Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 8

Der Tod des Pharaos

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

Alarmstufe Rot

«Zeit für deine Patrouille, Merlin!», sagte Albert bestimmt. Er drückte einen Knopf auf der Armlehne seines futuristischen Rollstuhls. Zwei rote Alarmleuchten an der Wand begannen zu blinken, als deutlich sichtbares Zeichen, dass die Verriegelung für das Kellerfenster gelöst war. Leise surrend klappte es auf. «Vergiss nicht, dass du spätestens in einer halben Stunde zurück sein musst. Also keine Trödelei unterwegs!»

Albert machte ein ernstes Gesicht. Normalerweise war er ein fröhlicher Zehnjähriger. Er spielte gerne Tischtennis, surfte mit seinem Notebook durch die Internet-Welt und genoss die Sommerferien. Besonders seit er und seine Freunde Lilly und Magnus ein neues Hobby hatten – sie reisten durch die Zeit. Gleich zu Beginn der Ferien hatte Albert im Keller der alten Villa, wo er mit seinem Vater wohnte, den Eingang zum geheimen Tunnel entdeckt, der in jede beliebige Vergangenheit führte. Und natürlich hatten die drei ihn sofort ausprobiert. Das heißt, Lilly und Magnus waren zu spannenden Abenteuern ins Damals aufgebrochen – Albert konnte blöderweise nicht mit, weil er im Rollstuhl saß und die in den meisten alten Zeiten noch nicht erfunden waren. Stattdessen versorgte Albert deshalb seine Freunde vom Keller aus mit wertvollen Infos und Tipps zu der Gegend und der Epoche, in die sie reisten, und gab acht, dass sein Vater nicht aus Versehen den Tunnel entdeckte. Denn obwohl Alberts Vater von Beruf Erfinder und deshalb ein wenig merkwürdig war, stand für die Kinder von Anfang an eines fest: Kein Erwachsener würde ihnen erlauben, ins Damals zu reisen. Nicht, wenn er ahnte, wie gefährlich das werden konnte.

«Und pass auf, dass du keinen falschen Alarm auslöst, wenn Tante Amelie, Lilly und Magnus zurückkommen!», mahnte Albert mit erhobenem Zeigefinger. Er verzog den Mund, als hätte er einen Frosch mit Fußpilz in seinem Müsli gefunden. «Du weißt, es dauert eine gute Stunde, alle Sicherheitssperren auszuschalten, wenn sie erst einmal aktiviert sind.»

Beim Gedanken an Tante Amelie musste Albert sich korrigieren. Eine Erwachsene gab es doch, die ihnen trotz aller Risiken die Zeitreisen nicht nur erlaubte, sondern sogar selbst mit Begeisterung daran teilnahm. Seine Tante Amelie, die auf Albert und die Villa aufpasste, während sein Vater einen Erfinderkongress besuchte, war womöglich noch verrückter als ihr Bruder. Nicht einmal die Begegnung mit Hermann Dubios – ein Dieb, Entführer, Schwerverbrecher und der Erzfeind der Kinder – konnte sie zurückhalten. Dieser Halunke war Lilly und Magnus nach ihrer Reise in die sagenumwobene Stadt Troja heimlich ins Jetzt gefolgt und versuchte seitdem unablässig, den Tunnel unter seine Kontrolle zu bringen, damit er in der gesamten Weltgeschichte die größten und wertvollsten Schätze zusammenklauen konnte. Mehrmals hatten die drei ihn erst im allerletzten Moment stoppen können, doch er war ihnen jedes Mal entwischt, und so drohte dem Tunnel ständig Gefahr. Deshalb hatten Albert, Lilly, Magnus und Tante Amelie nach ihrem letzten Abenteuer eine ganze Batterie von Alarmanlagen, Diebesfallen und Sicherheitssperren aufgebaut.

«Hast du das alles verstanden?», fragte Albert streng. Er sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit für Merlins Kontrollflug.

