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Roman

 

 

 

 

 

 

 

kladde | voltage

Erste Auflage: 2016

Cover: Fernando Cortés + Nastassia Yakushevic

Coverarrangement: Sarah Hunger + Stefan Lautenschläger

Gestaltung und Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg

ISBN: 978-3-945431-15-3


 

© kladde | buchverlag

Pfaffenweiler – Freiburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm und andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert, gedruckt oder sonstig vervielfältigt werden.


 

www.kladdebuchverlag.de

Prolog

 

Name:

David Miles jr., 25 Jahre

Aktueller Aufenthaltsort:

Rio de Janeiro

Zeitspanne:

3 Tage

Partner:

nein

Lohn:

$30,000

Mitwisser/Zeugen:

Unerwünscht

Denk’ dran: schnell, präzise, unauffällig. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen! Du bist unser bester Mann, wir verlassen uns auf dich. Zeig’ was du kannst. -

Er betrachtete das schwarz-weiß Bild, das er neben seinen Instruktionen in dem Umschlag gefunden hatte. Es zeigte einen jungen Mann, der am Flughafenschalter stand und anscheinend auf sein Ticket wartete. Irgendwoher kam er ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Nicht, dass es von großer Wichtigkeit gewesen wäre, ob er das Opfer kannte; am Ende waren sie sowieso alle tot. Ohne Ausnahme.

Wie immer war kein Grund angegeben. Er hatte sich nicht dafür zu interessieren, warum sein Boss irgendjemanden tot sehen wollte. Er musste einfach nur den Auftrag ausführen. 
Rio de Janeiro? Es wunderte ihn kein bisschen.

Wie jeder normale Mensch hatte dieser David Miles jr. die Flucht ergriffen, nachdem der Mordanschlag auf ihn vor zwei Wochen kläglich gescheitert war. Und jetzt, da die anderen Attentäter versagt hatten, kam er zum Einsatz. Die Eliteeinheit.

Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. Rio war weit, aber nicht weit genug.

Noch immer das Bild in der Hand, lief er in Richtung Schlafzimmer, fuhr sich dabei mit der anderen Hand durch das schwarze Haar. Auf dem Weg fischte er sein Handy aus der Tasche des Jacketts, das an einem Haken neben der Tür hing. Die Blutspritzer waren noch immer deutlich darauf zu erkennen. Er seufzte und machte sich im Hinterkopf eine Notiz, dass er das Sakko schleunigst in die Reinigung geben musste. 


Er tippte die Nummer ein. Ohne hinzusehen natürlich. Diese konnte er auswendig, denn in letzter Zeit hatte er sie oft genug gewählt. Er klemmte sich das Handy unters Ohr und öffnete mit beiden Händen den weißen Schrank, der seinem Bett gegenüber an der anderen Seite des Zimmers stand.

»Was brauchst du?«

Er lachte.

»Hallo Harvey, es freut mich ebenfalls, mal wieder etwas von dir zu hören.«

Er gab sich nicht die geringste Mühe, den Sarkasmus zu verbergen.

»Entschuldige, wie unhöflich von mir. Aber jetzt mal im Ernst, was brauchst du?«

»Wie kommst du auf die Idee, ich könnte etwas brauchen? Kann ich meinen alten Freund nicht einfach so anrufen?«

»Ich bitte dich. Du hast mich noch nie einfach mal so angerufen. Im Normalfall brauchst du immer irgendwas, wenn du meine Nummer wählst. Also was ist es diesmal?«

Er seufzte. Man konnte Harvey nichts vormachen.

»Na gut, du hast gewonnen. Ich muss nach Brasilien.«

»Brasilien? Wohin genau?«

»Rio.«

Harvey pfiff anerkennend.

»Ach du meine Güte. Deinen Job möchte ich haben. Was machst du, dass du immer so weit reisen musst?«

Er runzelte die Stirn. Wie oft hatte Harvey diese Frage gestellt und wie oft hatte er die immer gleiche Antwort gegeben? Und er war sich sicher, dass Harvey seinen Job ganz sicher nicht haben wollte, sollte er irgendwann erfahren, um was es bei seiner Arbeit wirklich ging.

»Harvey, du weißt genau, dass ich dir das nicht sagen darf. Top secret.«

»Ja, ist ja gut. Das sagst du immer. Also ein Flugticket nach Rio de Janeiro. Wie immer ohne Zollkontrolle, nehm’ ich an. Darf es sonst noch was sein?«

Harvey war nicht wirklich enttäuscht. Dafür kannte er ihn zu lange. Er war ihm vor drei Jahren als technischer Assistent, so nannten sie es zumindest, zugeteilt worden. Neue Papiere, ein Flugticket, einen neuen Namen oder wichtige Informationen – Harvey hatte alles. Und da kümmerte es sie auch nicht, dass keiner von ihnen wusste, wie das Gegenüber überhaupt aussah.

Er überlegte. Es konnte nicht schaden, sich in Rio einen weiteren Namen zuzulegen. Bei all den Drogendealern und Mafiabossen, die es überhaupt nicht leiden konnten, wenn irgendwer in ihren Gebieten Schaden anrichtete, war doppelte Vorsicht geboten. Wie die Notiz seines Chefs bereits gesagt hatte: Er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.

»Ja durchaus. Reservier’ ein Zimmer für mich in irgendeinem Hotel. Aber bitte keine billige Absteige, ja? Denk dir irgendeinen neuen Namen aus und buch’ das Zimmer für drei Tage. Ach ja und noch was, lass’ mir am besten auch gleich einen schicken Anzug liefern, ich schaffe es nicht mehr in die Reinigung.«

Für einige Sekunden herrschte Stille in der Leitung.

»Okay, ist das alles?« 


»Ich nehm’ es an.«

Er seufzte.

»Okay, na dann. Viel Spaß in Rio!«

Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, sich länger Urlaub zu nehmen. Bilder von goldgelben Stränden, kristallklarem Wasser und riesigen Palmen tauchten vor seinem inneren Auge auf, fast konnte er das Meersalz riechen, die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht spüren.

Erst jetzt nahm er das gleichmäßige Tuten an seinem Ohr wahr und ließ sein Handy in seiner Hosentasche verschwinden.

Er seufzte und wandte den Blick, der während des Gesprächs mit Harvey durch die Glaswand seines Schlafzimmers nach draußen gewandert war, wieder dem weißen Schrank zu.

Links neben dem dritten Brett von oben leuchtete ein kleiner roter Knopf.

Er betätigte ihn und der Teil, in dem seine Kleider lagen, klappte nach hinten weg. Stattdessen kamen, wie ein Fächer ausgefahren, mehrere kleine und große Metallplatten mit weichem Innenleben zum Vorschein. Jetzt wurde es interessant.

