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Monika Herz

Geschichten,
die heilen

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Für Elisa

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www.nymphenburger-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 nymphenburger in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
Schutzumschlag und Illustration:
www.atelier-sanna.com, München
Herstellung und Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-485-06012-7

Inhalt

Vorwort

Jüdische Geschichten

Lilith und Adam

Adam und Eva

Eva und Lilith

Kain und Abel

Abraham erwacht

Hinduistische Geschichten

Ganesha verliert Kopf und Kragen

Ganesha und die Ratte

Ganesha lernt schreiben

Ganesha und die rechte Braut

Buddhistische Geschichten

Die Geburt der Tara

Siddhartha und der Wagenlenker

Siddhartha verlässt Frau und Kind

Der Buddha und die Mätresse

Atisha und Avadhuti

Atisha und die Yogini

Christliche Geschichten

Wir sind alle frei

Gebt dem Kaiser sein Geld zurück

Alles geben

So wird meine Seele gesund

Die königliche Witwe

Die Macht der Herzen

Brot und Wein herbeizaubern

Sufi-Geschichten

Die Pilgerreise, die keine war

Der Fuchs und der Löwe

Der Diamant in der Hand

Rabia legt Feuer im Paradies

Der Prophet und der Schafhirte

Alles Wissen

Ein Feind wird zum Freund

Der Prophet und die gefährliche Wahrheit

Der Sufi auf dem Thron

Indianische Geschichten

Deganawidah und der weiße Büffel

Die Verbündeten

Der Friedensbaum

Die Weiße Büffelfrau

Dank und Nachwort

Das eine Herz

Quellen

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Man vergisst leicht, wie mysteriös und mächtig Geschichten sind. Sie arbeiten im Stillen, unsichtbar. Sie arbeiten mit den »Stoffen« des Geistes und des Selbst. Sie werden ein Teil von dir, während sie dich verändern.

Nimm dich vor den Geschichten, die du liest oder erzählst, in Acht: Auf subtile Weise verändern sie nachts unter der Oberfläche des Bewusstseins deine Welt.

Ben Okri (geb. 1959), nigerianischer Schriftsteller

Ich glaube, nein, ich weiß, dass Geschichtenerzählen eine wirkungsvolle Heilmethode ist. Von Milton Erickson, dem Begründer der modernen Hypnose, heißt es, er habe oft tagelang gegrübelt, um für seine Patienten die passende heilsame Geschichte zu finden. Selbst mein jüngster Sohn Jakob wusste schon im Kindergartenalter über die Heilkraft von Geschichten Bescheid. Er war eines Tages beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst worden. Zwar war ihm körperlich außer einem kleinen Bluterguss nichts passiert, aber das Erlebnis war doch sehr erschütternd. Als ich ihn abends ins Bett brachte und ihn im Arm hielt, sagte er: »Jetzt weiß ich, um was es wirklich geht. Es geht um Leben und Tod.« Er machte eine Pause, dachte nach und fügte dann hinzu: »Und um gute Geschichten!«

Geschichten erzählen von einem Konflikt, davon wie die Helden und Holden mit dem Konflikt umgehen und wie sie ihn lösen. Wir identifizieren uns zunächst mit den Figuren und nehmen die Wendungen der Geschichte in unseren eigenen Heilungsprozess mit. Wenn wir uns tiefer mit den einzelnen Symbolen und Bildern der Geschichte beschäftigen, können wir heilsame Fragen und Antworten finden. Es kommt viel darauf an, welche Fragen wir stellen. Indem wir die Bilderwelt dann in unseren Geist aufnehmen, dort verinnerlichen und wirken lassen, finden wir Wege, die uns aus dem Leiden herausführen in eine Welt, in der wir zufrieden und erfüllt leben können.

In einem Artikel über meine Arbeit, die Gebetsheilung, wurde ich einmal »die Alpenschamanin« genannt. »Was tut eigentlich eine Alpenschamanin?«, wurde ich gefragt. Ich antwortete, dass eine Alpenschamanin oben auf dem heiligen Berg sitzt und in die Welt hinausschaut. Und dass gleichzeitig die Welt in sie hineinschaut. Und dass sie von ihrem heiligen Berg aus in die Welt hinaushorcht. Und dass die Welt während des Hinaushorchens in sie hineinspricht.