Merlin legte den Kopf schief und sah Albert eindringlich an. Natürlich hatte er ihn verstanden, er war nämlich alles andere als blöd. Lässig turnte er durch das offene Kellerfenster in den Garten. Albert sah ihm einigermaßen beruhigt nach. Er wusste, dass Merlin trotz all der technischen Vorrichtungen ihr größter Trumpf war. Wenn Dubios dort draußen tatsächlich versuchte, sich an die Villa und den Tunnel heranzuschleichen, würde Merlin ihn entdecken. Ganz sicher! Albert drückte einen zweiten Knopf, das Fenster surrte wieder zu, und die Alarmleuchten hörten auf zu blinken. Auf Merlin war Verlass!

 

Die ersten Meter durch den verwilderten Garten legte Merlin mit eingezogenem Kopf im raschen Trippelschritt zurück. Nur so konnte er unter den kreuz und quer verlaufenden unsichtbaren Laserstrahlen hindurchschlüpfen. Käme er auch nur mit einer einzigen Zehe in den Strahlengang, würde das auf der Stelle einen Großalarm auslösen. Merlin erreichte geduckt den Sperrring mit den Sprühsahne-Kanonen. Bei Dubios musste man mit allem rechnen, hatte Albert gesagt, als sie die Präzisionsspritzen montierten. Dieser Erzgauner war so gerissen, dass er es vielleicht mit einem Angriff aus der Luft probierte. Aber dann würde ihn ein regelrechtes Feuerwerk aus Butter und Sahne eindecken, ihm die Sicht nehmen und seinen Flugapparat verkleben.

Wer fliegen konnte, tat jedenfalls gut daran, die letzten Meter bis zur Villa auf dem Boden zurückzulegen. Und wer sich nicht in die Lüfte zu schwingen vermochte, kam sowieso nicht so weit. Denn bis zu der großen, dichten Hecke, die das gesamte Grundstück umgab, war jeder Quadratmeter mit einer anderen Falle gesichert. Fallgruben voller hustender Druckerpatronen, nachlaufende Reißzwecken mit Spitzen auf beiden Seiten, kitzelnde Fußschlingen, bissige Geranien mit bleistiftanspitzerscharfen Fangzähnen, würgende Gartenschläuche und unzerreißbares kletterndes Klopapier … Albert hatte dafür gesorgt, dass so ziemlich jede misslungene Erfindung seines Vaters hier draußen auf Dubios wartete. Damit es keinen Zweifel gab, dass auch wirklich niemand den Garten durchqueren konnte.

Niemand – mit Ausnahme von Merlin. Denn Merlin hatte gegenüber Dubios drei entscheidende Vorteile: Erstens war er ein unverzichtbares Mitglied im Team der Zeitreisenden. Zweitens kannte er deshalb die Lage und den Mechanismus von jeder einzelnen Falle bis ins kleinste Detail. Und drittens war Merlin ein Vogel. Eine überaus kluge Dohle sogar, die den Kindern schon aus so mancher Patsche geholfen hatte. Stolz plusterte Merlin sein Gefieder auf. Von hier an konnte er fliegen, ohne selbst mit Sahne vom Himmel geschossen zu werden. Er breitete seine Flügel aus und flatterte ein paar Meter durch die Luft, hinüber zum Kiesweg, der vom Gartentor zur Villa führte.

An einer Stelle schien der Sand ein wenig dunkler zu sein, und noch etwas anderes war merkwürdig. Aus der Entfernung sah es ein bisschen so aus, als würde sich der Kies bewegen. Merlin fächerte zum Bremsen die Schwanzfedern auf und landete elegant am Rand des Weges. Zufrieden kontrollierte er das schwarz flimmernde Hin und Her. Ameisen! Ein Heer von krabbelnden Ameisen wimmelte verwirrt über den Weg. Albert hatte den Sand mit einem Duftstoff besprüht, den sein Vater eigentlich als verführerisches Deo entwickelt hatte, der aber leider nur auf Ameisen unwiderstehlich anziehend wirkte. Merlin konnte sich noch gut daran erinnern, wie Alberts Vater beim ersten Test hüpfend und sich kratzend durch den Garten gesprungen war. Als Deo taugte der Stoff offenbar nicht viel, aber für eine Diebesschreckanlage war er hervorragend geeignet.