Kapitel 1

»Bist du dir sicher? Absolut sicher?«

»Oh Gott Rose, ja!«

Rose kicherte, während ich bloß zweifelnd die Stirn runzelte.

»Wenn du wirklich Recht hast, Kat, und er morgen kommt…«

Sie beendete den Satz nicht und ich verdrehte die Augen, als sie wieder kicherte wie ein kleines Mädchen.

»Warum interessiert dich das so, Rose? Er ist auch nur aus Fleisch und Blut.«

»Ach Kat, das ist doch mega aufregend! Wir hatten schon so lange keinen neuen Schüler mehr! Was meinst du, wie er aussieht?«

»Mir doch egal. Hauptsache er ist kein Arschloch.«

Meine Stimme klang monoton. Anstatt mir ihre offensichtlich empörte Miene anzusehen, steuerte ich auf meinen besten Freund zu. Er saß an unserem Stammplatz auf dem Pausenhof.

Jason fiel auf. Nicht allein wegen seines Kleidungsstils, sondern eher wegen seiner Haare. Sie waren so hellblau wie der Himmel und die vereinzelten Strähnen so dunkelblau wie der Ozean. Als ich auf diese Schule gekommen war, hatte ich mich sofort mit ihm angefreundet. Er war genauso anders, wie ich selbst.

Oh und wie anders ich noch gewesen war, als ich vor drei Jahren aus Bulgarien hierher gekommen war. Instinktiv erinnerte ich mich an den Moment, als ich mit Jason zusammen gestoßen war, nachdem ich an meinem ersten Schultag das Sekretariat verlassen hatte.

Wie dankbar bin ich ihm noch heute, weil er sich meiner angenommen hatte; mich zu meinem Klassenzimmer und auch zu allen anderen Räumen geführt hatte. Seit diesem Tag waren wir wie Pech und Schwefel und Rose gehörte mit dazu.

Über ihre mürrische Miene lachend, setzten Jason und ich uns auf eine der schwarzen Holzbänke, die rechts und links neben einem ovalen Tisch standen. Die Beschichtung war bereits schrecklich beschädigt, hier und da blätterte der Lack ab und legte das unbearbeitete Holz darunter frei. Gedankenverloren strich ich mit den Fingern über eine der tieferen Furchen, während der Wind mir eine Strähne meines langen weinroten Haares ins Gesicht wehte.

»Ihr seid so langweilig!«, beschwerte sich Rose lautstark..

Mit verschränkten Armen stand sie vor uns und fokussierte uns mit grimmigem Blick.

»Rose, warum gehst du nicht zu den Tratschtanten, um mit ihnen über den mysteriösen Neuen zu fachsimpeln?«, schlug Jason vor und hob eine Augenbraue.

Ich durchschaute ihn sofort. Es ging ihm nicht darum, dass er sich nicht mit Rose unterhalten konnte. Er wollte sie loswerden. Er wollte reden.

»Ja genau! Erzähl’ ihnen von deinen Vermutungen. Die können wenigstens was damit anfangen.«

Roses Augen verengten sich.

»Na gut, wenn ihr meint.«

Mit einer würdevollen Drehung wandte sie uns den Rücken zu und machte sich vom Acker.

Jasons Miene veränderte sich schlagartig.

Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er biss sich auf die Unterlippe, um die sich auf der rechten Seite zwei Piercings wanden wie kleine, schwarze Schlangen.

Vor einer Woche hatte seine Freundin mit ihm Schluss gemacht, weil ihr nach zweieinhalb Jahren Beziehung seine Liebe nicht mehr reichte.

Seitdem war seine Stimmung dauerhaft im Keller und in manchen Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte, sah man ihm an, dass er litt. Außerdem hatten seine Augen aufgehört zu leuchten, wenn er über sie sprach. Soweit ich wusste, war ich die einzige Person, gegenüber der er vollkommen offen war. Offen sein konnte.

»Was ist los, Jay?«

»Eine komplett bescheuerte Frage!«, dachte ich.

»Sie hat sich nicht gemeldet, Kat. Kein Sterbenswörtchen hat sie gesagt. Dabei hatte ich gehofft ... «

Er stockte.

»Oh Gott, der Arme!«, mitleidig verzog ich das Gesicht.

»Ich hatte gehofft, wir könnten noch mal miteinander über alles reden, aber anscheinend ist für sie bereits alles geklärt.«

Er tat mir wirklich leid. In den ersten Tagen nach der Trennung war er kaum ansprechbar gewesen und wenn ich ihn mir so ansah, befand er sich nur sehr langsam auf dem Weg der Besserung.

»Jay, es tut mir so leid. Aber wenn sie nun wirklich denkt, ihr hättet nichts mehr zu bereden.«

»Nichts mehr zu bereden? Kat, sie hat vom einen auf den anderen Tag Schluss gemacht, ohne irgendeinen trifftigen Grund! Wir waren zweieinhalb Jahre zusammen! Zweieinhalb Jahre! Wenn man da nichts mehr zu bereden hat, dann habe ich echt irgendwas falsch gemacht.«

Ich fragte mich, ob er seine Traurigkeit hinter der Wut verstecken wollte.

»Nein Jason, du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Wenn sie denkt, du kannst ihr nicht geben, was sie braucht, ist es doch wahrscheinlich besser, einen Schlussstrich zu ziehen, als das ihr in eurer Beziehung etwas habt, das ständig zwischen euch steht. Du hast jemanden verdient, der dich zu schätzen weiß. So wie du bist und mit allem, was du mitbringst. Und wenn sie das nicht kann, dann hat sie dich nicht verdient.«

Ich versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln, doch Jason zupfte bloß trostlos an dem Ärmel seines schwarz-weißen Patchworkhemds.

Als er antwortete, schien es mir jedoch, als hätte er mich gar nicht gehört.

»Ich habe mir vorgenommen, die Bilder wegzuwerfen oder zu verbrennen. Aber ich habe es nicht geschafft, ich habe es nicht übers Herz gebracht. Es kam mir vor, als würde ich einen Teil von mir für immer loslassen müssen.«

Mein Gott, er liebte sie so sehr. Ich wusste, dass ich die Gefühle, die in ihm tobten, nicht richtig nachvollziehen konnte, aber trotzdem griff ich über den Tisch, legte meine Hand über seine und blickte ihm in die sandbraunen Augen.

»Dafür ist es noch zu früh. Versuche nicht, sie jetzt völlig aus deinem Leben zu verbannen. Du musst zwar akzeptieren, dass es vorbei ist, aber du kannst dich trotzdem an die schönen Momente erinnern. Wenn du dir von nun an jeden Gedanken an sie verbietest, kommst du nicht weiter.«

Insgeheim wusste ich, dass weder meine Worte noch ich selbst noch irgendjemand anders ihm wirklich helfen konnten. Nur er selber konnte das.

