Wutausbrüche und ein verschlossenes Zimmer hielten er und Karin für keine gute Idee. Ich schaltete die Ärzte auf maximale Lautstärke, setzte mich an den Computer und fuhr Duke Nukem hoch.

Kurz darauf kam Hannes herein und bat mich, die Musik leiser zu stellen. Ich ballerte weiter. Also drehte er selbst am Regler und ging wieder. Ich spielte den ganzen Abend und schaffte es bis ins letzte Level. Daniel würde sich ärgern. Normalerweise zockten wir zusammen, doch wenn ich meine Blackouts hatte, wie er es nannte, ließ er mich in Ruhe. Als es an der Tür klopfte, warf ich einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Es war Hannes.

„Auch wenn morgen Samstag ist, meinst du nicht, es ist genug für heute?“

Plötzlich schämte ich mich. Wollte sagen, dass es mir leid tat, wollte ihm sagen, dass ich ihn gern hatte, doch ich schwieg. Nickte nur.

„Hast du Hunger? Wir könnten noch Pizza bestellen.“ Ich war verrückt nach Pizza.

„Wo sind eigentlich Karin und Danne?“, fragte ich statt einer Antwort.

„Bei Oma.“

„Ach ja.“

„Dann ruf ich jetzt bei Giorgio an. Anchovis und Ananas, wie immer?“

Eine halbe Stunde später saßen wir im Wohnzimmer, guckten James Bond und mampften Pizza. Über meinen Wutanfall sprachen wir nicht mehr.

Es ist immer derselbe Traum. Ich liege auf dem Rücken auf einem Bett. Dann höre ich seine Stimme. Er redet gedämpft auf mich ein, während er näher kommt. Näher und näher. Ich will aufstehen und wegrennen, aber die Matratze lässt mich nicht los. Sie saugt mich immer enger und stärker an sich, sodass ich keinen Muskel mehr rühren kann. Ich beginne zu schwitzen. Ich weiß, was jetzt passieren wird. Dann gibt die Matratze mich frei. Ich falle.

Schreiend erwachte ich. Ermattet wie nach einem Fußballspiel setzte ich mich langsam auf, knipste das Licht an und spähte in jeden Winkel. Er war nicht hier, ich konnte aufatmen. Die Leuchtziffern meines Weckers zeigten vier Uhr an.

Hannes kam herein.

„Hast du wieder einen Albtraum gehabt?“ Er entwirrte meine verdrehte Decke und breitete sie über mich. Ich beharrte darauf, dass er das Licht anließ. Nur langsam legte sich die Angst.

Am Samstag fragte mich Hannes, ob ich meine Hausaufgaben schon erledigt hätte.

„Jaja“, murmelte ich. Er wollte sie sehen. „Sind noch nicht fertig.“

„Hast du denn schon angefangen?“

„Nicht wirklich.“

„Frau Westphal schreibt, dass du gar keine Hausaufgaben mehr machst. Warum?“ Ich schwieg. „Ab jetzt machst du sie, und das Thema ist gegessen, einverstanden?“

„Schon gut.“

„Und noch etwas, Nils. Karin und ich treffen uns nächste Woche mit Frau Westphal. Möchtest du mitkommen?“

„Nein. Ihr wollt ja immer nur wissen, was mit mir los ist.“

„Das möchten wir allerdings. Es geht dir ganz offensichtlich schlecht, und wir wollen dir helfen.“

„Es ist aber nichts!“, rief ich. Nichts sagen, das hatte er mir eingeschärft.

Zweifelnd sah Hannes mich an.

„Dann sollen wir Frau Westphal erzählen, alles sei in bester Ordnung?“

„Genau.“

Gerade wollte ich nach unten gehen, da hörte ich ihre Stimmen und blieb stehen. Ich lauschte.

„... vorhin mit Maren telefoniert.“ Das war Hannes.

„Und was meinte sie?“ Karins Stimme.

„Dass er große Schwierigkeiten mit Robert hat. Vom ersten Tag an. Und dass er auf ihren vorherigen Partner genauso abweisend reagiert hat.“

„Kein Wunder. Da war er gerade sieben und Volker erst ein paar Monate tot. Aber jetzt sieht er seinen Stiefvater doch höchstens zweimal im Jahr. Warum verhält er sich da so seltsam?“

„Keine Ahnung. Vielleicht weil er weiß, dass er wieder zurück muss? Was ist daran so schlimm für ihn? Ob es mit dem Tod seines Vaters zu tun hat? Ehrlich gesagt würde ich gern mit Nils zum Psychologen gehen. Sehen, was dahintersteckt. Hinter diesen Wutanfällen und Albträumen.“

„Ja, er hat sich verändert. Ohne Marens Einverständnis geht das aber nicht.“

Hannes erwiderte noch etwas, das ich nicht mehr mitkriegte.

Das also war Marens Erklärung: Robert und ich hatten „große Schwierigkeiten“. Aber wenigstens hatten die Erwachsenen etwas gefunden, das sie diskutieren und woraus sie ihre psychologischen Erkenntnisse ziehen konnten: Vater gestorben und seitdem Probleme mit Stiefvätern. Laber Rhabarber. Es war mir so egal. Sollten sie mein „auffälliges Verhalten“ ruhig mit ihrem Scheiß da begründen, dann war ich außer Gefahr, es erzählen zu müssen.

Auf Hannes’ Schreibtisch entdeckte ich in den nächsten Tagen immer neue Psychologiebücher, richtig blöden Kram wie „Wenn Eltern sterben“ oder „Söhne und Väter“. Ab und zu versuchten er und Karin mit mir zu reden, fragten beispielsweise, ob ich meinen Vater vermissen würde.