Drohend erhoben sechsbeinige Ameisensoldaten ihre Kiefer, als Merlins Schatten auf sie fiel. Die Dohle pickte sieben oder acht von ihnen auf. Merlin hatte zwar gerade erst sein zweites Frühstück verschlungen, aber einer kleinen Nascherei zwischendurch konnte er trotzdem nicht widerstehen. Deshalb fütterte Albert ihn auch stets gut, bevor er ihn zu einem Kontrollflug schickte. Schließlich waren die Ameisen nicht dafür da, gefressen zu werden, sondern bildeten einen wichtigen Teil dieser Dubios-Falle. Der Vogel blickte zu den Stolperdrähten, die sich kurz vor den wimmelnden Insekten über den Weg zogen. Sie waren straff gespannt. Hier war also alles in Ordnung.

PONK! Etwas knallte Merlin von oben gegen den Kopf. Erschrocken machte er einen Satz nach hinten. Gerade noch rechtzeitig. WATSCH! Eine grüne Kugel landete dort, wo er eben noch gesessen hatte. Merlin legte den Kopf schief, sodass er gleichzeitig mit einem Auge nach unten auf das Wurfgeschoss und mit dem anderen nach oben zu dem Werfer sehen konnte. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte er, wer es womit auf ihn abgesehen hatte. Im Walnussbaum, dessen Äste bis über den Weg ragten, saß ein Eichhörnchen und schleuderte wütend unreife Walnüsse auf Merlin.

Zornig krächzend flog Merlin auf. Unter normalen Umständen lebten Menschen, Dohlen und Eichhörnchen friedlich nebeneinander im Garten vor sich hin. Doch im Moment befand sich die Villa in einer Art Belagerungszustand, und mit seinem buschigen Schwanz hatte das Eichhörnchen einen Fehlalarm nach dem anderen ausgelöst. Deshalb hatten die Zeitreisenden das Eichhörnchen schweren Herzens vertreiben müssen. Natürlich verstand das Tier nicht, weshalb es nicht mehr in seinem paradiesischen Zuhause wohnen durfte, und schlich sich ständig zurück. Merlin erhob sich in die Luft, wobei er mit geschickten Manövern den anfliegenden Walnüssen auswich. Dreimal hatte er das Eichhörnchen in den vergangenen Tagen schon verscheucht. Und nun setzte er zum vierten Mal an.

Im allerletzten Moment duckte es sich aber unter dem spitzen Vogelschnabel weg. Flink, wie es nur Eichhörnchen können, sprang es den Ast entlang und jagte den Stamm des Baumes hinauf. Merlin blieb ihm dicht auf den Fersen. In rasanten Wenden, Kehren und Loopings, bei deren Anblick jeder Kunstflieger ein flaues Gefühl im Magen bekommen hätte, schraubten die beiden Tiere sich zwischen Zweigen und Blättern in die Höhe. Das Eichhörnchen hüpfte so wild von einem Ast zum nächsten, und Merlin krallte sich in besonders engen Kurven so geschickt an das Holz, dass kaum noch zu erkennen war, wer von den beiden flog und wer kletterte.

Eine schweißtreibende Minute dauerte die Jagd, bis es dem Eichhörnchen zu anstrengend wurde. Es wechselte mit einem olympiareifen Satz vom Walnussbaum zur großen Kirsche, von dort zum alten Birnbaum und hinüber zur Esche im Nachbargarten. Merlin stieß einen triumphierenden Ruf aus. Er schlug noch einmal warnend mit den Flügeln und segelte dann davon, der nächsten Etappe seiner Patrouille entgegen.