Mein heiliger Berg ist der Hohe Peißenberg. Da bin ich aufgewachsen, da bin ich eine Eingeborene, da bin ich verwurzelt und da wünschte ich, dass dereinst meine Asche in den Wind gestreut wird. Am Fuße des Berges auf der Nordseite hatten meine Großeltern Bauernhöfe. Nach dem Krieg haben sich dort meine Eltern ineinander verliebt und dann zu meiner Geburt ein kleines Häuschen auf der Südseite gebaut. Während der ersten sechs Jahre meiner Schulzeit ging ich Tag für Tag auf den heiligen Berg mit dem Schulranzen auf dem Rücken, weil damals die Schule noch oben auf dem Berg stand. Ich kann mir keinen schöneren Schulweg vorstellen. Zu Beginn des Tages eine gute halbe Stunde durch den Wald hinaufsteigen und am Ende des Unterrichts leichtfüßig hinunterlaufen! Die wirklich wichtigen Dinge des Lebens befinden sich dort oben auf dem Berg: die Schule, ein paar wunderbare alte Linden, die Kirche mit einer wundertätigen Madonnenstatue und den Werken alter Künstler, die Wissenschaft mit der Wetterstation, der Kramerladen mit den Gummibärchen, das Wirtshaus und der Friedhof.

Den ersten bewussten Blick von der Plattform des heiligen Berges herab werde ich nie vergessen. Damals ging ich noch nicht einmal in die Schule, vielleicht war ich vier oder fünf Jahre alt. Mein Vater sagte eines Tages vergnügt: »Komm, Monika, ich zeig dir etwas!« Er hatte ein kleines Moped, denn Autos gab es damals noch kaum in Hohenpeißenberg, und er setzte mich kurzerhand vorne drauf und knatterte mit mir die Bergstraße hinauf. Ich kann mich an das Gefühl erinnern, wie es war, so schnell den Berg hinaufzufahren. Es war ein bisschen Ängstlichkeit dabei, weil Mopedfahren für mich so neu und so schnell war. Aber vor allem war da Vertrauen, dass mir nichts passieren könne mit dem Vater im Rücken. Es war ein sehr gutes, ein herrliches Gefühl. Wie fliegen! Ich juchzte!

Oben auf dem Berg angekommen, nahm der Vater mich an der Hand und ging zu dem Platz an der Hofmauer, wo noch heute die großen Linden stehen. Er hob mich hoch und stellte mich vor sich hin auf die Mauer, damit ich sehen konnte. Mein Vater hat nie viele Worte gemacht. So wird er auch in diesem Augenblick nicht viel gesagt haben. Vielleicht hat er nach einer Weile gesagt, dass es dort hinter den Bergen, hinter den Alpen noch weitergeht. Dass dort im Süden Italien ist und im Westen Frankreich, wo er im Krieg und in der Gefangenschaft war. Aber vom Krieg hat er gewiss nichts erzählt in diesem Augenblick. Wir standen da und der Vater hat mir die Welt gezeigt. Denn von unserem heiligen Berg aus kann man wirklich die ganze Welt sehen. Die ganze Welt! Man sieht in alle vier Richtungen bis zum Ende des Horizonts. Ich erinnere mich ganz tief, wie groß das Staunen in dem kleinen Mädchen damals war. Natürlich habe ich diesen Eindruck zunächst wieder vergessen. Später dann, als ich anfing zu meditieren und als ich darüber nachdachte, wofür ich meinen Eltern besonders dankbar bin, da ist es mir wieder eingefallen.

Mein Vater hat mir also in gewisser Weise das »Sehen« geschenkt. Meine Mutter dagegen das »Hören«. Auch das Geschenk meiner Mutter hätte ich beinahe vergessen, wäre ich nicht zur Meditation gelangt. Während einer solchen Meditation gab uns die Zen-Meisterin die Anregung, hineinzuschauen in unseren Geist, ob wir dort nicht eine besonders kostbare Erinnerung an unsere Mutter finden könnten. Da tauchte sie plötzlich auf, die Erinnerung an das Hören der kosmischen Laute!

