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EINLEITUNG

        

Unter den ersten Geschenken zur Geburt meines älteren Sohnes befand sich auch ein Babybuch von einer alten Freundin, selbst Mutter zweier Kinder, die noch immer in dem kleinen Nest in Michigan wohnt, wo wir gemeinsam aufwuchsen. Mit dem Geschenk wurde mein Sohn willkommen geheißen, zugleich aber der Umstand gewürdigt, dass ich mittlerweile an einem Ort lebte, der so ganz anders war als die Stätte unserer Kindheit: New York City. Urban Babies Wear Black ist ein launig illustriertes Pappbilderbuch, das mit der Prägnanz einer fünfminütigen Soziologievorlesung darlegt, inwiefern sich Großstadtbabys von anderen Babys unterscheiden – vom Outfit (schwarz und stylish statt rosa oder blau und auf niedlich getrimmt) über die Ernährung (Sushi und Café Latte statt Hot Dogs und Milch) bis hin zur Freizeitgestaltung (Opern- und Galeriebesuche statt Spielplatzfreuden). Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Buch mir selbst deutlich besser gefiel als meinem Kind. Während unserer ersten gemeinsamen Wochen zu Hause las ich es ihm immer wieder vor. Manchmal ertappte ich mich sogar bei der Lektüre, wenn es gerade schlief.

Irgendwann dämmerte mir, dass der Reiz des Buches darin lag, dass es auch über die Mütter der Babys etwas zu sagen hatte. Wenn diese Wesen ihre Knirpse quer über die Buchseiten schoben, schubsten, schleppten oder chauffierten und ihnen städtischen Schick verpassten – ganz die Mama –, erhaschte man stets nur kleine, verführerische Ausschnitte von ihnen: hier High Heels, dort eine modische Hundeleine. Ob Nageldesign oder pelzbesetzte Babytragen, all das nahm ich, während ich meinem Sohn vorlas, genauestens unter die Lupe. Wer waren sie wirklich, diese glamourösen, mondänen Frauen mit ihren weltgewandten Babys? Was taten sie da eigentlich? Und vor allem: Wie taten sie es?

Ich wollte mehr über diese Großstadtbabymamis in Erfahrung bringen, denn ich wollte mehr über meine eigene Gesellschaftsgruppe wissen: Mütter in Manhattan. Als Frau im industrialisierten Westen bemutterte ich meinen Nachwuchs ganz anders als die Menschen, die ich im Rahmen meiner Arbeit als Sozialforscherin jahrelang studiert und beschrieben hatte (Schwerpunkt unter anderem: evolutionäre Geschichte und Vorgeschichte des Familienlebens). Jäger und Sammler oder Wildbeuter, die heute noch so leben wie einstmals unsere Vorfahren, ziehen ihre Kinder in der Gemeinschaft groß, in einem dichten sozialen Netzwerk von Müttern, Schwestern, Nichten und anderen Geschlechtsgenossinnen, die die Kinder anderer Frauen so zuverlässig versorgen (ja sogar stillen), als wären es ihre eigenen. Als meine Brüder und ich in Michigan aufwuchsen, konnte meine Mutter auf eine Variante dieses Unterstützungssystems zurückgreifen: Wenn sie Besorgungen erledigen oder ein Nickerchen machen wollte oder wenn sie sich schlicht und einfach nach der Gesellschaft von Erwachsenen sehnte, stand ein gutes Dutzend Nachbarinnen, allesamt Vollzeitmütter, als Quasi-Verwandtschaft bereit, um uns zu hüten. Für uns bedeutete es: mit anderen Kindern zusammen zu sein. Die Hinterhöfe, durch die Wohnungen, Mütter und Kinder miteinander verbunden waren, brachten ein Geflecht aus reziprokem Altruismus hervor: Hilfst du mir, so helf ich dir. Heute habe ich vom Küchenfenster aus ein Auge auf die Kinder, morgen bist du an der Reihe. Danke fürs Mehl; wenn der Kuchen gar ist, bring ich dir ein, zwei Stück vorbei.

In krassem Gegensatz dazu lebten mein New Yorker Großstadtbaby und ich trotz unserer Nähe zu so vielen anderen Menschen völlig isoliert. Meine Nachbarn in Downtown Manhattan waren so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, dass ich sie fast nie zu Gesicht bekam. Ihre sämtlichen Aktivitäten spielten sich in geschlossenen Räumlichkeiten ab: in Büros, Apartments und Schulen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Meine Geburtsgruppe hatte ich verlassen, lebte weit entfernt von meinem Geburtsort und hatte in unmittelbarer Nähe keine Verwandten, an die ich mich wenden konnte. Meine engsten angenommenen Verwandten waren ältliche Schwiegereltern, die zwar stets begeistert waren, uns zu sehen, aber nicht mit anpacken konnten. Und da wir uns »neolokal« angesiedelt, unseren Wohnsitz also unabhängig von unserer jeweiligen Großfamilie gewählt hatten, um nach der Heirat einen eigenen, separaten Haushalt zu gründen, wohnten sie ohnehin eine halbe Stunde Fahrzeit von uns entfernt.

Inzwischen hatte mein Mann nach nur einer Woche Auszeit mit dem Säugling und mir schon wieder zu arbeiten begonnen, genau wie mein eigener Vater und wie so viele andere Väter der westlichen Welt, zumal in Manhattan mit seinen außerordentlich hohen Lebenshaltungskosten und seinem gewaltigen Druck auf Gehaltsempfänger mit Nachwuchs. Eine Zeitlang unterstützte uns eine Säuglingsschwester, ein Muss für jedes Baby in Manhattan, eine dank Mundpropaganda angeheuerte Person, bei der man all die Grundkenntnisse erlernt, die uns früher Mütter und Großmütter beigebracht hatten. Jeden Morgen stand sie gut gelaunt vor der Tür, um mir zur Hand zu gehen und mir in Erinnerung zu rufen, was ich in dem kurzen Säuglingspflegekurs auf der Entbindungsstation des Krankenhauses und vor langer Zeit beim Babysitten gelernt hatte. Abgesehen von ihr und den Freundinnen, die gelegentlich zu Besuch kamen, war ich mit unserem Neugeborenen und meinen mütterlichen Versagensängsten meist allein, und das Tag für Tag.

Außerdem neigte ich zu Einsiedlertum. Hinter dem Haus hatten wir einen winzigen, wunderhübschen Garten; dort saß ich gerne mit dem Baby. Ansonsten war es mir nur selten ein Bedürfnis, das Haus zu verlassen. Die rücksichtslosen Taxifahrer, das Gedränge umherhastender Menschen, Pressluftbohrer und Autohupen ließen mir die Stadt, die ich seit mehr als einem Jahrzehnt so geliebt hatte, plötzlich unwirtlich erscheinen, wenn nicht gar lebensgefährlich für meinen Sohn. Eine gute Freundin, die ihr Kind kurz vor mir zur Welt gebracht hatte, war von ihrem Dasein als Großstadtmutter so ernüchtert, dass sie sich in einen Vorort flüchtete. Und auch im Mutter-und-Kind-Yoga-Studio um die Ecke hatte ich keine Bekanntschaften geschlossen. Obwohl keine von ihnen berufstätig zu sein schien, zerstreuten sich die Jungmütter täglich mit höflichem Nicken gleich nach dem »herabschauenden Hund«, wohl um sich mit ihren individuellen Babys in ihren individuellen Wohnungen einzuschließen und sich ihren individuellen Angelegenheiten zu widmen.