Eine kalte Brise ließ mich erschauern und ich sah mich auf dem Pausengelände um. Die meisten Schüler begaben sich gerade zurück ins Schulgebäude. Jason und ich hatten die Klingel glatt überhört.

Ich erhob mich, wobei sich unsere Hände voneinander lösten.

»Wahrscheinlich hast du Recht, Kat«, sagte er so leise, dass ich es fast nicht verstanden hatte, und lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht.

Kapitel 2

Angewidert rümpfte er die Nase. Dieser David schien wirklich keine Mühen zu scheuen, um sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Er schnaubte verächtlich. Niemand versteckte sich vor ihm. Niemand.

Er drehte sich um und ließ den Blick schweifen. Die Lichter Rio de Janeiros leuchteten ihm entgegen. Wie ein gewaltiges Lichtermeer lag die Stadt zu seinen Füßen. Natürlich wäre er gerade viel lieber dort unten, als hier oben in den Slums, aber Auftrag blieb Auftrag.

Harvey hatte ihm ein Zimmer auf den Namen Rodrigo Sanchez reserviert. Dort entledigte er sich dort seines dunkelblauen Anzugs und zog den schwarzen an, den Harvey schon hatte liefern lassen. Schwarz war eine äußerst praktische Farbe für solche Erledigungen.

Den Audi hatte er weiter unten geparkt, sodass niemand ihn mit ihm in Verbindung bringen konnte. Geschickt knackte er mit Hilfe des Dietrichs das verrostete Vorhängeschloss, packte den Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Boden gestanden hatte, und schlich sich hinein.

Es herrschte Totenstille. Augenscheinlich war David nicht hier. Um hundertprozentig sicher sein zu können, holte er die kleine Wärmekamera aus der Tasche seines neuen Jacketts und schaltete sie ein.

Kein Schritt war zu hören, als er sich in die Mitte des Zimmers begab, die Kamera von seinem Körper weghielt und sich einmal im Kreis drehte. Der Bildschirm, auf dem nur blaue und gelbe Objekte zu sehen waren, zeigte keine Anzeichen von Leben. Zufrieden packte er das Gerät wieder ein und war gerade dabei sich mit seinen Fingern dem Lichtschalter zu nähern, als er von draußen Schritte hörte. Er hielt inne. Irgendjemand schien näher zu kommen.

Routiniert schlich er zu dem Fenster neben der Tür und warf einen Blick auf die dunkle Straße. Ein Schatten kam auf das Haus zu, das ihn im Übrigen mehr an eine Hundehütte aus rostigem Wellblech erinnerte. Die Person sah immer wieder über die Schulter zurück. Ohne Zweifel musste das die Zielperson sein.

Er lächelte und lief langsam und ohne jede Hast zur anderen Seite der Tür, wo er sich an die Wand lehnte. Im nächsten Augenblick wurde die Tür schon mit einem leisen Quietschen aufgeschoben. David hatte Verdacht geschöpft, weil die Tür, die am Boden entlang schleifte, bereits geöffnet gewesen war.

Mit ängstlichen, zögernden Schritten trat David ein und versuchte die Tür mit einem Stoß seines Fußes zu schließen. Einen kurzen Moment glaubte er noch jemanden hinter sich zu wissen, doch bevor er sich umdrehen konnte, presste ihm jemand eine Hand auf den Mund.

»Kein Wort. Sonst sind Sie sofort tot.«

Mit der anderen Hand schlug er ihn bewusstlos.

Wie sich herausstellte gab es nur zwei Zimmer. In dem, in dem er stand, befand sich ein schäbiges Bett, ein Tisch mit einem Stuhl daneben und ein Herd mit einer einzigen Herdplatte. Die Wände und der Boden bestanden teilweise aus Wellblech, ansonsten waren die nackten Betonmauern in einem Grün gestrichen, das der Farbe von menschlichem Erbrochenen ähnelte. Eine nackte Glühbirne, um die fette Fliegen summend ihre Kreise zogen, hing von der Decke, das Licht flimmerte und es stank ekelerregend.

Mit dem Kopf auf der Brust saß David auf einem brüchigen Holzstuhl und rührte sich langsam.

»Endlich sind Sie wach«, seufzte er theatralisch, »in Zukunft sollte ich wohl nicht mehr so fest zuschlagen.«

Er klappte den Koffer auf.

David ließ ein paar unverständliche Laute vernehmen.

»Halten Sie die Klappe«, schnauzte er ihn an.

Pff, als würde ihn hier irgendjemand hören.

Ein Nerv unter Davids rechtem Auge zuckte, seine Miene zeugte von reiner Panik. Er rüttelte an seinen hinter die Stuhllehne gefesselten Händen, bewegte den Kopf ruckartig von rechts nach links. Es half nichts. Natürlich nicht.

In einer fließenden Bewegung zog er das Jackett aus und rollte die Ärmel seines grauen Hemds nach oben. Dann nahm er die Waffe aus dem Koffer und legte sie neben sich auf den Tisch. Er griff nach dem Schalldämpfer und legte ihn auf die andere Seite.
 Nicht, dass er ein Schalldämpfer von großer Notwendigkeit gewesen wäre. In den Slums wurden jeden Tag Menschen erschossen; niemand würde sich über einen Schuss zur später Stunde Gedanken machen.

Trotzdem. Man kann nie vorsichtig genug sein.

Lautlos brachte er den Schalldämpfer mit einem leisen Klick an der Waffe an.

Behutsam legte er diese dann auf den Tisch und lehnte sich dagegen.

»Wir werden so vorgehen«, begann er, »ich werden Ihnen diesen Knebel jetzt abnehmen. Sie werden nicht schreien, verstanden? Ich habe noch einige Fragen. Wenn Sie sie mir wahrheitsgemäß beantworten, können Sie Ihr Leben etwas verlängern. Um drei, vier Minuten vielleicht. Haben Sie das verstanden?«, fragte er.

Eigentlich hätte er ihn sofort umbringen müssen; solche Spielchen mit Opfern waren verboten. Aber das war ihm egal. Schließlich musste er auch seinen Spaß haben.

David nickte zitternd.

Er trat vor den Stuhl und entfernte den Stofffetzen mit einer ruckartigen Bewegung. David japste nach Luft.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir – «

Er stopfte den Knebel wieder zurück in Davids Mund.

»Hatten wir nicht gesagt, dass Sie still sein sollen? Beantworten Sie nur meine Fragen, klar?«

David nickte wieder.

»Also, fangen wir an. Warum will mein Boss Sie tot sehen?«

David schluckte.

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht!«

Missbilligend schüttelte Davids Gegenüber den Kopf und langte nach der Beretta. Er liebte diese Waffe.

