Wien nach dem Zweiten Weltkrieg: Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen haben die Stadt gemeinsam besetzt. Vor dem Hintergrund der Ruinen blüht der Schwarzmarkt. Einer der mysteriösesten Schieber ist Harry Lime, der Rollo Martins, einen Jugendfreund und Schriftsteller, in die österreichische Hauptstadt einlädt. Doch bei seiner Ankunft kommt er nur noch rechtzeitig zu Limes Bestattung. Dieser sei das Opfer eines Autounfalls geworden. Oder stimmt das gar nicht? Martins beginnt nachzuforschen und stellt fest, dass Harry kein harmloser Kleinganove war, sondern der Kopf einer Bande, die durch den Schmuggel von verdünntem Penicillin den Tod zahlloser Kinder in Kauf nahm. Und immer wieder kreuzt ein ominöser dritter Mann seine Wege …

 

Zsolnay E-Book

 

Graham Greene

 

Der dritte Mann

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

 

Mit einem Nachwort von Hanns Zischler

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 1950 unter dem Titel The Third Man bei William Heinemann, London.

 

 

ISBN 978-3-552-05783-8

© Verdant S.A. 1950

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: 1949 © STUDIOCANAL Films Ltd.

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Carol Reed in Bewunderung und Verehrung

gewidmet – und in Erinnerung an die vielen,

langen Wiener Nächte, die wir im »Maxim«, im

»Casanova« und im »Oriental« verbrachten.

 

 

 

Vorwort

 

 

 

Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden. Wie so viele Liebesaffären begann das Ganze an einem Esstisch und setzte sich unter vielen Kopfschmerzen an vielen Orten fort: Wien, Venedig, Ravello, London, Santa Monica.

Vermutlich tragen die meisten Romanautoren im Kopf oder in ihrem Notizbuch die ersten Ideen zu Geschichten mit sich herum, die niemals geschrieben worden sind. Manchmal überdenkt man sie nach vielen Jahren und glaubt voller Bedauern, dass sie ehedem, in einer längst dahingegangenen Zeit, gut gewesen wären. Und so hatte ich vor Jahren einen Anfangssatz auf die Klappe eines Umschlags geschrieben: »Ich hatte Harry vor einer Woche, als sein Sarg in die gefrorene Februarerde gesenkt wurde, mein letztes Lebewohl entboten, sodass ich es nicht fassen konnte, ihn in der Masse der fremden Menschen auf der Strand vorübergehen zu sehen, ohne dass er mich zu erkennen schien Ich hatte Harry ebenso wenig weiterverfolgt wie mein Held und konnte daher, als Sir Alexander Korda mich bat, für Carol Reed ein Drehbuch – einen Nachfolger für unser Kleines Herz in Not – zu schreiben, nichts weiter vorweisen als diesen Satz. Obwohl Korda ein Drehbuch über Wien zur Zeit des Viermächtestatus haben wollte, war er bereit, mich den Spuren von Harry Lime folgen zu lassen.

Es ist mir fast unmöglich, ein Drehbuch zu schreiben, ohne zunächst eine Erzählung zu schreiben. Sogar ein Film ist auf mehr als bloße Handlung angewiesen, nämlich auf ein gewisses Maß an Charakterisierung, auf Stimmung und Atmosphäre, und diese zuerst in der stumpfsinnigen Kurzschrift eines Drehbuchs einzufangen erscheint mir beinahe unmöglich. Man kann einen Effekt reproduzieren, den man in einem anderen Medium eingefangen hat, aber man bringt den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande. Man muss das Gefühl haben, auf mehr Material zurückgreifen zu können, als man braucht. Deshalb musste Der dritte Mann, obwohl nie zur Veröffentlichung vorgesehen, vor jenen offenbar unendlichen Verwandlungen von einer Fassung zur nächsten als Erzählung beginnen.

Bei diesen Fassungen arbeiteten Carol Reed und ich eng zusammen und legten, während wir einander Szenen vorspielten, täglich etliche Meter Teppich zurück. Kein Dritter nahm je an unseren Zusammenkünften teil. Im klaren Hin und Her einer Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen liegt ein ungeheurer Wert. Für den Romanautor stellt sein Roman natürlich das Beste dar, was er zu einem bestimmten Thema zu leisten vermag; er kann gar nicht anders, als viele Veränderungen übelzunehmen, die erforderlich sind, um diesen Roman in einen Film oder ein Bühnenstück zu verwandeln; doch Der dritte Mann sollte nie mehr sein als das Rohmaterial zu einem Film. Der Leser wird viele Unterschiede zwischen der Erzählung und dem Film bemerken, und er sollte sich nicht vorstellen, diese Veränderungen wären einem unwilligen Autor aufgezwungen worden: Höchstwahrscheinlich wurden sie von ihm selbst vorgeschlagen. Der Film ist sogar besser als die Erzählung, weil es sich in diesem Fall um die Endfassung der Erzählung handelt.