Wer, fragte ich mich häufig, würde mich lehren, wie man die Großstadtmami eines Großstadtbabys wird?

Meine Kindheit im Mittleren Westen der USA war gemächlich und vergleichsweise traditionell verlaufen. Jeden Morgen ging ich gemeinsam mit einer Horde Nachbarkinder aller Altersgruppen zu Fuß zur Schule, und nachmittags spielten wir Fangen, trödelten bis in den frühen Abend hinein in unseren Gärten oder streunten ohne alle Aufsicht in den umliegenden Wäldern herum. An den Wochenenden kurvten wir alle auf unseren Fahrrädern umher oder waren mit den Pfadfindern unterwegs. Als ich älter wurde, arbeitete ich abends oder an den Wochenenden hin und wieder als Babysitterin, ein erstes Beschäftigungsverhältnis, das sich einer zupackenden großen Schwester geradezu aufdrängte und das unter den Präpubertierenden unserer Nachbarschaft einen beliebten Zeitvertreib darstellte.

Vielleicht das einzig Bemerkenswerte an meiner Herkunft, dasjenige, was mir jetzt Halt geben konnte, war die Faszination meiner Mutter für Anthropologie und für das damals noch in den Kinderschuhen steckende Forschungsgebiet der Soziobiologie. Eines ihrer Lieblingsbücher war Margaret Meads Kindheit und Jugend in Samoa. Meads Gedanke, dass die im Westen vorherrschende Form von Kindheit und Jugend nicht die einzige oder die einzig richtige sei und dass die Samoaner im Vergleich möglicherweise besser abschnitten, brachte bei Erscheinen des Buches im Jahre 1928 und dann noch einmal bei seiner Neuauflage 1972 das ganze Land in Aufruhr. Mead, so erklärte mir meine Mutter, war Anthropologin. Sie erforschte Menschen verschiedener Kulturen, die sie kennenlernte, indem sie mitten unter ihnen lebte und Seite an Seite mit ihnen tat, was sie taten. Dann schrieb sie darüber. Anthropologin zu sein schien mir ein unfassbar exotischer, glamouröser und verlockender Beruf, da ich als Heranwachsende von Müttern umgeben war, meistenteils Hausfrauen, während die Väter vor allem als Ärzte oder Anwälte arbeiteten.

Dies war auch die Ära Jane Goodalls, einer betörenden Blondine mit Pferdeschwanz, Khakihosen und Tropenhelm, die das öffentliche Gesicht der Primatologie wurde. Goodall, die im Gombe-Nationalpark in Tansania eine Schimpansensippe beobachtete und beschützte und sie mit Hilfe des National Geographic in aller Welt bekannt machte, war für mich der Rockstar schlechthin. Beim häuslichen Abendessen unterhielten wir uns darüber, was mein Vater und meine Mutter den Tag über getrieben oder was meine Brüder und ich in der Schule gelernt hatten – und über Mary Leakey, eine zigarrenrauchende dreifache Mutter, deren Fossilienfunde in der Olduvai-Schlucht und bei Laetoli in Tansania die hergebrachten Ansichten zur menschlichen Vorgeschichte über den Haufen geworfen hatten.

Gerieten sich meine kleinen Brüder bei Tisch in die Haare, berief sich meine Mutter auf Robert Trivers’ Theorien über Elternaufwand und Geschwisterrivalität. Waren sie brav, dozierte sie über Sippenselektion und Altruismus. Als ich etwa zehn Jahre alt war, sinnierte sie beim Wäschezusammenlegen – offensichtlich mit E. O. Wilson im Hinterkopf –, ob es nicht seltsam sei, dass sie, wenn sie mich vor einem heranrasenden Auto beiseitezerre, dies nicht nur meinetwegen, sondern auch zur Erhaltung ihres Genmaterials tue.

Dieser unsentimentale (wenn auch 1975 stark vereinfachte) Blick auf die Soziobiologie der Mutterschaft, diese völlig neue Theorie der Eltern-Kind-Beziehung sprachen mich ungemein an. Neben der Büchersammlung meiner Mutter – Mead stand neben Colin Turnbulls Werken über die Ik in Uganda und die Mbuti-Pygmäen von Zaire, Betty Friedan, dem Hite-Report, Der stumme Frühling und gewaltigen Stapeln des Natural History Magazine – war dies wohl auch der Grund dafür, weshalb ich später Biologische und Kulturanthropologie studierte, mit Schwerpunkt auf der weiblichen Lebenswelt. Nichts faszinierte mich mehr als Fellpflege, Freundschaft und Machtkämpfe unter den Pavianen der Savanne. Oder befremdliche Schachtelwelten wie die weiblichen und männlichen Studentenverbindungen an meiner Universität, mit ihren griechischen Kürzeln, ihren choreographierten Gelöbniswochen-Ritualen und ihren leidenschaftlichen Loyalitäten und Rivalitäten. Ich untersuchte altweltliche und neuweltliche Affen und die Gehirngröße bei Homo habilis und Homo ergaster und schrieb darüber, dass sich Verbindungsschwestern gar nicht so sehr von Menschenaffen unterschieden.

In meinen Zwanzigern packte mich die Abenteuerlust, und ich zog nach New York, um mich in Kulturwissenschaften und Komparatistik promovieren zu lassen. Manhattan krempelte alles an mir um – meine Ziele (zwar erlangte ich die Doktorwürde, beschloss aber, lieber doch nicht in die Wissenschaft zu gehen), mein Modebewusstsein (in einer Stadt voll hinreißender und hinreißend aufgemachter Frauen wurde Kleidung, schon immer mein Steckenpferd, fast zu einer Obsession), sogar meine Zellstruktur (die schiere Aufregung des Großstadtlebens veränderte meinen Kortisolspiegel und meinen Stoffwechsel und verwandelte mich in das Klischee einer spindeldürren Manhattanerin mit Schlafstörungen). Energiegeladen verfasste und redigierte ich Artikel für Zeitschriften und unterrichtete, um die Miete zahlen zu können, gelegentlich in meinem Fachgebiet.