»Versuchen wir es nochmal. Warum soll ich Sie töten?«

»Bitte töten Sie mich nicht! Ich weiß nicht, was – «, flehte David.

Blitzschnell wurde wieder die Waffe auf ihn gerichtet, was die gewünschte Wirkung brachte.

»Ich sagte, beantworten Sie nur meine Fragen. Habe ich mich etwa unverständlich ausgedrückt oder soll ich Portugiesisch sprechen?«

David schüttelte hastig den Kopf, den angsterfüllten Blick auf die Waffe gerichtet.

Wie lange willst du noch vortäuschen, dass du nichts weißt? Dein Leben ist sowieso schon vorbei.

»Ich werde meine Frage noch ein einziges Mal wiederholen. Sollten Sie sich erneut sträuben, werde ich dich erschießen. Verstanden?«

David schwieg.

Er hörte den Schuss auf sein Knie bevor er die Kugel spürte. Er schrie auf und starrte auf das dunkle Blut, das aus der Wunde strömte.

Endlich scheint er begriffen zu haben, dass ich es ernst meinte.

Er ließ die Waffe sinken und beäugte ihn mit einem kalten Blick.

»Rede!«

Davids Atem ging stoßweise, er zitterte fürchterlich.

»Ich weiß nur, dass Ihr Boss einen großen Coup plant. Er will irgendeine Organisation ausradieren oder sich selbst unter den Nagel reißen. Ich weiß es nicht genau.«

Er runzelte die Stirn. Warum wusste David davon?

»Und was haben Sie damit zu tun?«

David schüttelte energisch den Kopf.

»Nichts! Ich weiß weder etwas über diesen Plan noch etwas darüber, was ich damit zu tun haben soll oder warum mich jemand umbringen sollte!«

Er sagte nichts, blickte David nur in die Augen. Er sagte die Wahrheit. In solchen Situationen rückten alle mit der Sprache heraus. Er kannte es nicht anders.

»Danke.«, sagte er mit gespielter Freundlichkeit, zielte auf Davids Herz und drückte ab.

Davids Kopf sackte wieder zurück auf seine Brust. Die Szenen danach liefen wie immer ab, routiniert. Er schraubte den Schalldämpfer von der Waffe, legte beides in den Koffer und verschloss ihn wieder.

Nachdem er sein Jackett angezogen hatte, das glücklicherweise sauber geblieben war, griff er nach seinem Handy und wählte Harveys Nummer. Mit dem Mobiltelefon unter dem Ohr öffnete er die provisorische Tür und warf einen letzten Blick auf David Miles jr.

»Jap.«

»Harvey. Ich habe meinen Job erledigt. Buche mir für morgen einen Rückflug.«

»Wird erledigt.«

Er legte auf und wählte die Nummer seines Chiefs. Es dauerte eine Weile, bis dieser abhob.

»Colin. Warst du erfolgreich?«

Er runzelte die Stirn.

»Wie immer. Ich bin morgen Abend zurück.« 


»Sehr gut. Wir sehen uns dann.«

Dann war die Leitung tot.

Er wollte nichts von dem erwähnen, was David ihm erzählt hatte. Er musste erst selbst einmal mit dem Gedanken klarkommen, dass sein Boss ein doppeltes Spiel spielte.

Er ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden und ging zielstrebig Richtung Audi.

Kapitel 3

Rose grinste bis über beide Ohren, als wir in der ersten Stunde auf unseren Plätzen saßen und auf Mr. Foster und den neuen Schüler warteten. Die ganze Fahrt zur Schule über hatte ich mir Roses Schwärmerei anhören müssen. Angeblich hatte Miranda, die offizielle Tratschtantenkönigin unserer Schule, ihn bereits gesehen, als sie gestern im Stadtzentrum gewesen war. Auf meine Frage hin, woher Miranda denn gewusst habe, dass es wirklich unser Neuer gewesen war, antwortete Rose schnippisch, sie hätte es einfach so gewusst.

Allein das reichte mir schon. Miranda tat alles, um irgendwie aufzufallen und sich selbst ins Rampenlicht zu rücken. Sie scharte eine Gruppe junger Unterstuflerinnen um sich, die immer wie gebannt an ihren Lippen hingen, sobald sie mit dem neuesten Insiderwissen prahlte. Umso schlimmer fand ich es, dass Rose sich langsam aber sicher dieser Gruppe anzuschließen schien und das, obwohl wir selbst schon in der Oberstufe waren.

Wenn ich so darüber nachdachte, tat der Neue mir jetzt schon leid. Falls er meiner Hoffnung entsprechend kein Frauenheld war, würde er es hier leicht haben.

Wenn er aber auch nur annähernd dem weiblichen Beuteschema entsprach - groß, gut gebaut, dunkle Haare, strahlende Augen, ein bisschen machohaft, trotzdem leidenschaftlich - , so würden höchstwahrscheinlich Miranda selbst und auch viele andere Mädchen anstatt eines Auges gleich beide Augäpfel auf ihn werfen.Und dann würde für ihn alles vorbei sein. Jason hatte mir von einer ähnlichen Geschichte erzählt.

Miranda, damals in der Mittelstufe, hatte sich vorgenommen sich einen äußerst schnuckligen Jjungen aus der Oberstufe zu angeln.

Von diesem Moment an war sie ihm überall hin gefolgt. In den Pausen, zwischen den Stunden, nach der Schule. Wo er gewesen war, war auch sie. Sie hatte ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, obwohl der Junge wohl sehr offensichtlich gezeigt hatte, dass er absolut kein Interesse an Miranda hegen würde.

Irgendwann hatte Miranda es dann kapiert und ihn endlich in Ruhe gelassen. Ich hoffte inständig, dass dem neuen Mitschüler nicht das Gleiche blühte.

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, weil Rose mir mit dem Ellbogen in die Seite stieß.

Ich blinzelte mehrmals und richtete meinen Blick auf die Tür unseres Klassenzimmers, die sich einen Spalt weit geöffnet hatte.

Wie gebannt starrten natürlich vor allem die Mädchen auf unseren Lehrer, der nun durch die Tür geschritten kam.

Fast schon wollte Rose enttäuscht seufzen, stoppte dann jedoch mitten im Luftholen.

Hinter Mr. Foster betrat ein Junge den Raum., seine Schultasche hing lässig über seine Schulter,

Man konnte förmlich hören, wie die Mädchen die Luft scharf einsogen. Wenn Rose nicht schon längst den Atem angehalten hätte, hätte sie es spätestens jetzt getan.

Er war absolut atemberaubend.

Und er war definitiv ein Frauenheld. Ich dachte mir, dass ich vielleicht nicht so oberflächlich denken sollte, aber so wie der aussah, mussten wir ihm einfach zu Füßen liegen.