Einige dieser Veränderungen haben naheliegende, oberflächliche Gründe. Die Wahl eines amerikanischen anstelle eines englischen Stars brachte eine ganze Reihe von Modifikationen mit sich. So hatte Mr. Joseph Cotton durchaus nachvollziehbar Einwände gegen den Namen Rollo. Es musste ein alberner Name sein, und der Name Holley fiel mir ein, als ich mich an die lustige Gestalt des amerikanischen Dichters Thomas Holley Chivers erinnerte. Außerdem konnte man einen Amerikaner schwerlich für den bedeutenden englischen Autor Dexter halten, dessen literarische Gestalt gewisse Anklänge an das sanfte Genie von Mr. E.M. Forster zeigt. Die Verschmelzung der Persönlichkeiten wäre auch dann unmöglich gewesen, wenn Carol Reed nicht zu Recht eine ziemlich weit hergeholte, sehr viele Erklärungen erfordernde Situation moniert hätte, die einen ohnehin schon viel zu langen Film noch länger gemacht hätte. Eine weitere Nebensächlichkeit: Amerikanischen Einwänden folgend wurde Cooler durch einen Rumänen ersetzt, da wir dank der Verpflichtung von Mr. Orson Welles bereits über einen amerikanischen Schurken verfügten. (Übrigens wurde die bekannte Textstelle über Schweizer Kuckucksuhren von Mr. Welles persönlich ins Drehbuch eingefügt.)

Eine der wenigen größeren Auseinandersetzungen zwischen Carol Reed und mir betraf das Ende, und hier hat er triumphal recht behalten. Ich vertrat die Ansicht, dass ein derartiger Unterhaltungsfilm eine zu leichte Angelegenheit sei, als dass er das Gewicht eines unglücklichen Endes tragen könne. Reed seinerseits fand, dass mein Ende – so unentschieden es ohne gesprochene Worte auch war – dem Publikum, das Harry gerade hatte sterben sehen, unangenehm zynisch erscheinen musste. Ich gebe zu, ich war nur halb überzeugt; ich befürchtete, nur wenige Menschen würden während des langen Gangs der jungen Frau vom Friedhof auf ihren Plätzen ausharren, und sie würden das Kino unter dem Eindruck verlassen, das Ende sei ebenso konventionell wie meines und noch stärker in die Länge gezogen. Ich hatte Reeds Meisterschaft als Regisseur nicht genügend in Betracht gezogen, und in diesem Stadium hätte natürlich auch keiner von uns Reeds großartige Entdeckung, den Zitherspieler Mr. Anton Karas, vorausahnen können.

Die Episode, in der die Russen Anna entführen (in Wien ein durchaus möglicher Vorfall), wurde in einem ziemlich späten Stadium gestrichen. Sie war nicht zufriedenstellend in die Geschichte eingebunden und drohte, den Film in ein Propagandamachwerk zu verwandeln. Wir hatten nicht das Bedürfnis, die politischen Empfindungen der Menschen zu reizen; wir wollten sie unterhalten, ihnen ein bisschen Angst machen, sie zum Lachen bringen.

Die Wirklichkeit nämlich gab nur den Hintergrund zu einem Märchen ab; nichtsdestoweniger basiert die Geschichte der Penicillin-Schieberei auf einer Wahrheit, die umso düsterer ist, als so viele Beteiligte unschuldiger waren als Joseph Harbin. Vor kurzem ging in London ein Arzt mit zwei Freunden ins Kino, um sich den Film anzusehen. Zu seiner Überraschung bedrückte und deprimierte sie der Film, der ihm sehr gefallen hatte. Dann erzählten sie ihm, sie hätten nach Kriegsende in Wien, als sie bei der Royal Air Force waren, selbst Penicillin verkauft. Welche möglichen Folgen ihr Handeln hatte, sei ihnen nie zuvor in den Sinn gekommen.

 

 

 

Der dritte Mann

 

 

 

1

 