Meine Mutter hatte die sehr empfehlenswerte und gesunde Angewohnheit, mittags für ein Viertelstündchen ein kleines Nickerchen zu machen. Manchmal nahm sie mich als kleines Mädchen dazu mit auf das Kanapee und umfing dann meinen kleinen Körper mit ihren Armen. Ich erinnere mich, wie geborgen es sich anfühlte, dort an ihrem stattlichen, weichen Busen zu liegen und ihren Herzschlag zu hören. Weil ich von Natur aus voller Forschungsdrang bin, versuchte ich, so zu atmen, wie sie, die Mutter, es tat. Das war gar nicht so einfach, denn meine Mutter atmete natürlich viel langsamer als ich. Ich musste also sehr tiefe, lange Atemzüge nehmen. Und da geschah es: Plötzlich hörte ich hinter dem Ticken der Uhr und hinter dem Herzpochen der Mutter noch einen anderen Ton. Der Ton war ganz tief und immerwährend. Während des Hörens fiel ich wohl in eine Art Trance und hörte sozusagen die Welt zu mir sprechen. Ohne ein Wort sprach die Welt zu mir. Mit nur einem einzigen Laut sprach die Welt zu mir. Es war eine sehr eindringliche Botschaft. Ich wurde dabei ganz leicht und weit. Mehr weiß ich nicht mehr.

Was hat das nun mit den Geschichten zu tun, die ich hier erzählen möchte? Um die Welt, die mir mein Vater gezeigt hat, noch genauer anzuschauen, bin ich weit gereist, nach Indien im Osten und nach Amerika im Westen. Im Süden bin ich bis Ägypten gekommen und im Norden bis zur Küste des Meeres. Um den einen Ton, den Gesang der Erde, besser zu verstehen, habe ich spirituelle Geschichten aus allen Teilen der Welt gesammelt. Und da ich gebeten wurde, hier von meinem heiligen Berg aus Geschichten zu erzählen, will ich das jetzt tun. Nach Jahrzehnten des Sammelns und Aufbewahrens will ich diese Ernte meines Lebens nun verwerten. Denn nur zu sammeln und zu horten um des Sammelns und Hortens willen, ist nicht sinnvoll. Ein Teil der Ernte geht sowieso verloren. Mäuse und Ratten kommen und fressen ihren Anteil. Ein anderer Teil verschimmelt vielleicht. Und wer seine Ernte nicht in die Welt hinaus verteilt, der wird am Ende gar nichts mehr haben.

Es sind alte Geschichten aus alten Zeiten, aus den alten Religionen und viele sind wohlbekannt. Wenn ich also die alten Geschichten neu erzähle, dann möge ihnen die Kraft aus der Vergangenheit innewohnen, während sie zugleich über die Vernetzung, die sich aus dem Wissen voneinander ergibt, etwas Heilsames für die Zukunft in sich bergen. Für den Einzelnen und vielleicht auch für die Gemeinschaft.

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Auch Gott lernt dazu. Man merkt das an den Verbesserungen bei der Erschaffung der Frau gegenüber der des Mannes.

Zsa Zsa Gabor (geb. 1917),
US-amerikanisch-ungarische Schauspielerin

Lilith und Adam

Zuerst war alles dunkel. Lilith wusste nicht, was es bedeutete, Augen zu haben und zu sehen. Sie tastete um sich und fühlte neben sich einen Körper. Es war Adam. Die beiden befühlten und berochen sich, sie saugten und wühlten ineinander, bis der Tag anbrach. Beim ersten Strahl der Sonne wurden ihnen die Augen geöffnet und sie sahen den Garten Eden.

Der Garten Eden zeichnete sich dadurch aus, dass es immer genug gab. Genug zu essen und genug zu trinken. Und nicht nur das. Das Essen war auch äußerst schmackhaft. Früchte, Nüsse, Gemüse, Getreide. Wenn Lilith das klare Wasser der paradiesischen Quellen trank, fühlte sie sich selbst ganz klar werden. Wenn sie Honig leckte, wurde sie selbst ganz süß. Wenn sie die weiße Milch der Gazellen trank, erwachte die Freude an eleganten Bewegungen in ihr. Wenn Lilith und Adam Wein tranken, kam ein Gefühl über sie, das war so fein und doch so stark, dass sie nicht wussten, welchen Namen sie ihm geben sollten. Lilith nannte es schließlich Ekstase. Im Garten Eden zu leben war eine einzige Wonne. In Liliths Augen war alles, was war, perfekt. Es gab nichts hinzuzuwünschen.

