Titelbild Interniert

Interniert

In Schweizer Flüchtlingslagern

Tagebuch des jüdischen Autors

Felix Stössinger 1942/43

Simon Erlanger,

Peter-Jakob Kelting (Hg.)

Christoph Merian Verlag

Vorwort

«… Wir meldeten uns beim Kommandanten. Er zog die Brille über die Stirn, wiegte sich etwas in den Hüften von hinten nach vorne, lächelte und sagte:

– Ich habe eine Arbeit für Sie, die Ihnen gefallen wird. Sie werden das Lager-Tagebuch führen.

– Ein Kassenjournal, fragte ich.

– Nein, ein literarisches Tagebuch. Sie schreiben es für sich selbst. Was Sie sehen, denken, beobachten, erleben. Ich gebe Ihnen mein Wort: Was ich aus dem Tagebuch über das Lager erfahre, ist so, als ob ich es nicht erfahren hätte. Aber ich möchte, dass Sie schreiben, was Sie erleben.

– Auch Beschwerden und Bemängelungen?

– Alles. …»

So beschreibt der österreichisch-jüdische Journalist und Publizist Felix Stössinger, wie er dazu kam, seine Erlebnisse in Schweizer Lagern schriftlich festzuhalten. Ein literarisches Journal sollte er schreiben, gewissermassen in offiziellem Auftrag. Nicht nur Geschehnisse sollte er dabei dokumentieren, sondern ein literarisches Tagebuch verfassen. Die Ereignisse sollten eingeordnet und analysiert werden. Zeiten und Umstände sollten dadurch verstanden, verstehbar gemacht werden. Dies konnte in Zeiten der Militärzensur und des strikten Flüchtlingsregimes durchaus gefährlich sein:

«Sofort begriff ich aber, dass ich mein Lagerjournal in doppelter Buchführung anlegen musste: Eine für mich, die andere ad usum delphini. Ich wollte nicht jedermann zeigen, was ich sah und dachte. Ich hatte zum Kommandanten Vertrauen, aber ich wusste nicht, wer die 2 Exemplare lesen würde, die ich ausser seinem Privatexemplar zu schreiben hätte. Und schliesslich lässt sich die Kunstform des Tagebuchs nicht aus den Tagen schütteln. Ihre Ergebnisse bedürfen der Anordnung, weil sie sonst sinnlos wie das Tagesleben wirken.»

Das Tagebuch ist so nicht blosse Chronik der Ereignisse und einfaches Zeitdokument, sondern ein literarisches Produkt, ein bewusst gesetzter und gewichteter Kommentar zur schweizerischen Flüchtlingspolitik, zum Lagersystem und zur Behandlung der Flüchtlinge durch die Schweiz.

Felix Stössinger gehörte zusammen mit Frau Charlotte und Stiefsohn Hans zu den 22500 jüdischen Flüchtlingen und Emigranten, denen es bis 1945 gelang, in der Schweiz Aufnahme zu finden – trotz einer schon seit den zwanziger Jahren gegen Juden gerichteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, welche während des Krieges noch verschärft wurde. Tausende jüdischer Flüchtlinge wurden an der Grenze abgewiesen und zurückgeschickt, in den sicheren Tod.

Die meisten derjenigen, die Aufnahme fanden, wurden für kürzere oder längere Zeit in Auffang- und Arbeitslagern sowie in den sogenannten Flüchtlingsheimen interniert. Nur wenige hielten ihre Erlebnisse im schweizerischen Lagersystem in Tagebüchern fest. Einige mehr fassten sie, zum Teil Jahrzehnte später, in ihren Erinnerungen zusammen. Nur sehr wenige dieser Aufzeichnungen erreichen aber die literarische Qualität und die Unmittelbarkeit des Tagebuchs von Felix Stössinger. Die Sprachgewalt, die Genauigkeit der Beobachtung, die politische Analyse, die kulturelle Tiefe, die Feinheit der Ironie – das alles sucht seinesgleichen in der Erinnerungsliteratur. Immer wieder werden die präzisen und eindrücklichen Schilderungen des Lageralltags unterbrochen durch kurze Essays, in denen die Belesenheit und die Bildung des Autors zum Ausdruck kommt, der in Wien, Berlin und Prag als Kulturjournalist und politischer Publizist gewirkt hatte.

