Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 1

Leonardo auf der Flucht

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

 

 

 

Für Maria,

die fast so stürmisch ist wie Lilly.

Der Tunnel im Keller

«Nun komm schon!» Ärgerlich drehte Lilly sich um. «Wenn du so trödelst, erwischt er uns noch.»

«Ich hänge in den Brombeeren fest», ächzte Magnus. Mit spitzen Fingern versuchte er, die Ranken von seinem T-Shirt zu lösen, ohne sich an den Stacheln zu piksen. «Warum mussten wir auch unbedingt über die Mauer klettern? Wir hätten doch einfach durch das Tor gehen können wie normale Leute.»

«Pah! Normale Leute …» Lilly pustete sich verächtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Normale Leute sind langweilig. Die erleben niemals richtige Abenteuer», sagte sie. Mit flinken Fingern half sie Magnus, sich von den Brombeerranken zu befreien. «Wenn wir durch das Tor kommen, sieht Albert uns sofort. Aber so können wir ihn überraschen.» Sie grinste bei dem Gedanken an sein erstauntes Gesicht.

Magnus runzelte die Stirn. «Überraschen? So ein Quatsch!» Er löste die letzte Ranke. Endlich war er frei. «Albert wartet doch auf uns. Er hat uns extra herbestellt. Und außerdem bist du noch nie durch das Tor gegangen. Das wäre eine Überraschung: wenn du einmal den vernünftigen Weg nehmen würdest.»

Lilly streckte ihm die Zunge raus. Magnus maulte zuerst immer herum, wenn sie irgendwo raufklettern, reinschleichen oder durchkrabbeln wollte. Am Ende kam er aber doch mit. Jedes Mal.

Magnus rieb sich die Unterarme. Sie waren voller Kratzer und roter Striemen von den Brombeerstacheln. Außerdem hatte ihn die Anstrengung in der Sommerhitze ins Schwitzen gebracht. Was für ein Stress, wenige Wochen vor den großen Ferien!

«Hat Albert dir eigentlich erzählt, worum es geht?», fragte er. «Am Telefon hat er total aufgeregt geklungen. Aber er wollte mir nicht verraten, was los ist. Weil es ein viel zu wichtiges Geheimnis ist, hat er gesagt.»

«Mehr weiß ich auch nicht», nickte Lilly. «Außer, dass ich dafür sorgen soll, dass du nicht trödelst.»

Sie griff Magnus an einem Zipfel seines T-Shirts und zerrte ihn weiter über eine üppig wuchernde Wiese mit hohen Disteln und wildem Mohn. Ihr Ziel war eine große, alte Villa. Sie war gelb gestrichen, und an vielen Stellen rankte Efeu die Wände empor. Jetzt im Sonnenschein sah alles einladend hell und freundlich aus. Aber bei Nacht musste das zweistöckige Anwesen mit seiner hohen Mauer, dem schmiedeeisernen Tor und dem fast schon dschungelartigen Garten beinahe gespenstisch wirken.

«Vielleicht hat sein Vater wieder etwas erfunden», murmelte Lilly, während ihre Augen die Fenster prüften, ob eines davon zufällig offen stand.

«Na, dann hoffe ich, dass die Erfindung ausnahmsweise funktioniert. Seine automatische Fahrradreifen-Luftdruck-Prüfmaschine hat mir jedenfalls die Reifen so prall aufgepumpt, dass sie geplatzt sind», beschwerte sich Magnus.

Aber Lilly hörte ihm gar nicht zu. Sie hatte ein Kellerfenster entdeckt, das nur locker angelehnt war. «Los!», rief sie freudig. «Da geht es rein.»

«Durch das Fenster?» Magnus blieb ruckartig stehen. «Was hast du bloß gegen Türen? Und dann noch in den Keller …» Er verdrehte die Augen.

Lilly achtete nicht auf ihn. Eilig schlich sie zu dem offenen Kellerfenster, wobei sie ständig Blicke nach oben warf, ob sie aus den darüberliegenden Etagen beobachtet wurden. Doch da war niemand. «Jetzt mach schon!», raunte sie Magnus zu und winkte ihm heftig zu, er solle ihr folgen.

«Ich will aber viel lieber zur Tür», grummelte Magnus vor sich hin, als er ihr nachtrottete.