Von irgendwoher jedoch musste all das gekommen sein. Irgendeine unvorstellbare Kraft musste dies alles doch erschaffen haben! Die Kraft nannte sich »Jahwe« und sie zeigte sich. Jahwes Name bedeutete: »Ich bin. Ich war. Ich werde immer sein.« Wann immer Adam oder Lilith mit Jahwe sprechen wollten, sprach Jahwe auch mit ihnen. Jahwe beantwortete alle Fragen und verwirklichte jeden Gedanken. Lilith hörte Jahwe so genau zu, dass sie schon bald seinen geheimen Namen entdeckte. Von da an konnte Lilith fliegen. Das heißt, Lilith konnte sich überallhin bewegen und war frei, sich über die Gesetze von Raum und Zeit, die sie eh nicht kannte, hinwegzusetzen. Sie brauchte nur Jahwes geheimen Namen zu singen, schon war sie an jedem beliebigen Ende des Gartens.

Als Adam bemerkte, dass Lilith eine Fähigkeit entwickelt hatte, die ihm fehlte, wurde er das erste Mal in seinem Leben neidisch. Der Himmel krümmte sich unter der Last dieses neuen Gefühls und oben auf der Krümmung saßen die Verwandten des Neides. Nämlich der Geiz und der Stolz, die Gier und die Wut und die Faulheit und außerdem alle Süchte, die man sich nur vorstellen kann. Sie warteten darauf, ebenfalls Einlass zu finden.

Adam sprach zu Jahwe: »Lilith ist eine üble Gefährtin. Sie fliegt von Horizont zu Horizont und lässt mich unten sitzen. Ich will auch dort oben sein!« Als Lilith hörte, dass Adam sich über sie beschwerte, kam sie sofort herbei und flüsterte Adam den geheimen Namen ins Ohr, damit er auch fliegen könne. Adam jedoch konnte mit dem Namen nichts anfangen. In Adams Herz bewegte der geheime Name Jahwes überhaupt nichts. Und schon gar nicht konnte Adam mit dem Namen von dem einen Ende zum anderen Ende des Paradieses fliegen. Adam wurde darüber wütend und sein Herz füllte sich mit Hass anstatt mit Liebe und er hätte Lilith geschlagen, wenn sie sich nicht hinter Jahwe in Sicherheit gebracht hätte. Jahwe sagte: »Adam, wenn du frei sein möchtest und fliegen willst, musst du selbst meinen geheimen Namen finden. Mein geheimer Name ist für jeden Menschen anders. Ich habe ihn genauso in dein Herz geschrieben, wie ich ihn in Liliths Herz schrieb!«

Doch Wut und Hass hatten bereits einen Spalt gefunden und waren in den Garten eingebrochen. Adam zeigte auf seinen starken und stattlichen Körper und polterte: »Ich bin ein Mann! Ich kann es nicht ertragen, dass diese Frau klüger ist als ich! Dass sie etwas kann, was ich nicht kann! Du liebst sie gewiss mehr als mich! Ich vertraue dir nicht mehr! Wenn du mich genauso liebst wie sie, dann mach eine neue Frau für mich! Ich will mit Lilith nichts mehr zu tun haben! Sie soll verschwinden! Ich verstoße sie!«

Lilith staunte nicht schlecht. Was war nur mit Adam passiert? Der geheime Name Jahwes in ihrem Herzen jedoch bewirkte nicht nur, dass sie fliegen konnte, sondern auch, dass sie vollkommen glücklich und zufrieden war. Ob mit oder ohne Adam. So zog sie sich zurück und richtete sich hinter dem Mond ein gemütliches Zuhause ein.

Jede der alten religiösen Geschichten birgt eine Vielzahl von heilenden Aspekten. Ich glaube, dass das Verständnis der Lilith als verborgenes Element der Weiblichkeit für uns sehr bereichernd sein kann. Lilith wurde in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Welt zum Prototyp einer freien und spirituellen Frau. Sie braucht keinen Mann, um glücklich zu sein, weil sie das Glück in ihren spirituellen Erfahrungen gefunden hat. Eine solch freie Frau ist zweifellos nicht immer und überall gern gesehen. In den talmudischen Quellen aus dem 3. bis 5. Jahrhundert heißt es, Lilith wäre eine Nacht-Dämonin und würde kleine Kinder rauben und töten. Wir sehen, dass schon damals das Mittel der Verleumdung gewählt wurde, um Angst vor freien Frauen zu schüren.