Heiraten und Kinderkriegen schob ich auf die lange Bank, wie es hochgebildete Frauen in wohlhabenden Metropolen gerne tun, bis ich Mitte dreißig einen kauzigen Alteingesessenen ehelichte, der beruflich und emotional tief mit seiner Stadt verwurzelt war. Hier war er geboren und aufgewachsen, eine Tatsache, die mir ebenso exotisch und anziehend vorkam wie eine Herkunft aus, sagen wir, Tahiti. Oder Samoa. Er verfügte über ein herrlich verschrobenes Detailwissen zur Stadtgeschichte und schien zu fast jeder Straßenecke, jedem Gebäude und jeder Wohngegend eine persönliche Anekdote beisteuern zu können. Jeglichen Zweifel daran, ob ich mich dauerhaft in New York niederlassen solle, fegte er mit seiner Leidenschaft für die Stadt beiseite. Mich reizte es, dass seine Eltern, sein Bruder und seine Schwägerin hier lebten, dass seine halbwüchsigen Töchter aus erster Ehe an den Wochenenden bei ihm wohnten. Hier gab es für mich, deren eigene so weit entfernt war, eine fertige heimelige Familie.

New York besaß den zusätzlichen Vorteil, einer der wenigen Orte zu sein, an denen Autorinnen wie ich in so unterschiedlichen ökologischen Nischen wie Werbung, Verlagswesen und Lehre gedeihen konnten. Die vitale, von Menschen wimmelnde Stadt erinnerte mich an einen Regenwald, den einzigen anderen Lebensraum, der eine so extreme und stabile Bandbreite an Lebensformen möglich macht. Einmal hatte ich in einem indischen Viertel gelebt, das an ein peruanisches grenzte, dann war ich in die Nähe einer Enklave namens Little Sweden gezogen. Mein Mann hatte sich nicht vom Fleck gerührt, was mich kein bisschen störte. Wir zogen nach Downtown, und sechs Monate nach der Hochzeit war ich schwanger. Wir dachten keinen Augenblick daran, New York zu verlassen. Schließlich war mein Mann hier groß geworden, und ich hatte mir die nicht unerhebliche Mühe gemacht, quer durchs halbe Land nach Manhattan zu ziehen. Warum sollte New York nicht auch für unseren Nachwuchs geeignet sein? Und so war der Augenblick, als wir es erfuhren – Wir bekommen ein Baby! –, nicht nur ein persönlicher Glücksmoment, sondern auch der Beginn von etwas viel Gewaltigerem als meine Person, meine Ehe, meine Herkunft oder meine Gefühle zum Thema Muttersein. Er bezeichnete, was mir aber erst später bewusst wurde, einen Übergang: meinen Eintritt in eine andere Welt, die Welt der Mutterschaft in Manhattan.

Dieses Buch erzählt eine Geschichte, in der die Realität alle Fantasie weit übertrifft. Es beschreibt, was ich herausfand, als ich ein wissenschaftliches Experiment durchführte, bei dem ich das Muttersein in Manhattan erforschte, indem ich es lebte. Es ist die Geschichte einer Schachtelwelt – ein Begriff, den ich nicht leichtfertig verwende. Unmittelbar nach 9/11 zogen wir in die Upper East Side, weil wir physischen Abstand vom Schauplatz der Tragödie ebenso dringend benötigten wie größere Nähe zur Familie meines Mannes. Nun, da wir ein Kind hatten, erschien uns dies besonders wichtig. In jenem Augenblick, da die Welt so bedrohlich und unsere Stadt so gefährdet wirkte, sehnten wir uns danach, uns und ihm die Geborgenheit enger Familienbande, liebevoller Angehöriger zu bieten. So weit, so einfach. Aber da waren ja noch die anderen Mamis, die ich kennenlernen und unter denen ich leben sollte.

Schließlich ließen wir uns in der Park Avenue nieder, etwa auf der Höhe des Sees im Central Park. Von meinem Basislager aus besuchte ich Krabbelgruppen, bewarb mich bei exklusiven Musikkursen, haderte mit Kindermädchen, kaffeeklatschte mit anderen Müttern und ging bei Kindergärten »vorspielen«, zunächst für meinen erstgeborenen Sohn, danach für seinen kleinen Bruder.

Dabei lernte ich, dass Mutterschaft auf der Insel Manhattan eine ganz eigene Insel war und die Mütter der Upper East Side nichts weniger als einen Stamm für sich bildeten: eine Art Geheimgesellschaft, bestimmt von Regeln, Ritualen, Kleiderordnungen und Migrationsmustern, die mir vollkommen neu waren, durchzogen von Glaubenssätzen, Ambitionen und Kulturpraktiken, von deren Existenz ich nie geträumt hätte.

Zur Upper-East-Side-Mutter zu werden – mit jedem Tag, jedem Gespräch und jedem Spielplatzbesuch ein wenig mehr –, war ein Unterfangen, das ich mit gewisser Beklommenheit in Angriff nahm. Die superreiche und statusbewusste Nachbarschaft, in der wir gelandet waren, und die oft blasiert wirkenden, wie aus dem Ei gepellten Mütter kamen mir so fremdartig wie einschüchternd vor. Doch wie jeder Primat höherer Ordnung und wie Menschen überall sehnte ich mich danach, dazuzugehören, in meinem eigenen Interesse, mehr noch aber im Interesse meines Sohnes und schließlich meines Zweitgeborenen.

Aus meinem Literatur- und Anthropologiestudium wusste ich, dass wir Menschenaffen ohne Zugehörigkeitsgefühl und ohne tatsächliche Zugehörigkeit verloren sind. In der Literatur und im wahren Leben mögen Ausgestoßene zwar interessante Antihelden mit Identifikationspotenzial abgeben, aber in der Regel sind sie zutiefst unglücklich. Von Odysseus bis Daisy Miller, von Huck Finn bis Hester Prynne, von Isabel Archer bis Lily Bart nimmt es mit sozialen Außenseitern und Verstoßenen nie ein gutes Ende, besonders nicht mit weiblichen. Schutzlos und ohne unterstützendes Netzwerk gehen sie im übertragenen, mitunter auch im wörtlichen Sinn elendiglich zugrunde, nicht nur auf den Seiten von Büchern, sondern auch in der Gesellschaft und in der Wildnis, wie es Feldbiologen sattsam dokumentiert haben. Und niemand ist gefährdeter als eine Primatin, die mit einem Neugeborenen Anschluss an eine neue Horde sucht. So berichten Primatenforscher beispielsweise, dass Schimpansenmütter, die versuchen, sich einer fremden Gruppe anzuschließen, regelmäßig Anfeindungen und brutaler körperlicher Gewalt seitens alteingesessener Weibchen ausgesetzt sind; mitunter werden sie und ihre Jungen von ebenden Artgenossinnen, in deren Gemeinschaft sie unterkommen wollen, sogar getötet.