Nach der Befreiung aus dem Lager und später noch nach Kriegsende redigierte Stössinger das Tagebuch und fügte Kapitel und Essays hinzu, die unter anderem seine Flucht aus Prag und Wien beleuchten. Schon der Titel des Manuskripts ‹Zwischen Tell und Gessler› deutet die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: schwankend zwischen den Idealen von Schillers Tell, mit einer Schweiz als Hort der Freiheit, und einer antijüdischen Flüchtlingspolitik, die eher zur Staatsraison eines Landvogts Gessler passte. Lange Jahre blieb das nur als Typoskript in wenigen Exemplaren vorhandene Tagebuch unveröffentlicht. Fast ein halbes Jahrhundert nach der Redaktion durch Felix Stössinger übergab dessen Stiefsohn Hans Freisager eine Kopie des Tagebuchs dem Journalisten und Historiker Stefan Keller. Der hatte mit der Reportage ‹Grüningers Fall› 1993 die Geschichte des St. Galler Polizeihauptmanns und Fluchthelfers Grüninger aufgearbeitet und so dessen Rehabilitierung durchgesetzt – was damals auch ein Anstoss zu einer vertieften Beschäftigung mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik war. Keller machte Ende der neunziger Jahre Simon Erlanger, Mitherausgeber der vorliegenden Edition, auf das Tagebuch aufmerksam, worauf es Erlanger als eine Quelle für seine 2006 erschienene Dissertation zum System der schweizerischen Arbeitslager und Heime verwendete. Durch diese Arbeit wurde Mitherausgeber Peter-Jakob Kelting auf das Manuskript aufmerksam, der es wiederum Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung vorlegte. Von Wartburgs Begeisterung für das Tagebuch ist es zu verdanken, dass es nun im Christoph Merian Verlag veröffentlicht und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird.

Die vorliegende Ausgabe umfasst den ganzen ungekürzten Text des Tagebuchs1, nebst zusätzlichen Artikeln und Essays, welche die Flucht Stössingers aus Wien und Prag schildern und die Stellung der Flüchtlinge in der Schweiz thematisieren. Wo es die Herausgeber als nötig erachteten, wurde der Text durch kurze Kommentare ergänzt. Diese sollen das Verständnis erleichtern. Um Leserinnen und Leser an die Person von Felix Stössinger und seine Zeit heranzuführen, enthält die vorliegende Edition eine biografische Notiz und eine kurze historische Einordnung sowie ein längeres Interview mit Stössingers Stiefsohn Hans Michael Freisager.

An dieser Stelle sei Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung für seine Initiative ebenso herzlich gedankt wie Claus Donau, Kevin Heiniger und Oliver Bolanz vom Christoph Merian Verlag für die ausgezeichnete Betreuung. Dank gilt auch Jörg Bertsch für die gute und äusserst produktive Zusammenarbeit beim Lektorat sowie nicht zuletzt der Christoph Merian Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, ohne deren finanzielle Unterstützung die vorliegende Publikation nicht möglich gewesen wäre.

Simon Erlanger und Peter-Jakob Kelting, Basel, im Juni 2011

1 Das Originaltagebuch besteht aus zwei broschierten Bänden, die drei Teile enthalten. In dieser Publikation veröffentlicht werden der gesamte erste und zweite Teil, ausserdem drei Aufsätze aus dem dritten Teil. (Anm. d. Hg.)

Zwischen Tell

und Gessler

I. Teil

Flucht aus

Frankreich