Er lächelte höflich in die Klasse und es legten sich kleine Fältchen um seine grünen Augen, soweit ich das von der letzten Bank aus beurteilen konnte.

»Kat, ich schmelze gerade dahin«, flüsterte Rose mir zu, »sieh’ dir nur diese Figur an!«

Ich konnte nicht anders und musste nicken.

Er hatte wirklich einen hammer Körper: Schlank, definitiv gut gebaut, das T-Shirt spannte sich um seine Muskeln und sein Körperbau war auf eine eigene Weise extrem verführerisch.

In einem plötzlichen Anflug von Panik sah ich mich im Klassenzimmer um und mir wurde klar, dass der einzige noch freie Platz neben mir auf der anderen Seite des Ganges lag.

Oh man! Er wird so gut wie neben mir sitzen!

»Darf ich vorstellen?«, fragte Mr. Foster, nachdem er die Aufmerksamkeit der offensichtlich noch immer höchst beeindruckten Mädchen wieder auf sich gelenkt hatte.

Bist du irre?? Natürlich darfst du vorstellen! Ich will endlich seinen verdammten Namen wissen!

Das schien so gut wie jede in diesem Moment zu denken.

»Das ist Derec O‘Shea. Er ist ab heute in eurer Klasse.« 


Ernsthaft? Wer hätte das gedacht…

»Ich hoffe, ihr nehmt ihn freundlich auf und helft ihm, sich im Schulgebäude zu Recht zu finden.«

Miranda zeigte ein süffisantes Lächeln. Sie würde ihn mehr als freundlich aufnehmen.

Aus meiner Hoffnung, er würde hier ein einigermaßen friedliches mirandaloses Leben führen können, wurde also nichts.

Tja, mein Lieber, jetzt ist’s vorbei mit der Ruhe.

»Setzen Sie sich, dort hinten ist noch ein Platz frei«, dirigierte Mr. Foster Derec in den hinteren Teil des Klassenzimmers.

Seine Bewegungen waren fließend, geschmeidig, als er sich in Richtung seines Platzes aufmachte. Die Augen jedes Mädchens folgten ihm. Diese Szene sah so eingeübt, so gespielt und so verdammt lächerlich aus, dass ich kichern musste.

Dummerweise zog ich dadurch Derecs Aufmerksamkeit auf mich. Er richtete seinen Blick auf mich und ich erkannte, dass seine Augen tatsächlich in einem stechend hellen Grün strahlten.

Obwohl ich schnell wieder weg sah, erkannte ich dennoch, dass sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Na toll, wahrscheinlich hielt er mich bereits jetzt für eine neue Anhängerin.

Na, da hast du dich aber getäuscht, Bürschchen.

Ich würde mich weder von seinen unglaublichen Augen oder dem Kontrast, den sie zu seinem rabenschwarzen Haar darstellten, noch von seinem gut gebauten Körper anlocken lassen. Auf dieses Niveau würde ich mich nicht herablassen.

Derec setzte sich an seinen neuen Platz und ließ den Blick nach vorne gerichtet.

Die Stimmung im Klassenzimmer war deutlich angehoben, die Mädchen kicherten unaufhörlich und auch Rose konnte sich einen Blick zu Derec alle vier Sekunden nicht verkneifen.

»Du sabberst«, flüsterte ich ihr amüsiert zu. Sie schreckte hoch und wischte sich hektisch mit dem Handrücken über beide Mundwinkel. Fieberhaft sah sie sich um, ob irgendjemand ihren Fauxpas bemerkt hatte.

»Man, das war ein Spaß, Rose.« Ich lachte mich halb kaputt, als sie mich ansah, als ob sie mich sofort bei lebendigem Leib in der Luft zerreißen wollte. Rose zog eine Augenbraue hoch und betrachtete mich forschend. »Weißt du, was echt seltsam ist, Kat? Alle hier sind mega nervös wegen Derec. Alle außer dir. Vielleicht hat Miranda mit ihrer Vermutung doch Recht, dass du vom anderen Ufer bist.«

Ich starrte sie an. Das war nicht ihr Ernst. Seit wann kümmerte sich Rose um das was Miranda sagte?

Ich blinzelte.

Hatte sie sich bereits so verändert und Mirandas Idealen angepasst, dass es ihr völlig egal war, was man über ihre beste Freundin erzählte? Dass sie sich traute, mir das auf diese Art und Weise und in diesem Tonfall ins Gesicht zu sagen?

»Vielleicht solltest du deine beste Freundin selbst fragen und ihr dabei in die Augen sehen, bevor du dich auf irgendwelche erfundenen Geschichten von Miranda beziehst«, erwiderte ich bissig, nachdem ich erst überlegt hatte, ob ich überhaupt antworten sollte.

Roses Miene verzog sich überrascht. Hatte sie etwa gedacht, ich würde mich nicht wehren?

Nicht wissend, ob ich einen auf beleidigt machen sollte oder nicht, richtete ich meine Konzentration auf Mr. Foster, der gerade in sauberer Schrift ABRAHAM LINCOLN an die Tafel schrieb. Ach stimmt, wir befanden uns ja immer noch im Fach Amerikanische Geschichte. Ich hasste dieses Thema. Wir hatten Lincoln in der gesamten Mittelstufe durchgesprochen und so langsam hatte ich den Anschein, ich wüsste alles über ihn. Es schien, als wüsste die Schule nicht, was sie Schülern in der Oberstufe in Amerikanischer Geschichte beibringen sollte. Anscheinend kamen die nicht auf die Idee, dass es neben den alten toten Präsidenten oder dem Civil War, auch noch andere interessante Themen gab, die man behandeln könnte, z.B. wie es geschehen konnte, dass Barack Obama als erster schwarzer Präsident der USA anerkannt wurde. Oder die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Solche Themen, die sich auf die Gegenwart beziehen, würden die Schüler viel mehr fesseln. Ich war der Meinung, dass sich da niemand zu wundern brauchte, wenn bei den Klausuren nur schlechte Noten rauskamen.

»Nun meine Damen und Herren, was fällt Ihnen zu diesem Thema ein?«, fragte Mr. Foster. Natürlich herrschte ab nun absolute Ruhe in unserem Klassenzimmer. Entweder weil die meisten Angst hatten, etwas Falsches zu sagen oder weil sie schlicht und einfach keine Lust hatten, das Thema nochmal von neuem durchzukauen. Da ich nur zu gut wusste, dass man, wenn man ganze zwei Schuljahre nur über den gleichen Menschen gesprochen hatte, einfach nichts Falsches sagen konnte, tippte ich auf Letzteres.

Ich riskierte einen Blick zu Derec. Die Haarsträhne, die ihm in die Augen gefallen war, schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Mit aufmerksamem Blick sah er weiter unverwandt nach vorn. Ist er von unserem Lehrer so fasziniert oder ist es das Thema? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Abraham Lincoln zum ersten Mal behandelte.