Als er Lilly erreicht hatte, schob sie das Kellerfenster vorsichtig weiter auf. Sie steckte den Kopf hinein und ließ einen prüfenden Blick durch den Kellerraum schweifen. Alles konnte sie nicht erkennen, weil ein Haufen vollgestopfter Regale ihr die Sicht versperrte. An Gerümpel herrschte hier kein Mangel: Kartons, Kisten und Kästen stapelten sich entlang der Wände. Auf einem alten Tisch lag eine Menge Kleinkram wie Zangen mit abgebrochenem Griff, leere CD-Hüllen, ein halbfertiges Vogelhäuschen und eine Handvoll Bleistifte, die alle abgebrochen waren. Gefährlich sah es jedenfalls nicht aus. Während Magnus hinter ihr Sätze murmelte, von denen sie nur «Tür» und «besser» und «wir sollten» verstehen konnte, ließ Lilly sich mit den Füßen voran langsam in den Keller gleiten. Ein paar Sekunden später folgte ihr Magnus.

«Das wurde aber auch langsam Zeit», rief da plötzlich eine Stimme hinter einem Regal. «Fast hatte ich schon geglaubt, ihr würdet ausnahmsweise die Vordertür nehmen.»

 

Ein quietschendes Geräusch bewegte sich auf sie zu. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit im Keller gewöhnt hatten, erkannten sie, dass es von Alberts Rollstuhl stammte, der sie fröhlich begrüßte. Mit ihm war das Trio komplett.

Schon solange sie denken konnten, waren Lilly, Magnus und Albert die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Sie hatten zusammen im Sandkasten gespielt, waren Rutschen auf beiden Seiten hochgeklettert und runtergerutscht, hatten gegenseitig ihre Rekorde im Weitsprung von der Schaukel überboten, waren zusammen in den Kindergarten gegangen und besuchten nun gemeinsam die Klasse 4b der Marie-Curie-Grundschule. Albert war der kluge Kopf von den dreien. Für die Schule lernte er nie. Wenn die Lehrer einmal etwas erklärt hatten, verstand Albert das sofort und schrieb in den Klassenarbeiten automatisch gute Noten. Er interessierte sich für alles und jeden und hatte ständig neue Ideen, sodass den Kindern in ihrer ganzen Freundschaft kein einziges Mal langweilig gewesen war.

Vor drei Jahren wäre der Spaß aber fast zu Ende gewesen. Damals hatte ein rasender Autofahrer den Wagen gerammt, in dem Albert und seine Mutter zu einer Tante unterwegs gewesen waren. Er konnte sich kaum noch an den Unfall erinnern. Nur dass er im Krankenhaus aufgewacht war. Sein Vater hatte an seinem Bett gestanden und geweint. Alberts Mutter war bei dem Unfall gestorben. Er selbst hatte schwere Verletzungen. Die meisten waren gut wieder verheilt, aber sein Rückgrat war seitdem kaputt, sodass er die Beine nicht bewegen oder auch nur spüren konnte. Zuerst hatte Albert den Rollstuhl, in dem er seitdem sitzen musste, gehasst. Doch mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt. Vor ein paar Monaten war er mit seinem Vater in die alte Villa am Stadtrand gezogen, weil sie mit ein paar Umbauarbeiten besser an den Rollstuhl angepasst werden konnte als ihr früheres Haus. So gab es nun neben allen Treppen flache Rampen, und den Essensaufzug hatte Alberts Vater zu einem Fahrstuhl ummontiert. Die Schule war glücklicherweise ziemlich modern, und der Architekt hatte darauf geachtet, dass alles für Rollstuhlfahrer erreichbar war. Am meisten hatten ihm aber Lilly und Magnus geholfen: Sie fanden den Rollstuhl schon nach wenigen Wochen so normal wie eine Brille oder Inlineskates. Und wenn jemand sie bat, Albert zu beschreiben, fielen ihnen zuerst seine leuchtend grünen Augen ein.

