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Bürgermeister

Führungskraft zwischen Bürgerschaft, Rat und Verwaltung

Dr. David H. Gehne

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1. Auflage, 2012

epub-ISBN 978-3-415-05352-6

Print ISBN 978-3-415-04875-1

© 2012 Richard Boorberg Verlag

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Vorwort

Die politischen Repräsentanten Deutschlands haben in den letzten Jahren einiges an Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Vertrauen als Wertekategorie ist die Basis allen politischen Wirkens, und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das demokratische System und seine handelnden Akteure ist für dessen Funktionieren unabdingbar. Auf der kommunalen Ebene in Deutschland ist jedoch zu beobachten, dass die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen in der Bevölkerung eine relativ hohe Wertschätzung genießen.

Dies mag an mehreren Faktoren liegen: Eine beachtliche Kompetenzausstattung des Amtes (z. B. Chef der Verwaltung und Vorsitzender des Rates) sowie die bürgerschaftliche Wahrnehmung von gemeinhin seriöser Repräsentanz und Rechtsvertretung der Gemeinde führen im Verbund mit einem zumeist bürgernahen Auftreten zu einer stabilen politischen und gesellschaftlichen Anerkennung. Hinzu kommt als wesentliches Element die Direktwahl des Bürgermeisters. Mittlerweile wählen die Bürgerinnen und Bürger in allen Flächenländern der Bundesrepublik Deutschland ihre Bürgermeister (überwiegend auch analog die Landräte) direkt. Die Direktwahl bedeutet nicht nur ein Mehr an bürgerlichen Beteiligungsmöglichkeiten, sie verstärkt auch erheblich die Durchsetzungskraft des Bürgermeisters, der vor dem Rat mit dem Anspruch treten kann, seine Vorstellungen unter Berufung auf den Volkswillen durchzusetzen. Im Hinblick auf eine solche Gewichtung lässt sich die kommunalpolitische Entwicklung im Kräftedreieck von Bürgermeister, Rat und Verwaltung durchaus als Weg zur Dominanz des Bürgermeisters charakterisieren.

Diese Tendenz geht einher mit der Einführung von Referenden in die Gemeindeordnungen, und zwar flächendeckend. Mit den kommunalen Reformen zu verstärkter Bürgerbeteiligung (siehe hier insbesondere Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) wurde auch die Qualität der Kommunalpolitik insgesamt verbessert. Ein durch die Direktwahl gestärkter Bürgermeister kann mehr Verantwortlichkeit und Transparenz des kommunalen Entscheidungsprozesses sowie eine unmittelbare Rückkoppelung an die Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Denn die Volkswahl bedeutet einen Zuwachs an Legitimation, der mit entsprechenden Handlungserwartungen, gerade im Hinblick auf die Übernahme von Verantwortlichkeit, der Bürgerinnen und Bürger einhergeht.

Natürlich gibt es auch einige „schwarze Schafe“ unter den Bürgermeistern, deren Amtsführung als wenig gelungen bezeichnet werden darf. Aber viele Bürgermeister agieren doch erfolgreich, verfügen dabei über verwaltungsfachlichen Sachverstand, zeigen ein angemessenes Führungsverhalten und repräsentieren dazu auch noch politische Glaubwürdigkeit.

In den meisten Fällen prägen daher die hauptamtlichen Bürgermeister das lokale Geschehen und ziehen das „Licht der kommunalen Öffentlichkeit“ auf sich. Nicht zuletzt rücken sie in den Mittelpunkt der lokalen Presseberichterstattung. Dennoch finden sich kaum allgemeine Überblicksdarstellungen über Funktionen und Aufgaben der Bürgermeister, obwohl deren Amt so zentral ist für die Städte, Gemeinden und Dörfer in den deutschen Ländern. Diese Lücke schließt David H. Gehne mit seinem Buch „Bürgermeister. Führungskraft zwischen Bürgerschaft, Rat und Verwaltung“. Anschaulich und ohne regionale Einschränkung erfasst er die relevanten Sachverhalte zu diesem Themenbereich. Denn die Bedeutung des Bürgermeisters ist nicht zu unterschätzen: Schließlich tragen die Amtsträgerinnen und Amtsträger ihren Teil dazu bei, die Demokratie auf Gemeindeebene in ihrer Funktionsfähigkeit zu erhalten und manches Mal sogar zu verbessern.