Und ich hatte nur einen Augenblick nicht aufgepasst und schon hatte ich mich in seinem Profil verloren. In den langen Wimpern, der feinen wohlgeformten Nase und den geschwungenen Lippen.

Obendrein schien er meinen Blick bemerkt zu haben, da er den Kopf in meine Richtung drehte. Er starrte mir genau so geradewegs ins Gesicht wie ich ihm in diesem Moment, ein Lächeln umspielte seine Lippen und ich musste instinktiv zurücklächeln.

»Hey«

Ich zuckte wahrlich ein klein wenig zusammen, als ich seine Stimme hörte, weil sie so gar nicht meinen Vorstellungen entsprach.

Sie war jetzt nicht unbedingt besonders tief oder hoch, sondern lag in einem gesunden Mittelmaß.

»Hey«, begrüßte ich ihn ebenfalls flüsternd. Wenn sich Mr. ­Foster jetzt nicht laut und übertrieben deutlich geräuspert hätte, hätte ich meinen Blick erst um einiges später von ihm abgewendet.

Wir zogen gleichzeitig die Augenbrauen zusammen und drehten den Kopf wieder in Richtung Tafel.

Mr. Foster zeigte mir nur mit einem Blick seine Missbilligung.

»Nun, ich hoffe, ich habe nun Ihre vollste Aufmerksamkeit. Was können Sie mir über diesen Mann sagen?«

Es blieb weiterhin still.

Hin und wieder räusperte sich jemand, der die peinliche Stille nicht aushielt.

Ich grinste. Ich würde mich ganz sicher nicht melden, sondern beschäftigte mich dagegen mit einer losen Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen war.

»Wie lang braucht er noch, um zu kapieren, dass das hier keinen interessiert?«, flüsterte mir Rose zu.

Ich musterte sie argwöhnisch. Ich war nicht sicher, ob ich immer noch sauer auf sie war.
Ich zuckte also nur mit den Achseln, woraufhin Rose mich mit einem seltsamen Blick bedachte, den ich nicht deuten konnte.

Mr. Fosters Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Nun, fangen wir doch mit den einfacheren Sachen an. Erinnert sich irgendjemand an Lincolns House Divided Rede, in der er die Auswirkungen der Sklavenfrage auf die amerikanische Politik erneut ansprach?«

Ich sah mich um. Keiner erweckte den ernsten Anschein, über diese Frage nachzudenken.

»Jedes Haus, das in sich uneins ist, wird nicht bestehen.«

Mehrere Minuten waren vergangen, bis sich ausgerechnet Derec zu Wort meldete. Augenblicklich wandten sich alle ihm zu - was ihn nicht sonderlich beunruhigte - und Mr. Fosters Augenbrauen hoben sich überrascht.

»Ich glaube, dass diese Regierung auf Dauer nicht überleben kann, indem sie halb für die Sklaverei ist und halb für die Freiheit. Ich erwarte nicht, dass die Union aufgelöst wird; ich erwarte nicht, dass das Haus einstürzt; aber ich erwarte, dass es aufhören wird, geteilt zu sein. Es wird entweder ganz das eine oder ganz das andere sein. 16. Juni 1858.«

Ich war beeindruckt. Er hatte Lincolns Rede Wort für Wort wiedergegeben und es war recht authentisch gewesen. Manchen von uns stand tatsächlich der Mund offen.

Also hatte er dieses Thema doch schon einmal behandelt. Ganz ehrlich gesagt hatte ich ihm bei diesem Aussehen in Sachen Intelligenz nicht allzu viel zugetraut.

»Bemerkenswert. Was wissen Sie noch über Abraham Lincoln?«

Derec räusperte sich und richtete sich auf, seine Augen blitzten aufmerksam.

»Er versuchte zweimal, 1855 und 1858, einen Sitz im amerikanischen Senat zu erlangen, scheiterte jedoch. Der Wahlkampf war ihm sehr wichtig, deshalb passte er sein Auftreten den Ansichten des jeweiligen Publikums an. In Chicago, also im Norden Illinois‘, plädierte er auf die Gleichheit aller Menschen und richtete sich gegen die Vorstellungen ungleicher Rassen.

Im Süden des Landes, Charleston beispielsweise, drehte er sich aber selbst die Worte im Mund herum. Er erklärte, dass er nie die Absicht haben würde, den Schwarzen die gleichen politischen sowie sozialen Rechte wie den Weißen zuzugestehen. Wie gesagt verlor er, aber er hatte sich als gemäßigter Gegner der Sklaverei im ganzen Land einen Namen gemacht. Somit galt er als ernsthafter Kandidat der Republikaner für die nächsten Präsidentschaftswahlen.«

Jetzt klappte sogar mir die Kinnlade herunter. Hatte er sich das alles gemerkt? Ich bildete mir ein, einen kleinen Schimmer Selbstgefälligkeit in seinem Blick zu sehen.

Mr. Foster nickte zufrieden. Er schien tief beeindruckt, was ich durchaus verstand. Keiner von uns hatte es jemals geschafft, solche Informationen, ohne auch nur einmal zu stocken oder sich hilflos umzusehen, über die Lippen zu bringen.

Ob Derec bewusst war, dass Mr. Foster ihn ab jetzt genauso wie die Mädchen - nur unauffälliger - anhimmeln würde?

»Ich sehe, wir haben hier wohl einen Experten. Können Sie uns denn auch erzählen, warum Lincoln 1861 Vortragsreisen durch die Nordstaaten tätigte?«

Unsere Köpfe wanderten von unserem Lehrer zurück zu Derec, als wären wir Zuschauer, die angeregt ein Tennismatch verfolgten.

Der Neue holte tief Luft.

»Diese Reisen fanden bereits 1859 statt, Mr. Foster. Lincoln besuchte ungefähr ein Jahr die Nordstaaten um sich der Bevölkerung und den Parteifreunden vorzustellen, so wie es jeder vernünftige zukünftige Präsident getan hätte. Er wurde am 18. Mai 1860 zum Spitzenkandidaten erklärt, weil er es geschafft hatte, sich auf dem Nominierungsparteitag gegen seine Kontrahenten, William H. Seward aus New York und Simon Cameron aus Pennsylvania, durchzusetzen.«

Wieder wandten wir den Blick zu Mr. Foster.

Hatte es jemals jemanden gegeben, der es gewagt hatte, die Informationen, die er uns vermittelte, anzuzweifeln? Seine Miene war wie erstarrt. Wie würde er jetzt reagieren?

Darüber hätte ich mir keine Sorgen machen müssen, denn Derec ließ ihm dafür keine Zeit.