 

Magnus fuhr sich über die zerkratzten Unterarme. Er war der kleinste der Freunde. Das passte nicht so ganz zu seinem Namen, denn «Magnus» bedeutet so viel wie «der Große». Aber erstens war Magnus noch neun Jahre alt, während die anderen beiden seit ein paar Tagen schon zehn waren. Und zweitens war er genauso groß wie sie. Außerdem war Magnus stets lieber ein bisschen vorsichtiger. Vielleicht hing das damit zusammen, dass er scheinbar wie ein Magnet Pech jeder Art anzog: Er stolperte über die winzigste Baumwurzel, trat zielsicher in jeden Hundehaufen und erwischte im Kino garantiert den einzigen Sitz, auf dem ein altes Kaugummi klebte. Doch wenn es etwas zu basteln gab, schlug seine große Stunde. Mit den Händen war er so geschickt, dass alle Kinder seiner Klasse ihm ihre kaputten Spielzeuge zur Reparatur brachten. Und bisher hatte Magnus sie alle wieder hingekriegt.

Für solche Sachen war Lilly viel zu ungeduldig. Sie stand oder saß praktisch nie still. Und auch jetzt hippelte sie von einem Fuß auf den anderen. Manchmal machte es den Eindruck, dass ihre Beine schon losliefen, bevor ihr Kopf wusste, wo sie eigentlich hin wollte. Als hätten ihre Eltern geahnt, was für ein Wirbelwind sie eines Tages werden würde, hatten sie ihr den Namen Lilith gegeben. Das kam von dem uralten Sturmdämon Lilitu und passte darum wie das Handy in die Hosentasche. Lilly selbst fand ihren Spitznamen «Lilly» viel schöner. Aber sie ertrug es tapfer, wenn Erwachsene sie mit ihrem richtigen Namen ansprachen. Hauptsache, es verlangte niemand von ihr, sich wie einebte man keine richtigen Abenteuer. Und die wollte sich das Mädchen mit den blauen Au kleine Dame zu benehmen. Denn als Dame erlegen und den langen rötlich blonden Haaren nun mal nicht entgehen lassen.

 

«Hi, Albert», sagte Lilly. Sie war ein bisschen enttäuscht, dass ihre Überraschung wohl doch nicht so überraschend war. «Ich hätte mir denken können, dass dieses Kellerfenster nicht zufällig so weit offen steht.»

«Hallo, Albert», begrüßte auch Magnus den Freund. «Musstest du uns ausgerechnet in den Keller locken? Hier, ich habe mir das Hosenbein am Fensterrahmen eingerissen.» Vorwurfsvoll streckte er sein linkes Bein vor, doch seine Freunde lächelten bloß.

«Ich habe euch ja nicht gezwungen, das Fenster zu nehmen», sagte Albert. «Aber in den Keller hätten wir auf jeden Fall gemusst. Das steht so in dem Notizbuch.»

«In welchem Notizbuch?», fragten Lilly und Magnus gleichzeitig.

«In dem hier», antwortete Albert. Er zog ein dickes, zerfleddertes Buch hinter seinem Rücken hervor. Es schien uralt zu sein. Der Umschlag war früher wohl hellgelb gewesen, aber vor lauter Dreck sah er nun eher bräunlich aus. An mehreren Stellen klaffte das Buch auseinander, als hätte jemand es dort zu weit aufgeschlagen. Einige Seiten waren locker und schauten ein Stückchen heraus.

Lilly und Magnus blickten mit großen Augen auf das Notizbuch, dann auf Albert und wieder auf das Buch. «Und darin steht, dass wir in den Keller klettern müssen?», wunderte sich Magnus.

«Nee, nicht direkt», gab Albert zu. «Am besten lest ihr mal selbst diesen Absatz hier …» Er schlug das Buch an einer Stelle auf, die er mit einem Lesezeichen markiert hatte, und reichte es Magnus. Lilly schaute über dessen Schulter. In verschnörkelter Schrift stand dort geschrieben:

«Boah, was für ein Märchenbuch», lachte Magnus. «Wo hast du das denn ausgegraben?»

«In der alten Holztruhe dahinten in der Ecke», antwortete Albert, der kein bisschen lachte. Sein Gesicht war völlig ernst. Er machte eine Drehung mit seinem Rollstuhl und fuhr auf eine Kiste zu, die mindestens ebenso alt aussah wie das Notizbuch. Dicke Eisenbänder waren über ihren Deckel gezogen, und an der Vorderseite prangten gleich drei angerostete Schlösser.