Mir wollte natürlich niemand den Hals umdrehen, als ich auszog, um meinen Platz in der Upper East Side zu finden, zumindest nicht im wörtlichen Sinn. Aber einen Fuß in die Tür zu bekommen und akzeptiert zu werden schien mir wichtig, ja dringlich geboten. Wer bleibt schon gerne außen vor? Welche Frau möchte keine Freundinnen haben, mit denen sie, wenn das Kind im Kindergarten abgeliefert ist, noch schnell einen Kaffee trinken kann? Wer möchte nicht, dass sein Kind Spielkameraden und Spielverabredungen hat? Meine Schwiegereltern und mein Mann halfen mir über die Runden. Sie sagten mir, wo ich Lebensmittel kaufen konnte, und erklärten mir das verzwickte Regelwerk der Galas, der überdrehten Bar-Mizwas und Bat-Mizwas, der Klubs, der »Co-op«-Vorstände und anderer mir völlig fremder Riten und Praktiken, die mit unserer neuen Wohngegend einhergingen. Doch die Mamikultur der Upper East Side war noch einmal etwas ganz anderes, eine Nuss, die ich zu knacken hatte, weil ich eine Mami war, die mitmachen wollte, ja musste. Gewiss, im Laufe meiner New Yorker Jahre hatte ich bereits zahlreiche Expeditionen in die Upper East Side unternommen. Ich wusste, der Stadtteil war glitzernd, vermögend und privilegiert. Ich wusste, Understatement war in der Upper East Side nicht gefragt. Ich wusste, Kleidung, Philosophie und Ethos waren anders als Downtown. Doch die geheime Schachtelwelt der Upper-East-Side-Mutterschaft würde sich mir erst erschließen, wenn ich sie betreten hätte. Ohne Kinder wäre es mir womöglich nie aufgefallen, dieses Paralleluniversum privilegierter Elternschaft und privilegierter Kindheit. Mit Kindern jedoch fühlte ich mich magisch von ihm angezogen – geradezu verpflichtet, es zu begreifen, in es einzudringen, seinen kulturellen Code zu entschlüsseln. All die Mamis um mich herum kennenzulernen und es ihnen nachzutun, eine Upper-East-Side-Mutter zu werden war eine Reise, auf die nichts mich vorbereitet hatte, eine Reise, die an Seltsamkeit und Überraschungen alles in den Schatten stellte, was ich je studiert oder erlebt hatte – sei es der Rindersprung der Hamar in Äthiopien oder das Bluttrinken der Massai, die Axtkämpfe der Yanomami am Amazonas oder die ritualisierten Bacchanale der Studentinnenverbindungen während der Rekrutierungswochen an den Big Ten.

Eine Kindheit in der Upper East Side muss aus so ziemlich jedem Blickwinkel ungewöhnlich erscheinen. Da gibt es Chauffeure und Kindermädchen und Hubschrauberflüge in die Hamptons. Da gibt es die »richtigen« Musikkurse für Zweijährige, Privatlehrer für Dreijährige, um sie für die Aufnahmeprüfung der Privatschulen zu drillen, und Spieltreffenberater für Vierjährige, die nicht wissen, wie man spielt, weil sie vor lauter Frühförderung – Französisch, Mandarin, Little Learners und Kochkurse, dazu noch Golf, Tennis und Stimmbildung – nach dem Kindergarten nicht die Zeit zum Spielen haben. Da gibt es Modeberater, die den Mamis dabei helfen, die richtige Garderobe für das Hinbringen und Abholen der Kleinen anzuschaffen. Über die Spielplätze schwanken sie auf schwindelerregenden Absätzen und in atemberaubenden Pelzmänteln von J. Mendel und Tom Ford, die sie auch gerne zu Geburtstagspartys tragen. Letztere kosten ab 5000 Dollar aufwärts und finden in Apartments statt, die so weiträumig sind und so hohe Decken aufweisen, dass man ganze Hüpfburgen darin unterbringen könnte. Was man auch tut.

Und wenn schon Kindheit hier ungewöhnlich ist – Mutterschaft ist geradezu grotesk. Ich lernte aus erster Hand jene Statussymbole kennen, die das Leben der privilegierten und perfekten Frauen mit Kindern bestimmen, unter denen ich hauste. Ihre Identität, merkte ich, wird von grausamen Upper-East-Side-spezifischen Initiationsriten geprägt: der Befragung durch die Vorstände der Wohnungsgenossenschaften; den »Exmissions« – Auswahlverfahren für den Übergang von elitärem Kindergarten zu ebenso elitärer Privatschule –; den Fitnesstempeln Physique 57 und SoulCycle, wo die reichen, hochqualifizierten und beruflich oft unterbeschäftigten Frauen, die bei mir inzwischen »Manhattan-Geishas« heißen, ihre einst hochgerühmten Karriereambitionen in die Perfektionierung ihres Körpers umleiten. Da gibt es die besessene Jagd nach schier unerreichbaren Luxusgütern (so wie meine eigene Jagd nach einer Birkin Bag, kaum dass ich mich der Lebensweise der Eingeborenen assimiliert hatte) und den »Insiderhandel« mit Informationen – etwa, wie man, um die vielen Menschenschlangen in Disneyland zu umgehen, auf dem Schwarzmarkt einen Führer mit Behindertenausweis anheuert. Die Identität einer Upper-East-Side-Mami zeigt sich auch in den angespannten, hochkomplizierten Beziehungen zu den Frauen, die sie einstellt, um sich bei der Aufzucht ihrer Kinder und der Führung des Haushalts (bisweilen mehrerer Haushalte) helfen zu lassen. Indem ich die Mutterschaft der Upper East Side westlich der Lexington Avenue studierte, unter den Mamis dort lebte und von ihnen lernte, eröffnete sich mir eine Welt, die mich formte, erregte, faszinierte und gelegentlich entsetzte.

Die Frauen, die mich lehrten, eine Upper-East-Side-Mutter zu sein, konnten bei der Vertretung der Interessen ihres Nachwuchses – und ihrer eigenen – völlig skrupellos sein. Natürlich waren sie liebevolle Mütter, zugleich aber dynastisch orientierte Unternehmerinnen, fest entschlossen, erfolgreich zu sein, ergo »erfolgreiche« Kinder zu haben. Beispielsweise gab keine von ihnen zu, schon ihr dreijähriges Kind für den ERB-Test – die standardisierte Aufnahmeprüfung für Privatschulen – gedrillt zu haben, nicht einmal ihren besten Freundinnen gegenüber. Doch sie alle taten es, heuerten durch persönliche Empfehlung vermittelte Privatlehrer an und blätterten mitunter Tausende von Dollar für die Unterrichtsstunden hin, zu gleichen Teilen motiviert von Liebe, Angst und knochentrockenem Ehrgeiz. Ebenso viele achteten darauf, dass sich ihre Kinder zum Spielen mit dem »Alphanachwuchs« der Reichen und Einflussreichen verabredeten, um in der unsichtbaren, aber alles beherrschenden Hierarchie, die das hiesige Leben strukturiert, aufzusteigen. Die Kinder »niederrangiger« Eltern mieden sie so systematisch wie gebrauchte Heftpflaster. Mir fiel auf, dass für einige der Frauen, in deren Nachbarschaft ich lebte und mit denen ich in den Gängen des Kindergartens plauderte, ein Kind nur eine weitere Möglichkeit darstellte, auf großem Fuß zu leben – eher Spielerei als Sprössling, jemand, dem man die richtigen Sachen kaufen, den man mit der richtigen, von führenden Fachleuten empfohlenen Art von Aufmerksamkeit überschütten, mit den besten und gesündesten Nahrungsmitteln ernähren und in die prestigeträchtigsten Schulen hieven konnte. Ich muss gestehen, dass mir bei meinem Abenteuer manchmal nur noch Zynismus blieb.