»Er war ein ziemlich cleverer Kerl. Indem er all diese Gegner später in sein Kabinett aufnahm, zwang er die parteiischen Gruppen zusammenzuarbeiten, anstatt gegeneinander. So schuf er eine stabile Grundlage.«

Wie erwartet reagierte Mr. Foster mit unverhohlenem Erstaunen. Wahrscheinlich hatte er in seiner ganzen Zeit als Lehrer keinen Schüler gesehen, der ihm so selbstsicher gegenüber getreten war.

Derec musterte ihn fragend und mit angehobenen Augenbrauen. Er wusste zwar genau, dass er absolut nichts Falsches gesagt hatte, wollte aber anscheinend trotzdem Bestätigung.

Erwartungsvoll richtete nun die gesamte Klasse den Blick auf unseren Lehrer.

Dessen Blick kam mir leicht verklärt vor. Dann blinzelte er mehrmals, als hätte er einen Schleier vor den Augen, der seine Sicht trübte.

»Nun ... das war natürlich richtig. Ich bin zutiefst ... beeindruckt, Derec. Wir sind wohl sehr gesegnet, wenn Sie auch in weiteren Fächern solch breites Wissen vorweisen können.«

Der Musterschüler nickte langsam und kaute dabei auf seiner Backe herum.

Langsamen Schrittes begab sich Mr. Foster wieder zurück hinter sein Pult. Der Unterricht wurde fortgesetzt und nach ein paar Minuten schaltete ich mein Gehirn ab.

Miranda tat das Gleiche und warf ungefähr alle drei Sekunden einen Blick auf Derec, der ihr genau so nett zulächelte wie mir zuvor. Ob sie das wohl als Einladung verstand? Zuzutrauen wäre es ihr. Ich verdrehte die Augen, weil mir das ganze Brimborium um Derec ziemlich auf die Nerven ging.

Bis jetzt fand ich ihn ganz in Ordnung, aber in der nächsten Zeit würde sich herausstellen, wie er wirklich drauf war.

Nachdem Mr. Foster mit so gut wie nur sich selbst über den Amtseid Lincolns, die Beschießung Fort Sumters und die grundlosen Verhaftungen von für Spione gehaltenen Personen diskutiert hatte, erlöste die Klingel uns alle und erweckte die meisten aus einer Art schläfrigen Dämmerzustands. Bevor ich durch die Tür auf Jason zuging, der bereits auf mich gewartet hatte, weil sein Unterricht offenbar früher geendet hatte, bekam ich ein Gespräch zwischen Derec und - wem sonst? - Miranda mit, in dem sie ihm anbot, ihm ein bisschen die Gegend zu zeigen. Was er antwortete, bekam ich nicht mehr mit. Viele der anderen Mädchen und auch einige, die nicht in meiner Klasse waren, standen tuschelnd in den Ecken der Gänge oder versammelten sich vor Spinden und unterhielten sich angeregt. Nicht nötig, zu erwähnen über wen.

»Kat, kommst du?«, fragte Jason neben mir.

Ich nickte ungeduldig und stiefelte neben Jason den Gang entlang.

»Dieser Kerl scheint jede Menge Aufruhr zu verursachen. Schon den ganzen Tag wuseln die Mädchen durch die Gänge wie aufgescheuchte Hühner«, stellte Jason fest und sah mich dabei fragend an. Wahrscheinlich suchte er nach irgendwelchen Zeichen, die bezeugten, dass es mir genauso ging wie allen anderen.

Genervt verzog ich das Gesicht.

»Ja, das habe ich mitbekommen. Du hättest sehen sollen, wie Miranda ihn die ganze Stunde über angestarrt hat. Als würde sie ihn gleich verschlingen oder so.«

Jason grinste.

»Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um ihn, oder? Er ist ganz sicher an sowas gewöhnt.«

»Natürlich ist er das. Hast du ihn dir schon mal angesehen? Er sieht aus wie ... wie ... ach keine Ahnung. Es tut mir nur leid, dass er ab jetzt Miranda an der Backe hat.«

»Also machst du dir nun Sorgen oder hast du Mitleid mit ihm?«

Ungläubig starrte ich ihn an. Was dachte er eigentlich von mir?

»Nichts von beidem! Du kannst dir nicht vorstellen, wie egal mir das ist. Wer mir aber wirklich Sorgen macht, ist Rose.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen und ließ den Blick über die umher eilenden Schüler gleiten. Jason rückte seine Schultasche zurecht und wir bogen um die nächste Ecke.

»Warum Rose? Ist sie Derec auch schon verfallen? Das wundert dich hoffentlich nicht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, tut es nicht. Wir wissen beide, dass sie sich in so gut wie jeden gut aussehenden Jungen verliebt. Aber Rose begibt sich in letzter Zeit sehr oft in Mirandas Nähe und das ist es, was mich beunruhigt. Normalerweise hält sie genauso wenig von ihr wie ich, aber momentan scheinen sie die besten Freunde zu sein. Sie glaubt sogar Dinge, die Miranda über mich erzählt!«

Ich spürte, wie sich die Aufregung in meinem Körper anstaute und hoffte inständig, dass Rose nicht so naiv war und sich lange mit Miranda abgab. Jason hob entrüstet die Augenbrauen, offensichtlich war er genauso entsetzt wie ich.

»Ist das dein Ernst? Rose und Miranda? Das ist ja völlig absurd.«

»Leider stimmt es aber. Ich werde nicht zulassen, dass Miranda sie ganz auf ihre Seite zieht, glaub mir«, erwiderte ich entschlossen und das meinte ich auch vollkommen ernst. Ich würde Rose, ganz egal wie, davon abhalten, Mirandas Lügenmärchen zu glauben. Ich schluckte und Jason schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

»Was hältst du eigentlich von ihm? Bist du genauso beeindruckt wie die anderen?«, fragte er anschließend. Hatte ich nicht gerade gesagt, es war mir egal? Ugh.

»Was heißt beeindruckt ... auf den ersten Blick scheint er ganz nett zu sein. Aber wie gesagt, nur auf den Ersten. Mal schauen wie er reagiert, wenn ihm die Mädchen in den Pausen keine ruhige Minute mehr lassen.«

Jason lachte und stimmte mir zu, bevor wir uns vor meinem nächsten Klassenzimmer trennten. Ich sah ihm noch nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war, dann wandte ich mich der geschlossenen Tür zu. Doch noch bevor ich die Hand auf die Klinke legen konnte, klang ein schrilles, künstliches Lachen an meine Ohren, das ich überall erkannt hätte. Langsam drehte ich den Kopf und warf einen Blick über die Schulter.

Einen schwarzen Ordner unter dem Arm tragend stolzierte Miranda mit Derec neben ihr auf den Klassenraum zu. Ich hatte absolut keine Lust, den beiden zu begegnen, also öffnete ich schwungvoll die Tür und setzte mich schnell auf meinen Platz.