Bis vor Kurzem galt es noch als Makel, wenn eine Frau keinen Mann und/oder keine Kinder hatte. Und viele Frauen quälen sich nach wie vor mit dem Gedanken, ohne Kinder ihre Bestimmung als Frau nicht erfüllt zu haben, keine »richtige« Frau zu sein. Einmal sagte eine Frau voller Bitterkeit in meiner Praxis: »Ich habe nicht einmal eine Scheidung vorzuweisen und nur ein abgetriebenes Kind!« Wir können uns an Lilith orientieren, wenn wir – aus welchen Gründen auch immer – kinderlos geblieben sind. Oder auch, wenn wir anders sind, als die konventionelle Gesellschaft uns gerne sehen möchte. Die Figur der Lilith ist uns eine Stütze, wenn wir unabhängig in unserem Denken und in unserem Verhalten sind und daher glauben, im Dunkeln zu stehen. Wenn wir in unserem Geist bereits weit vorausgeflogen sind, wenn wir Orte des Geistes kennen, zu denen uns niemand folgen kann, und wenn wir deswegen einsam sind. Lilith kann uns als verleumdete Lichtgestalt Trost und Hoffnung spenden, denn sie ist aus sich selbst heraus strahlend, aus der Verbindung mit ihrer spirituellen Quelle.

Adam und Eva

Deine neue Frau wird anders sein als Lilith«, versprach Jahwe und erschuf Eva aus einer Rippe des Adam. »Doch alles hat seinen Preis«, sprach Jahwe und deutete auf einen beliebigen Baum im Paradies. Es handelte sich um einen Apfelbaum. »Von diesem Baum hier dürft ihr von nun an nicht mehr essen!« Das war Adam ziemlich egal, denn es gab etwa hunderttausend Apfelbäume im Paradies. Die neue Frau, die später Eva, das heißt »Mutter alles Lebendigen«, genannt wurde, war fügsam. Sie ließ sich von Adam, der ja nun der ältere im Paradies war, herumkommandieren und war zunächst zufrieden, solange Adam nur freundlich und nett zu ihr war. So dauerte es nicht lange und Adam begann, sich zu langweilen, und schon bald sehnte er sich insgeheim nach Lilith zurück. Eva spürte, dass etwas nicht stimmte zwischen ihr und Adam, und fing an, an sich selbst zu zweifeln. War sie vielleicht nicht schön genug? Nicht interessant genug? Nicht leidenschaftlich genug? Oder etwa nicht klug genug? War diese Lilith, seine erste Frau, etwa klüger gewesen als sie? Und raffinierter vielleicht?

Oben auf dem von der Last gekrümmten Dach des Paradieses, wo die Verwandten des Neides schon hockten, wurde getuschelt und geschubst. Ein Spalt öffnete sich und Lüge, Tratsch und Verleumdung rutschten ungehindert ins Paradies. Schnurstracks machten sie sich auf und besetzten den verbotenen Baum. Dort warteten sie. Ihre Stunde sollte bald schlagen.

Es ist interessant, welche Personen den Garten Eden zu Beginn der Schöpfung bevölkern. Da ist zunächst Jahwe selbst, der uns als älterer Mann und Vater vorgestellt wird. Jahwe ist allmächtig und Adam ist in seiner männlichen Energie, die ja als solche immer nach der Spitze strebt, von Haus aus in einer völlig aussichtslosen Position. Er hat als Mann niemals eine Chance gegen diesen Gott. Gott ist als Allmächtiger immer der Stärkere. Schließlich fühlt sich Lilith, die anfangs Adam ebenbürtig war, auch mehr zu Gott hingezogen als zu Adam. Wie fühlt sich eine solche Situation wohl für Adam an? Fühlt er sich verraten? Ist es aus dieser Sicht nicht mehr als verständlich, dass Adam sich eine Frau wünscht, die zu ihm aufschaut und für die er der Starke sein darf, der Erste?