Die Kehrseite all dieses Ehrgeizes, all dieser Aggression ist, wie ich feststellen musste, eine außerordentliche Ängstlichkeit. Der Druck, alles richtig zu machen, eine vollendete Mutter und zugleich eine vollendet trainierte, vollendet gekleidete und vollendet erotische Frau zu sein, sowie die Zeit und die Energie, die auf diese Aufgabe verwandt werden, scheinen manche bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu strapazieren. Linderung verschaffen Alkohol, verschreibungspflichtige Medikamente und Party-Kurztrips mit den Freundinnen im Privatflugzeug nach Las Vegas, St. Barths oder Paris, zwanghaftes Fitnesstraining und Selbstpflege (ganz groß: Indoor-Radeln bei FlyWheel, Knochenmarkbrühe und Fastentage mit rohen, kaltgepressten Biosäften), Kleider- und Accessoireskäufe, bei denen einem die Kinnlade herunterfällt (die Frauen in meiner Bekanntschaft benutzen das Wort presale, Vorabverkauf, als Verb und finden nichts dabei, bei Bergdorf Goodman oder Barneys eben mal 10 000 Dollar an einem Tag zu lassen), sowie Mittagessen mit anschließendem Coiffeurbesuch oder Wellnesstage mit ihren häufig ebenso ängstlichen Freundinnen, manchmal auch neidischen Freundfeindinnen.

Anfangs plante ich, mich zwar anzupassen, dabei aber die nötige Distanz zu den Belastungen, dem Irrsinn und dem Konkurrenzdenken der Mamikultur in der Upper East Side zu wahren. Ich stellte mir vor, dass meine Erfahrungen als Sozialforscherin und Anthropologin mir dabei helfen würden, vernünftig und geerdet zu bleiben, solange ich in einer Welt, die mir zuweilen ungastlich erschien, einen Platz für mich und meine Kinder suchte. Doch wie alle Anthropologen rund um den Erdball bemerkte auch ich an mir irgendwann Anzeichen des »Going native«-Phänomens. So nennt man es, wenn ein Feldforscher den objektiven Blick verliert, sich mit dem Gegenstand seiner Untersuchung zu identifizieren beginnt und die Grenze zwischen dem Verstehen des Anderen und dem Sich-Anverwandeln an das Andere überschreitet. Die Verbindungen zu meinen Freunden Downtown wurden brüchiger, je stärker ich mich meiner Arbeit, der Mutterschaft und der Kultivierung von Mamifreundschaften in Uptown widmete. Langsam, aber sicher, wenn auch völlig unbewusst begann ich, mich zu kleiden und zu verhalten wie die Frauen um mich herum, immer mehr wie sie zu denken und dieselben Dinge wichtig zu nehmen, die sie wichtig nahmen. Ihre Welt war zu gleichen Teilen befremdlich, verführerisch und abschreckend für mich, mein inneres Bedürfnis, mir unter ihnen einen Platz zu erobern, jedoch erstaunlich stark.

Glücklicherweise fand ich im Stamm der exklusiven Upper-East-Side-Frauen mit Kindern schließlich doch noch Freundinnen. Tiefe, nährende Freundschaften sind keine einfache Angelegenheit in einem streng hierarchisch gegliederten sozialen Umfeld, das auf Machtgerangel, Konkurrenz, allgegenwärtiger Unsicherheit und Dauerbelastung beruht. Ihre Rituale, die Regularien und Praktiken ihres Stammes, wirkten auf mich meist sonderbar und häufig abstoßend. Ebenso jene Haltung der Überlegenheit und der Gleichgültigkeit, mit der sie mir anfangs begegneten. All das hob diese Frauen von anderen ab. Dennoch konnte ich bald feststellen, dass sie mit anderen Müttern in allen Teilen der Stadt, in allen Teilen der Welt viel gemeinsam hatten. In schweren Zeiten gehen sie häufig Beziehungen mit anderen ein und kümmern sich um sie auf ebenso überraschende wie außergewöhnliche Art. Dieser uralte evolutionäre Imperativ der Zusammenarbeit und der Fürsorge, den unsere Spezies mit so vielen Primaten teilt, prägt und kennzeichnet weibliche Freundschaft und Mutterschaft auf der ganzen Welt. Selbst in der glamourösen, durchtrainierten, hyperkompetitiven und rasend reichen Upper East Side.

Was ich an diesen Freundinnen besonders ungewöhnlich fand – und immer noch finde –, war ihre Großzügigkeit, der Eifer, mit dem sie die Welt, die sie besser als ich begriffen, für mich übersetzten, die Begeisterung, mit der sie mir Einblick in ihr Universum gewährten, ihre ironische Sicht auf das eigene Leben und auf ihr Umfeld. Und ihr Sinn für Humor. »Mit jemandem, der nicht schnallt, wie lächerlich und übertrieben und lustig und durchgeknallt unser Leben ist, möchte ich sowieso nicht befreundet sein«, versicherte mir eine Mutter, als ich nur halb im Scherz meine Sorge ausdrückte, ihre Bekanntschaft mit mir könnte sie, wenn man von meinem Projekt Wind bekäme, in Schwierigkeiten bringen. Ich hatte Angst davor, dieses Buch zu schreiben. Sie und andere beruhigten mich jedoch, indem sie mir zeigten, dass noch in den befremdendsten, abschreckendsten Umgebungen und in den scheinbar seltsamsten Welten ein Gutteil Normalität zu finden ist, und indem sie mir in Erinnerung riefen, dass man selbst unter unwirtlichen, unfreundlichen Himmelsstrichen echte Wärme und Güte erfahren kann.

In den Jahren, in denen ich als Mami und Sozialwissenschaftlerin unter ihnen lebte und forschte, lernte ich, dass Frauen mit Kindern in der Upper East Side für ihren Nachwuchs genau dasselbe wollen wie Mütter überall in der Welt – dass sie gesund und glücklich sind, dass sie sich geliebt fühlen, dass sie sich gut entwickeln und eines Tages etwas aus sich machen. Aber dann ist auch schon Schluss mit den Gemeinsamkeiten. Ist man nicht selbst in Manhattan aufgewachsen, vielleicht nicht einmal dann, kommt einem an einer Kindheit in der Upper East Side nichts natürlich vor.