Man muss immer darauf gefasst sein, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Als ich Rollo Martins das erste Mal sah, fertigte ich für meine Sicherheitspolizeiakten folgende Notiz über ihn: »Unter normalen Umständen ein fröhlicher Trottel. Trinkt zu viel und macht vielleicht ein bisschen Ärger. Hebt jedes Mal, wenn eine Frau vorbeikommt, den Blick und gibt irgendeinen Kommentar von sich, aber ich habe den Eindruck, dass es ihm eigentlich eher egal ist. Ist im Grunde nie erwachsen geworden, und vielleicht erklärt das die Art, wie er Lime verehrt hat Die Formulierung »Unter normalen Umständen« schrieb ich hinein, weil ich ihn bei Harry Limes Beerdigung kennenlernte. Es war Februar, und die Totengräber hatten Bohrmaschinen verwenden müssen, um den gefrorenen Boden auf Wiens Zentralfriedhof aufzubrechen. Es war, als gäbe sich sogar die Natur alle Mühe, Lime zurückzuweisen, aber wir brachten ihn schließlich in die Grube und legten die Erde wieder auf ihn wie Ziegelsteine. Er war begraben, und Rollo Martins ging rasch weg, als wollten seine langen, schlaksigen Beine in Laufschritt verfallen, und über sein fünfunddreißig Jahre altes Gesicht liefen die Tränen eines kleinen Jungen. Rollo Martins glaubte an Freundschaft, und deshalb traf ihn, was später passierte, schwerer, als es Sie oder mich getroffen hätte (Sie, weil Sie es auf eine Illusion zurückgeführt hätten, und mich, weil mir sofort – und wie irrigerweise auch immer – eine vernünftige Erklärung eingefallen wäre). Wenn er sich mir damals nur offenbart hätte, wie viel Ärger wäre uns erspart geblieben.

Wenn Sie diese seltsame, ziemlich traurige Geschichte verstehen wollen, müssen Sie wenigstens einen Eindruck vom Hintergrund bekommen – von der zerstörten, trostlosen Stadt Wien, die von den vier Siegermächten in Zonen aufgeteilt worden war; die russische, die britische, die amerikanische und die französische Zone, Gebiete, die nur durch Anschlagtafeln markiert waren, und in der Stadtmitte, umgeben vom Ring mit seinen wuchtigen öffentlichen Gebäuden und prunkenden Statuen, die Innere Stadt unter der Kontrolle aller vier Mächte. In dieser einstmals eleganten Inneren Stadt hat abwechselnd jede Macht für jeweils einen Monat »den Vorsitz« inne, wie wir das nennen, und wird damit für die Sicherheit zuständig; wenn Sie nachts so dumm wären, Ihre österreichischen Schillinge in einem Nachtclub zu vergeuden, könnten Sie ziemlich sicher sein, die internationale Macht bei der Arbeit zu erleben – vier Militärpolizisten, von jeder Macht einen, die sich, wenn überhaupt, in der gemeinsamen Sprache ihres Feindes miteinander verständigten. Ich habe Wien zwischen den Kriegen nicht gekannt, und ich bin zu jung, um mich an das alte Wien mit seiner Strauß-Musik und seinem verlogenen, oberflächlichen Charme zu erinnern; für mich ist es einfach eine Stadt aus würdelosen Ruinen, die sich in jenem Februar in große Gletscher aus Schnee und Eis verwandelten. Die Donau war ein grauer, seichter, schlammiger Fluss, ein ganzes Stück weit weg auf der anderen Seite des zweiten Bezirks, der russischen Zone, wo, zerstört, trostlos und voller Unkraut, der Prater lag und nur das Riesenrad sich langsam über den Fundamenten von Karussells drehte, die verlassenen Mühlsteinen glichen, über dem rostenden Eisen zerstörter Panzer, die niemand weggeräumt hatte, und über dem erfrorenen Unkraut, wo der Schnee dünn war. Ich habe nicht genug Phantasie, um mir auszumalen, wie es einmal gewesen ist, so wenig wie ich mir das Hotel Sacher als etwas anderes denn ein Durchgangshotel für englische Offiziere vorstellen oder die Kärntner Straße als schicke Einkaufsgegend sehen kann anstatt als Straße, die es größtenteils nur bis auf Augenhöhe gibt, weil sie nur bis zum ersten Stock instand gesetzt ist. Das Gewehr geschultert, geht ein russischer Soldat mit einer Pelzmütze vorbei, ein paar Huren scharen sich um das American Information Office, und in den Fenstern des Alt Wien schlürfen Männer in Mänteln Ersatzkaffee. Nachts tut man gut daran, in der Inneren Stadt oder in den Zonen von drei der vier Mächte zu bleiben, obwohl die Entführungen auch dort vorkamen – ungemein sinnlose Entführungen, so erschien es uns zuweilen –, eine junge Ukrainerin ohne Pass, ein Greis, über das Alter der Nützlichkeit längst hinaus, manchmal natürlich auch der eine oder andere Techniker oder Verräter. So in etwa sah das Wien aus, in das Rollo Martins am 7. Februar des vergangenen Jahres kam. Ich habe die Affäre aus meinen Akten und aus dem, was Martins mir erzählt hat, so gut es ging rekonstruiert. Die Schilderung ist so genau, wie es mir möglich ist – ich habe mich bemüht, keine Zeile Gesprochenes zu erfinden, obwohl ich mich für Martins’ Erinnerungsvermögen nicht verbürgen kann; eine hässliche Geschichte, wenn man die junge Frau weglässt: düster, traurig und ohne Lichtblick, wenn die absurde Episode mit dem Dozenten des British Council nicht wäre.