«Die stand schon hier, als mein Vater die Villa gekauft hat und wir eingezogen sind. So wie ein Haufen anderer Krempel überall in dem alten Kasten. Ich bin immer noch dabei, das alles durchzuwühlen. Ihr glaubt gar nicht, was für komisches Zeug dabei manchmal auftaucht. Aber das größte Geheimnis steckte in dieser Truhe.» Er ließ seine Hand schwer auf den Holzdeckel fallen. Eine kleine Staubwolke wirbelte in die Luft. Sie kitzelte Magnus in der Nase, sodass er niesen musste. «Den ganzen Nachmittag habe ich gestern gebraucht und buchstäblich Dutzende alter Schlüssel ausprobiert, bis diese Schlösser endlich geknackt waren», erzählte Albert. «Gefunden habe ich lauter alte Klamotten. Ich meine, so richtig alte. Wie man sie aus den Geschichtsbüchern kennt. Von Griechen, Römern, aus dem Mittelalter und so. Na ja, und dieses Notizbuch. Darin habe ich dann die Nacht über gelesen. Bis heute Vormittag. Und danach habe ich euch sofort angerufen.»

«Du glaubst, es stimmt, was da steht?», fragte Lilly. «Dass es einen geheimen Tunnel gibt, mit dem man durch die Zeit reisen kann?»

«Ich bin mir nicht sicher», sagte Albert. «Ich habe meinen Vater gefragt, was er über den vorherigen Besitzer der Villa weiß. Und er hat mir erzählt, dass es ein reicher Kauz gewesen sein soll, von dem die Leute sagen, er wäre nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Hätte manchmal erzählt, er sei mit Kleopatra, der Königin von Ägypten, zum Frühstück verabredet. Oder wie schlecht Robin Hood doch im Schachspielen sei. Und dann …»

Albert machte eine Pause. Ein schwarzer Vogel kam von draußen durch das Fenster in den Keller geflogen und setzte sich auf seine Schulter. Merlin, Alberts zahme Dohle, hatte sich im Garten ihr Mittagessen gesucht. Als Küken war er aus dem Nest gefallen, und Albert hatte den Vogel mit der Hand aufgezogen. Das hatte Merlin so gefallen, dass er seitdem bei dem Jungen geblieben war und allenfalls ab und zu kleine Ausflüge in die Gegend unternahm. Am liebsten hockte er auf einem der drei Kinder und sah neugierig zu, was sie gerade ausheckten.

«Und dann …?», drängte Magnus. Er kraulte Merlin mit einem Finger am Hinterkopf. Die Dohle spürte, wie aufgeregt der Junge war, und tippelte von einem Bein auf das andere.

«Und dann … Dann ist er verschwunden. Spurlos.» Albert sah von Magnus zu Lilly. «Die Polizei hat natürlich nach ihm gesucht. Sie glaubte an eine Entführung oder so. Aber nichts. Keine Lösegeldforderung, keine fremden Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Absolut gar nichts. Nirgendwo ein Anzeichen, was geschehen sein könnte. Weil der Mann keine Verwandten hatte, wurde die Villa schließlich zur Versteigerung freigegeben, und da hat mein Vater sie dann gekauft.»

Die Kinder schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Magnus hörte auf, Merlin zu kraulen. Der Vogel flog rüber zu Lillys Schulter und spielte mit ihren langen Haaren.

«Meinst du, er ist irgendwo in die Vergangenheit verschwunden?», überlegte das Mädchen.

«Wohl eher ‹irgendwann› als›irgendwo›», verbesserte sie Albert.

«Ach, hört auf mit dem Unsinn», beschwerte sich Magnus. Er fand die Vorstellung eines Mannes, der in der Vergangenheit verloren gegangen sein sollte, ganz schön gruselig. «Zeitmaschinen gibt es doch gar nicht. Das ist doch Quatsch.»

«Zeitmaschinen nicht», grübelte Lilly. «Aber vielleicht Zeittunnel.» So richtig glaubte sie selbst nicht daran. Doch die Sache roch nach Abenteuer. Was wäre, wenn der frühere Besitzer der Villa doch kein Spinner gewesen war? Wenn es tatsächlich einen Weg in die Vergangenheit geben würde?

«Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden», sagte Albert. Er rollte ein Stück weiter zu einer anderen Wand, an der ein riesiger, alter Schrank voller Holzwurmlöcher thronte. «Das Monstrum hier stand wie die Truhe schon bei unserem Einzug an dieser Stelle. Wenn an der Geschichte irgendetwas Wahres dran ist, dann befindet sich der geheime Zeittunnel genau hinter diesem Schrank.» Er schlug mit der flachen Hand auf das Holz. «Den müssen wir beiseiteschieben.»