Und dementsprechend erscheint das hiesige Muttersein niemandem, der nicht von einer Upper-East-Side-Mutter erzogen wurde, auch nur im Ansatz logisch, überschaubar oder vernünftig. Mütter der Upper East Side werden nicht geboren wie ihre Babys, das musste ich auf die harte Tour erfahren. Sie werden gemacht. Diese Geschichte erzählt davon, wie ich gemacht und immer wieder neu gemacht wurde, und davon, wie es mich oft ins Verderben zu stürzen schien. Es ist die Betrachtung eines kleinen Ausschnitts Mutterdasein auf einer winzigen Insel und eine Erörterung der Frage, was er über uns alle aussagen könnte.  

COMME IL FAUT

        

FELDNOTIZEN

Umwelt und Ökologie

Die Insel ist eine geographisch, kulturell und politisch abgesonderte Landmasse, ungefähr sieben Mal so lang wie breit. Das Klima ist gemäßigt, mit vergleichsweise harten Wintern und außerordentlich heißen und schwülen Sommern, die sich in jüngster Zeit, auch aufgrund von zwei Jahrhunderten intensiver Rodung und Industrietätigkeit, immer mehr tropischen Verhältnissen annähern. Die geographischen Koordinaten der Insel: 40°43’42’’ nördlicher Breite und 73°59’39’’ westlicher Länge.

Die Inselbewohner leben in einem Zustand ökologischer Entlastung – Ressourcen wie Nahrungsmittel und Wasser sind reichlich vorhanden und leicht verfügbar, Krankheiten sind selten, Fressfeinde fehlen. In dieser Nische beispiellosen Überflusses können die Wohlhabendsten unter den Insulanern unbelastet von aller materiellen Not kräftig in jeden einzelnen ihrer Nachkommen investieren und elaborierte, komplexe soziale Codes und Riten entwickeln, deren Befolgung zeit-, arbeits- und ressourcenintensiv ist.

Trotz des inselweiten außergewöhnlichen Reichtums an Nahrung, Wasser und anderen Ressourcen zeichnen sich bestimmte Gebiete durch ausgeprägte und anhaltende Armut aus. Die räumliche Isolation, die hohe Bevölkerungsdichte und das enorme Wohlstandsgefälle, aber auch traditionelle geschlechtsspezifische Rollen und Verhaltensmuster bezüglich Kinderaufzucht und Arbeit dürften viele der seltsam anmutenden Handlungsweisen der vermögendsten Inselbewohner, die im Folgenden behandelt werden, beeinflussen, teilweise sogar dafür verantwortlich sein.

Inselbehausungen

Die Einwohner der Insel siedeln überwiegend vertikal, will sagen: sie richten sich ihre Behausungen unmittelbar übereinander ein, in Bauwerken aus fein gemahlenem Stein. Das Leben in diesen »vertikalen Dörfern« gestattet den Bewohnern maximalen Raumgewinn, denn Raum stellt auf ihrer winzigen, ungewöhnlich dicht besiedelten Insel ein kostbares Gut dar. An einigen Orten, besonders dort, wo die wohlhabendsten Insulaner residieren, sind diese vertikalen Dörfer auffällig restriktiv organisiert: Sie verfügen über einen geheimnisvollen »Ältestenrat«, der darüber befindet, wer dort wohnen darf und wer nicht. Die Suche nach einer Behausung ist eines der arbeitsintensivsten Unterfangen der weiblichen Angehörigen des von mir untersuchten Stammes – gewöhnlich wird diese Aufgabe von Erstgebärenden übernommen. Fast ausnahmslos lassen sich diese Frauen bei ihrer Suche nach einem Heim, die stets auch eine Suche nach der eigenen Identität ist, von einem »Behausungsschamanen« anweisen. Diese Schamanen bieten während des ganzen kostspieligen, langwierigen und mühsamen Initiationsprozesses Fachwissen, Beratung und emotionale Unterstützung an.

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Geographische Herkunft der Insulaner

Die Inselbewohner weisen eine heterogene geographische Herkunft auf. Viele haben sich mit Erreichen der Geschlechtsreife von ihrer Geburtsgruppe in entfernten, kleineren, teils sogar ländlichen Dörfern gelöst und sind verbesserter beruflicher, sexueller und ehelicher Aussichten wegen auf die Insel emigriert. Andere Inselbewohner sind Eingeborene. Diese genießen einen höheren Status als nicht autochthone Bewohner, zumal wenn sie in bestimmten Winkeln der Insel aufgewachsen sind oder bestimmte »Lernhütten« besucht haben.

Eigen- und Fremdwahrnehmung der Insulaner

Gleich, ob alteingesessen oder zugezogen, in den Augen von Außenstehenden, zahlreichen Besuchern und Landsleuten hegen die Inselbewohner eine hohe Meinung von sich und ihrem Eiland. Im ganzen Land sind sie bekannt für ihre Schroffheit, für ihre Geistesgaben, für blendende Verschönerungspraktiken sowie für ihr Geschick im Tauschen, Verhandeln und Geschäftemachen. Zunehmend handeln sie auch mit unsichtbaren Ideen und Abstraktionen, was wiederum den Eindruck verschärft, dass sie über privilegiertes Wissen oder gar »magische« Kräfte verfügen. Die Irrungen und Wirrungen all derer, die auf die Insel ziehen, um etwas aus sich zu machen, sind im wahrsten Sinne des Wortes legendär – es besteht eine reiche mündliche und schriftliche Überlieferung über den angeblich unbezähmbaren und einzigartigen Lebensmut jener Menschen, die es dort »zu etwas gebracht« haben. Haben sie sich auf der Insel erst einmal etabliert, sagt man, können sie es überall »zu etwas bringen«.

Ressourcenbeschaffung und -verteilung

Im Großen und Ganzen übertreffen die Inselbewohner an Reichtum alle anderen Bewohner ihres Landes; ihr Leben ist frei von jenen umweltbedingten Einschränkungen, die sich in anderen Lebensräumen der Welt so massiv auf den Verlauf von Biographien auswirken. Sich und den eigenen Kindern eine ausreichende Kalorienzufuhr sichern zu können, was seit den Anfängen der Evolution die größte Herausforderung an Eltern rund um den Globus darstellt, ist für wohlhabende Inselbewohner schlichtweg eine Selbstverständlichkeit. Doch wie in vielen industriellen und postindustriellen Gesellschaften konzentrieren sich die Väter des von mir untersuchten, traditionellen Geschlechterrollen stark verhafteten Stammes vornehmlich darauf, ihre Frauen und Kinder mit weniger handfesten materiellen Ressourcen zu versorgen, unter anderem mit finanziellem, sozialem und kulturellem Kapital. Zwar arbeiten zahlreiche weibliche Inselbewohner außerhalb ihres Heimes, indes halten es viele wohlhabende Insulanerinnen für einen Bestandteil ihrer »Rolle«, in den Jahren der Gebärfähigkeit und der Kinderaufzucht zu Hause zu bleiben, wo ihnen häufig alloparentale Helferinnen zur Seite stehen – Individuen, die nicht selbst die Eltern sind, aber Elternfunktionen übernehmen. Diese alloparentalen Individuen werden »Haushälterinnen«, »Kindermädchen« und »Betreuungspersonen« genannt.