Andreas Kost
Honorarprofessor für Politikwissenschaft
an der Universität Duisburg-Essen,
stellvertretender Leiter in der Landeszentrale
für politische Bildung Nordrhein-Westfalen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.     Bürgermeister in Deutschland – Was ist ein Bürgermeister und seit wann gibt es Bürgermeister?

1.1   Was ist ein Bürgermeister?

1.2   Seit wann gibt es Bürgermeister?

1.3   Regionale Traditionen in Deutschland

1.4   Zusammenfassung

2.     „Starker Mann“ oder „Grüß-Gott-August“ – Wie viel Macht hat ein Bürgermeister?

2.1   Macht – was ist das?

2.2   Die Kommunale Selbstverwaltung

2.3   Die Kommunalverwaltung – für alles zuständig?

2.4   Der Bürgermeister als Insolvenzverwalter? – Die kommunale Finanzsituation

2.5   Bürgermeister, Parteien und Mehrheiten

2.6   Der Kontakt zum Bürger

2.7   Wie viel Macht hat mein Bürgermeister?

2.8   Zusammenfassung

3.     Direktwahlen – Wie wird man Bürgermeister?

3.1   Welche Spielregeln gelten bei Bürgermeisterwahlen?

3.2   Was passiert vor der Wahl?

3.3   Was passiert am Wahltag?

3.4   Was passiert nach der Wahl?

3.5   Zusammenfassung

4.     Die üblichen Verdächtigen – Wer wird Bürgermeister?

4.1   Das soziale und berufliche Profil

4.2   Karrierewege: Kommunalpolitik, Verwaltung, Wirtschaft

4.3   Zusammenfassung

5.     Akten, Sitzungen, Händeschütteln – Welche Aufgaben hat ein Bürgermeister?

5.1   Aufgabenspektrum eines Bürgermeisters

5.2   Bürgermeister und Verwaltung

5.3   Bürgermeister und Bürgerinnen und Bürger

5.4   Bürgermeister, Rat und Parteien

5.5   Besoldung und Versorgung des Bürgermeisters

5.6   Zusammenfassung

6.     Gestalter oder Insolvenzverwalter? – Was kann ein Bürgermeister erreichen?

6.1   Herausforderungen für Kommunen

6.2   Den Wandel gestalten – Projektbeispiele aus Kommunen

6.3   Zusammenfassung

7.     Bürgermeister – Bilanz und Ausblick

7.1   Bürgermeister – eine Bilanz

7.2   Bürgermeister – Ausblick

Anhang

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Ergänzende Übersichten

Einleitung

Bürgermeister gibt es einfach überall, von Flensburg im Norden bis Garmisch im Süden, von Selfkant an der niederländischen Grenze bis Frankfurt an der Oder an der polnischen Grenze. In Deutschland gibt es über 11.000 Städte und Gemeinden und jede noch so kleine Gemeinde hat einen Bürgermeister, oder leider immer noch sehr selten, eine Bürgermeisterin.

Aber Bürgermeister ist nicht gleich Bürgermeister.1

Der Bürgermeister von Arnis in Schleswig-Holstein, der mit 285 Einwohnern kleinsten Stadt Deutschlands, ist ehrenamtlich tätig. Die wichtigste Aufgabe „seiner“ Verwaltung ist die Ausgabe von Angelscheinen für die Angelreviere an der Schlei, die in der Nähe von Kappeln in die Ostsee mündet. Alle anderen Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung werden in der nahegelegenen Stadt Kappeln erledigt. Die wichtigsten Wirtschaftszweige in Arnis sind der Tourismus und der Bootsbau. Der Bürgermeister ist Vorsitzender der Stadtvertretung und repräsentiert seine Stadt nach außen.

Völlig anders sieht das Tätigkeitsprofil des Oberbürgermeisters von München aus, gute 900 Kilometer südlich von Arnis. München ist – abgesehen von den Stadtstaaten Berlin und Hamburg – mit 1,3 Millionen Einwohnern die größte Stadt Deutschlands. Der Oberbürgermeister ist Leiter der Stadtverwaltung, die mit mehreren tausend Mitarbeitern sämtliche Aufgaben einer kreisfreien Großstadt erledigt, von A wie Abfall bis Z wie Zweitwohnungssteuer. Das Amt des Oberbürgermeisters von München kann nur noch hauptberuflich ausgeübt werden.