 

Nachdem im Garten alles in Ordnung war, stand nun die Straße auf Merlins Liste. Hier waren natürlich keine Fallen aufgestellt. Es wäre viel zu auffällig gewesen, wenn plötzlich vor der Villa die Autos magnetisch von den Verkehrsschildern angezogen wurden oder die Menschen unter rotierenden Gehwegplatten verschwanden. Umso sorgfältiger musste Merlin die Passanten begutachten, ob nicht einer von ihnen der getarnte Dubios war. Dieser durchtriebene Schuft war ein wahrer Meister der Verkleidung, doch den scharfen Augen der Dohle entging nichts. Auch nicht das auffällige Verhalten des Mannes mit dem großen Turban auf dem Kopf, der an der Ecke so tat, als würde er auf etwas warten. Vielleicht darauf, dass er in einem günstigen Moment über die Hecke in den Garten klettern konnte? Wegen des Turbans war sein Gesicht von oben nicht zu erkennen. Tiefer fliegen mochte Merlin jedoch nicht, weil Dubios dann gewarnt wäre, denn auch er kannte den Vogel. Also überprüfte Merlin seinen Verdacht auf eine andere Weise. Er steuerte direkt über den Mann – und ließ einen kleinen Vogelgruß fallen. Genau auf die Schulter des Mannes. Der Turban kippte zurück, als der Mann nach oben schaute und Merlin mit zusammengekniffenen Augen in einer fremden Sprache wüste Beschimpfungen nachrief. Eilig und mit einem schlechten Gewissen flatterte Merlin davon. Da hatte er wohl einen Unschuldigen erwischt. Und sehr gastfreundlich war er auch nicht gewesen. Dabei wusste Merlin als erfahrener Zeitreisender nur zu gut, wie wichtig es für Fremde war, dass sie wohlwollend aufgenommen wurden. Mit einem Taschentuch wischte der Mann sich das Malheur vom Anzug und stieg dann in das Taxi, auf das er gewartet hatte.

Merlin ließ sich am anderen Ende der Straße auf dem Absperrgitter einer kleinen Baustelle nieder. Er hechelte leicht. Diese Patrouille war mal wieder ziemlich anstrengend gewesen. Bevor er in die Villa zurückkehrte, würde er sich hier kurz ausruhen. Er wetzte seinen Schnabel an der orangefarbigen Lampe, die mitten am Tag und im prallen Sonnenschein natürlich ausgeschaltet war. Überhaupt lag die Baustelle schon die ganze Woche über verwaist da. Obwohl Merlin bei jedem Kontrollflug an ihr vorbeikam, hatte er noch nie auch nur die Nasenspitze eines Arbeiters gesehen. Als ob die orange-weißen Hütchen, das Gitter, die Lampen, das Zelt und die Schilder zum Umleiten des Verkehrs nur als Zierde aufgebaut wären. Dabei musste ab und zu jemand hier arbeiten, denn innerhalb der Absperrung gab es ein mannsbreites Loch, das senkrecht in die Erde führte.

Merlin überlegte, ob er es wagen sollte, hineinzufliegen und nachzusehen, ob dort unten vielleicht jemand war – da jaulte die Sirene los. Rote Signalraketen schossen in die Luft, und Knallfrösche knatterten, als wollten sie Silvester mitten im Sommer feiern. Die Menschen auf den Gehwegen wandten neugierig die Köpfe. Aber keiner wusste, was dieser Lärm zu bedeuten hatte. Nur Merlin. Alarm! Jemand war in den Garten gelangt und hatte den automatischen Abwehrmechanismus ausgelöst. Das konnte nur eines bedeuten – Dubios wollte in die Villa eindringen!