Aufbau der Insel

In der Vorstellung ihrer Bewohner ist die Insel in vier Quadranten aufgeteilt: »Up«, »Down«, »Right« und »Left«. Die Gebiete »Up« und »Down« werden als stark gegensätzlich eingestuft: »Up« wird für die Kinderaufzucht bevorzugt, während »Down« eher als Ort für Präreproduktive und kulturelle »Außenseiter«, für Schlemmereien und ekstatische nächtliche Riten gilt. Weiterhin scheiden die Insulaner ihr Eiland in eine linke und eine rechte Hemisphäre. »Left« und »Right« sollen einander genauso polar entgegengesetzt sein wie »Up« und »Down«. In der linken Hemisphäre soll es lockerer und fortschrittlicher zugehen als in der rechten, einer Gegend, die als steif und konservativ wahrgenommen wird.

Für die Insulaner sind »Up«/»Down« und »Right«/»Left« mehr als bloße Richtungen oder Koordinaten; es sind mächtige und tief empfundene Gegensätze, die die Identität und die Alltagserfahrung eines jeden Inselbewohners prägen. Dementsprechend werden die inseleigenen Unterstämme nach ihrem jeweiligen Quadranten definiert – Rechtsseitige, Linksseitige, Obenwohnende, Untenwohnende.

Anrainern benachbarter Bezirke stehen unsere Insulaner alles in allem gleichgültig gegenüber; nur selten suchen sie sie auf oder erwähnen sie auch nur.

Das »Hinüberwechseln« in Randgebiete der eigenen Landmasse oder auf andere Inseln des Archipels erfordert ein komplexes Transportwesen sowie Insiderkenntnisse über Routen und Tarife, was nicht nur die ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit der Insulaner verstärkt, sondern auch ihre buchstäbliche geographische Abgesondertheit.

Quadrantenzugehörigkeit und Aufbau sozialer Identität

Bewegen sich Insulaner einmal aus ihrem eigenen Inselquadranten in einen anderen, so äußern sich viele bestürzt beziehungsweise empfinden Angst und Verzweiflung, da sie solcherlei Grenzüberschreitungen für unbequem, zeitraubend, beschwerlich und sogar unheilbringend halten. Aus Aberglauben organisieren manche ihren Alltag und ihre Termine (bei Medizin-, Finanz- und Kinderbetreuungsschamanen) dergestalt, dass sie ihre unmittelbare Umgebung kaum je verlassen müssen. Die Quadrantenidentität beeinflusst auch Lebensaspekte wie Schmuck und Bekleidung, Kinderaufzucht und jahreszeitbedingte freiwillige Migrationsmuster: Bewohner der westlichen Zone zieht es im Sommer eher ins Gebirge, während Bewohner der östlichen Zone – namentlich der »Up Right« genannten – eine ausgesprochene Vorliebe für ein ganz bestimmtes elitäres Reiseziel am Meer haben. Auch im Winter lassen sich zonenspezifische Warmwetterreiseziele ausmachen.

Der Glaube, zwei der Zonen seien für Kinderaufzucht und Familienleben besonders geeignet, ist auf der gesamten Insel verbreitet. Diese beiden Zonen, nämlich »Up Right« und »Up Left«, flankieren eine riesige fetischisierte Fläche, die treffend »Großes Feld« genannt wird und deren unmittelbare Nähe als besonders erstrebenswert gilt. Dies mag in der kollektiven Geschichte und Vorgeschichte der Insulaner wurzeln, die als Savannenbewohner den Schutz der Bäume suchten, später als grundbesitzende Ackerbauern nach feindlichen Eindringlingen Ausschau halten mussten und daher wohl auch heute noch eine freie Sicht aus »sicherer« Höhe bevorzugen, bei der sie sich am wohlsten fühlen. Behausungen mit Blick auf das Große Feld sind dementsprechend begehrt und kostspielig; sie verleihen und unterstreichen einen hohen sozialen Status. Das Große Feld gilt auch als ideal für Kinder, die unter Aufsicht von Lehrern und Eltern, meist aber von alloparentalen Helferinnen dort spielen. Im Großen Feld ist die Ansiedlung von Industrie verboten, der Handel auf ein Minimum beschränkt. Es ist ein heiliger Bezirk und wird als heilkräftiges Gesundheitselixier angesehen; seiner Betrachtung und Begehung wird eine beruhigende und stärkende Wirkung nachgesagt. Diejenigen im Quadranten »Up Right« (der Upper East Side), die dem Großen Feld am nächsten siedeln, sind auf der Insel die Wohlhabendsten, und ihre Praktiken, Rituale und Glaubensüberzeugungen zählen zu den markantesten, gefestigtsten und wohl auch bizarrsten des Stammes. Diese Bewohner bilden den Gegenstand unserer Untersuchung.

Wir hatten beschlossen, nach Uptown zu ziehen, um unserem Sohn eine »schönere Kindheit« zu bieten. Schließlich gibt es Uptown den Central Park, eine Art Oase, eingezwängt zwischen die Upper East Side und die Upper West Side, und jede Menge gute öffentliche und private Schulen. Damals gab es dort auch all die Dinge, die man Downtown oft vergeblich suchte – kinderfreundliche Restaurants, Kindermodegeschäfte und Läden, in denen das Kind zum Haareschneiden auf einem feuerwehrautoförmigen Stuhl sitzen und sich ein Wiggles-Video ansehen konnte. Wir wollten Abstand von den ständigen Erinnerungen an 9/11, die Downtown ein knappes Jahr danach noch vielfach spürbar waren – schlechte Luft in Innenräumen, ständige Beklommenheit und mit Händen zu greifende Trauer. Wir wollten Spielplätze in Wohnnähe und eine familienfreundliche Nachbarschaft in einem Bezirk mit ausgezeichneten öffentlichen Schulen. Und wir wollten nah bei den Eltern meines Mannes, seinem Bruder und dessen Familie leben, ein Beziehungsnetz liebender Cousins, Cousinen und Erwachsener, die uns unterstützen und aufrichten würden, wenn wir unter Schlafentzug litten und uns mit Zahnen oder mit Trotzanfällen herumschlagen mussten. Und da wir unbedingt in Manhattan bleiben wollten, konnte dies nur eines heißen: die Upper East Side.