Ich schnaufte schwer. Mit schnellen Schritten näherte ich mich der Flügeltür, durch die ich gleich in die Freiheit marschieren würde.

»Kat, warte!«

Ich stoppte abrupt und drehte ich mich um. Jason kam mit einem entschuldigenden Grinsen auf dem Gesicht auf mich zu.

Ich legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an.

»Der Nachmittagsunterricht entfällt. Ich habe mich beeilt, weil ich dich noch erwischen wollte.«

Ich nickte und wir wandten uns beide wieder der Tür zu, durch die schon unzählige Schüler das Schulgebäude verließen.

»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte ich.

Sobald ich nach draußen getreten war, sog ich gierig die frische Luft ein. So war es schon viel besser. In dieser stickigen Schule war es kaum auszuhalten.

»Ja,gerne.Danke.«

»Kein Problem.«

Normalerweise fuhr Jason selbst nach Hause, aber da sich sein Chevrolet zurzeit in Reparatur befand, wollte ich ihm die elend lange Busfahrt ersparen. Auf dem Weg zu meinem Wagen band ich meine langen Haare notdürftig zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und ließ währenddessen den Blick über den Parkplatz schweifen. Parallel zu mir und Jason, jedoch auf der anderen Seite des Parkplatzes, lief Derec gerade ebenfalls auf eine schwarze Dodge Challenger zu. Missbilligend dachte ich an all die anderen Sportwagen, die er ohne jeden Zweifel in der Garage stehen hatte. Ungefähr zeitgleich erreichten wir unser Ziel und als ich die Fahrertür meines Golfs öffnete, erwiderte Derec den Blick, den ich ihm eher unfreiwillig zugeworfen hatte. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wie konnte mich ein Blick auf diese Entfernung so aus dem Konzept werfen?

»Kat, du hörst mir überhaupt nicht zu.«

Ich schüttelte ruckartig den Kopf, blinzelte und richtete meine Augen wieder auf Jason, der mir gegenüber stand und mit den Händen ungeduldig auf das Dach trommelte.

»Entschuldige. Was hast du gesagt?«

Jason warf mir einen kritischen Blick zu.

»Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu sehen, wer deine ganze Aufmerksamkeit hat. Du hast ihn beobachtet.«

Kopfschüttelnd nahm ich im Auto Platz. »Unsinn. Ich war nur in Gedanken ganz woanders, das ist alles.«

Jason musste sich das Grinsen verkneifen, während er sich auf den Beifahrersitz rutschen ließ. Er griff nach hinten, zog den Gurt nach vorne und schnallte sich an.

Mit gerunzelter Stirn startete ich den Motor und reihte mich in die Schlange vor der Ausfahrt ein.

»Was hast du vorhin gefragt?«, fragte ich erneut. Mein Fuß schwebte über dem Gaspedal.

»Ob du Rose heute nochmal gesehen hast.«

Angeber.

Jason hatte ebenfalls einen abfälligen Blick in den Seitenspiegel geworfen.

»Dieser Kerl regt mich jetzt schon auf. Ich bin echt froh, dass du dich nicht auch so verrückt machst«, sagte er geringschätzig. Ich lachte. Darüber war ich sogar selbst froh. Ich wusste genau, wie solche Jungs tickten. Für sie waren Mädchen nicht mehr als Trophäen in ihrem Schrank und sie wechselten ihre Freundinnen wie andere ihre Klamotten.

»Kat?«

»Hmm?«

Ich riskierte einen schnellen fragenden Blick zu Jason, nachdem ich um die Ecke gebogen war. Vor uns lag eine lange gerade Straße.

»Ich glaube nicht, dass sich Rose nur an Miranda gewandt hat, um an Derec ranzukommen. Dafür würde sie Miranda nicht brauchen.«

Ich nickte. Er hatte Recht.

»Stimmt. Rose ist alles andere als schüchtern. Und du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Miranda irgendeine andere in Derecs Nähe lässt, wenn sie selbst ein Auge auf ihn geworfen hat, oder? Das müsste Rose auch wissen. Dass sie keine Chance hat, meine ich. Also was will sie dann von ihr?«

Ich legte die Stirn in Falten und versuchte erfolglos mich auf die Straße zu konzentrieren. Auf Jasons Antwort wartend, trommelte ich mit den Fingern auf dem Lenkrad.

»Was hat Miranda, das sie für Rose auf einmal so interessant macht?«, fragte sich Jason dann wohl mehr selbst als mich. Für meinen Geschmack hörte es sich zu sehr danach an, dass Rose ihrerseits Miranda nur ausnutzen wollte. Aber das war nicht ihre Art. Mirandas Familie war reich, ja, aber Geld hatte noch nie eine große Anziehungskraft ausgeübt, weder auf Rose noch auf mich. Hatte Miranda irgendwelche Beziehungen, die meiner besten Freundin etwas nutzen könnten? Auch das bezweifelte ich.

»Was, wenn es nur pures Interesse ist?«

Jasons einfache Frage riss mich aus dem Konzept. Nur Interesse? An wem? Miranda? Das konnte ich mir noch weniger vorstellen.

»Was? Wie meinst du das?«, hakte ich nach. Jasons Theorie wollte ich mir dennoch anhören.

»Na ja, überleg mal. Wir zerbrechen uns hier die Köpfe, welchen Nutzen Rose aus ihrer “Freundschaft” mit Miranda ziehen würde. Aber wir wissen beide, dass Rose nie irgendjemanden zu ihrem Vorteil ausnutzen würde. Was, wenn sie Miranda einfach nur ... kennenlernen will? Schließlich erzählt man sich über sie genauso viele Geschichten, wie sie selbst über andere in die Welt setzt. Könnte doch sein.«

Je mehr ich darüber nachdachte, desto plausibler schien mir diese Möglichkeit. Von allen Szenarien, die ich mir ausgemalt hatte, war dieses wohl das Wahrscheinlichste. Und Harmloseste.

Vor lauter Nachdenken wäre ich fast an Jasons Haus vorbeigefahren, aber in letzter Sekunde schaffte ich es, auf die Bremse zu treten. Erst als wir komplett standen, löste Jason seinen Gurt und legte die Hand auf die Tür.

»Wie gesagt, das erscheint mir einleuchtend. Du solltest trotzdem mit ihr reden, nur um sicher zu gehen.« Er machte sich ebenfalls Sorgen, das sah ich ihm an und ich hörte es in seiner Stimme.

Ich nickte und lächelte aufmunternd. Er hatte selbst genug um die Ohren, das wusste ich nur zu gut. Nichtsdestotrotz hatte er mir sogar geholfen, herauszufinden, was mit Rose los war. Und das wusste ich wirklich zu schätzen.