Immer wenn ich unseren Freunden Downtown gegenüber erwähnte, dass wir nach Uptown ziehen wollten, sahen sie mich an, als erklärte ich ihnen voller Begeisterung, einer Sekte beitreten zu wollen. »Wenigstens haben die Vorzeigefrauen hier in Downtown Brille, Doktortitel und ihren eigenen gemeinnützigen Verein«, bemerkte der Ehemann einer Freundin, als wir uns eines Abends bei einem Drink darüber unterhielten. Natürlich wussten wir alle, dass die Vorzeigefrauen der Upper East Side eine blonde Mähne und künstliche Brüste hatten. Und zu Hause bei den Kindern blieben. Und beim Personal. Oder? Ich wusste es nicht so genau. In die Gegend nördlich der West Twenty-Third Street hatte ich mich seit Jahren nicht gewagt, außer um meine Schwiegereltern zu besuchen oder gelegentlich ins Museum zu gehen. Ich hatte sie durchaus wahrgenommen, die auf Hochglanz polierten Menschen und die Geschäfte, die Mauern, Monturen und Messingbeschläge. Aber die Mamis dort waren mir nie besonders aufgefallen. Schließlich hatte ich noch nie eine Mutter von der Upper East Side kennengelernt. Wie das wohl wäre? Wie die wohl wären? »Leg auf jeden Fall schon mal was für den Pelzmantel beiseite«, feixte meine Freundin. Ich lachte, und mein Mann verschluckte sich an einem Cashewkern. An Uptown/Downtown-Vorurteilen herrschte jedenfalls kein Mangel, und ich war ganz versessen darauf, selbst herauszufinden, welche davon zutrafen und welche nicht.

Erst einmal jedoch musste ich eine Wohnung für uns finden. Und damit meine ich wirklich ich, denn mein Mann delegierte die Apartmentsuche kurzerhand an mich. Vordergründig war das nur logisch: Als Mutter eines Kleinkindes hatte ich meine Arbeitszeiteinteilung als Schriftstellerin auf »flexibel« und »freiberuflich« umgestellt – meine Tätigkeit konnte ich tage-, wenn nicht gar wochenlang ruhen lassen. Außerdem beschäftigten wir stundenweise ein Kindermädchen, das auf meinen Sohn aufpassen konnte, während ich mich auf Wohnungssuche begab. Aber das Ganze folgte auch einer tiefer liegenden kulturellen Logik, denn in Manhattan ist es Aufgabe der Frau, der Familie ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Manchmal bezahlt sie dieses Dach auch, wenigstens zur Hälfte. Doch in heterosexuellen Ehen findet gewöhnlich die Frau die Wohnung, ganz unabhängig vom jeweiligen Beruf. Darüber hatte ich ausführlich nachgedacht und schließlich entschieden, dass daran die Landwirtschaft schuld sein müsse. Während unsere Vorfahren, Jäger und Sammler, mit ihren Vorräten noch umhergestreift und -geschweift waren und ihr Lager ohne allzu große Bindung an Orte oder Besitztümer aufgeschlagen und wieder abgebaut hatten, war mit dem Übergang zum Ackerbau alles anders geworden. Dieser führte zu Besitzdenken – »Die Felder da gehören mir!« – und zu gesteigerter Fruchtbarkeit der Frauen, die jetzt relativ sesshaft lebten und deshalb häufiger ovulierten. Und schneller, als man »Hirse« sagen konnte, verwandelten sich Sammlerinnen – mit all der Macht, dem Einfluss und der Freiheit derer, die ihre Angehörigen mit nahezu dem ganzen täglichen Kalorienbedarf versorgten – in Hüterinnen von Heim und Herd, die kaum mehr zu sagen hatten, als um welche Zeit das Abendessen aufgetragen würde, das sie tagsüber zubereitet hatten, und deren Prestige sich weitgehend auf das von Austrägerinnen des Nachwuchses beschränkte. Mir machte es nichts aus, diejenige zu sein, die sich um Säugling und Haushalt und die Suche nach einem neuen Heim kümmerte. Es war ja auch sinnvoll, angesichts der lukrativeren Karriere meines Mannes und meines heftigen Verlangens, bei unserem kleinen Sohn zu bleiben. Aber an manchen Tagen stellte ich mir schon die Frage, ob das, was meine Freundin und ihr Ehemann bei einem Drink gesagt hatten, nicht doch zutraf: dass die Geschlechterpolitik der Upper East Side, verglichen mit Downtown, noch viel stärker der der Ackerbau betreibenden Bantu ähnelte als der der umherziehenden, »downtownigen«, wildbeuterischen !Kung San.

Unterdessen vermutete ich, dass es selbst für jemanden, der so ahnungslos war wie ich, nicht allzu schwer sein dürfte, unser Stadthaus zu verkaufen und dafür ein Apartment in Uptown aufzutreiben. Schließlich gelten Stadthäuser in New York City als Statussymbole ersten Ranges. Für die Menschen von Manhattan verkörpern allein stehende Behausungen, in denen niemand über oder unter einem wohnt, einen außergewöhnlichen, hoch gehandelten und höchst begehrenswerten Lebensstil. Sie sind dazu gedacht, die in der westlichen Welt geschätzte Privatsphäre zu sichern und in einer Stadt, in der Wohnfläche nach Quadratmetern bezahlt wird, eine gewisse räumliche Grandezza zu ermöglichen. Und so standen potenzielle Käufer bald Schlange, um unser Haus zu besichtigen. Dabei war dieses eher bescheiden, hatte nur eine kleine Küche und keinen Aufzug. Ich war rund um die Uhr damit beschäftigt, es tipptopp herzurichten und mich dann schleunigst zu verdrücken, damit ein Makler oder Klient es in Augenschein nehmen konnte.

Diese Zeit im Exil nutzte ich, um von einem nahe gelegenen Café aus meinerseits Makler anzurufen. Die meisten von ihnen waren Frauen. Sie hielten mich eine Weile hin, und statt mir Auskunft zu geben, durchlöcherten sie mich mit Fragen – nach dem Beruf meines Mannes, danach, woher ich stammte und wo ich zur Schule gegangen sei, sogar nach unserem Vermögenswert.

Ein ähnliches Fragespiel kannte ich bereits von Manhattaner Partys und Zusammenkünften, wo die Anwesenden einen mit dem Taktgefühl von Volkszählungsbeamten aushorchen, um das Gegenüber richtig einordnen zu können. Als mir dies zum ersten Mal widerfuhr, war ich völlig verwirrt. »Ach, die haben Kleine Jüdische Welt mit dir gespielt«, stellte mein jüdischer Ehemann fest. »Die wollten nur wissen, wo du hingehörst.« Soweit ich erkennen konnte, war hier allerdings nicht Religion im Spiel. In einer Riesenstadt kann es durchaus sinnvoll sein, zu wissen, ob und welche Verbindungen man zu jemandem hat, ob der andere jemanden kennt, den man ebenfalls kennt oder kennenlernen möchte. Die Chinesen nennen es guanxi: ein System, das in einem Land mit mehr als einer Milliarde Einwohner ein Netzwerk wechselseitiger Beziehungen knüpft. Sinnvoll, wenn auch ein wenig (oder sehr) berechnend.

Jedes dieser Verhöre beendeten die Maklerinnen unweigerlich mit der Mitteilung, sie hätten zwar nicht genau das Objekt im Angebot, nach dem ich mich erkundigt hatte, dafür aber ein paar andere, die sie mir zeigen könnten. Tatsächlich hatte es den Anschein, als ob keines der herrlichen Apartments, die ich im Internet oder in Zeitungsannoncen gesehen hatte, wirklich existierte