Bei allen Unterschieden gibt es aber auch Gemeinsamkeiten. Beide Stadtoberhäupter werden unmittelbar von der Bevölkerung gewählt. Beide sind Vorsitzende des Rates und Repräsentant ihrer Stadt, auch wenn dies in einer Stadt wie München natürlich mit deutlich mehr Terminen verbunden ist. Beide Stadtoberhäupter sind die bekanntesten Personen aus Kommunalpolitik und -verwaltung und von beiden erwarten ihre Bürgerinnen und Bürger, dass sie für sie da sind. Beim Kontakt mit der Bürgerschaft hat der Bürgermeister von Arnis gegenüber seinem Amtskollegen in München aber einen unschlagbaren Vorteil: Er kann jede Bürgerin und jeden Bürger seiner Stadt persönlich kennen lernen und ist damit wie kein anderer Politiker nah dran an den Sorgen und Wünschen der Bürgerschaft.

Diese beiden Städte sind natürlich Extrembeispiele, aber sie weisen auf die enorme Bandbreite von Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik in Deutschland hin. Zwischen diesen Polen befindet sich eine ungeheure Vielfalt an Städten und Gemeinden mit ihren ganz eigenen Bürgermeister-Typen an der Spitze.

Der Bürgermeister ist die Gallionsfigur der kommunalen Selbstverwaltung. Wenn man sich mit Bürgermeistern beschäftigt, stößt man aber auf ein Paradox: Fast jeder kennt „seinen“ Bürgermeister. Will man aber etwas über Bürgermeister im Allgemeinen wissen, findet man relativ wenige Überblicksdarstellungen.

Diese Lücke schließt das vorliegende Buch. Es ist eine breit angelegte Annäherung an Bürgermeister in Deutschland auf Grundlage der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur, eigener Recherchen und wissenschaftlicher Vorarbeiten. Es gibt zwar eine ganze Reihe an kommunalen Fallstudien, Befragungen und Analysen, deren Ergebnisse auch an geeigneten Stellen in die Darstellung einfließen werden. Diese sind aber in der Regel entweder regional begrenzt durchgeführt worden, oder decken nur einen Teilaspekt der vielfältigen Tätigkeiten von Bürgermeistern ab oder bilden die Situation nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit ab. Es gibt leider nur wenige repräsentative Studien für Deutschland, und kaum etwas zum internationalen Vergleich von Aufgaben, Rollen und Profil von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern.

An dieser Stelle klafft weiterhin eine große Forschungslücke.

Der Zugang in dieser Darstellung ist grundsätzlich nicht regional eingeschränkt sondern umfassend. Die Stadtstaaten (Berlin, Bremen/Bremerhaven und Hamburg) bleiben aber außen vor, da sie durch den Doppelcharakter als Kommune und Land anderen Rahmenbedingungen unterliegen. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, alle Facetten der ungeheuren Vielfalt von kommunaler Selbstverwaltung in Deutschland abzubilden. Das würde den Rahmen sprengen. Die Darstellung konzentriert sich daher auf die wichtigsten Themenbereiche im Zusammenhang mit diesem spannenden Amt und macht den Versuch, die Gemeinsamkeiten darzustellen, ohne die Unterschiede zu vernachlässigen, wenn sie für das jeweilige Thema von Bedeutung sind.

Alle rechtlichen Angaben in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt erarbeitet und zusammengestellt. Es wird aber um Verständnis gebeten, dass trotzdem weder eine Garantie noch juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Folgen, die auf fehlerhafte Angaben zurückgehen, übernommen werden. Verbesserungsvorschläge und Anregungen sind stets willkommen.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Nach dieser knappen Einleitung wird im ersten Kapitel zunächst geklärt, was in diesem Buch unter einem Bürgermeister verstanden wird, denn oft gibt es in einer Stadt nicht nur eine Person, die eine Amtsbezeichnung führt, in der das Wort „Bürgermeister“ vorkommt. Im zweiten Teil des ersten Kapitels wird dann ein Blick zurück auf die Ursprünge der Bürgermeister im Mittelalter geworfen. Im zweiten Kapitel wird auf der Grundlage der Kompetenzverteilung der verschiedenen Kommunalverfassungen in Deutschland im Zusammenhang mit weiteren Rahmenbedingungen die Frage nach dem Machtpotential des Bürgermeisters gestellt. Was darf ein Bürgermeister? Was kann er erreichen? Und was schränkt sein Machtpotential ein? Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, wie man eigentlich Bürgermeister wird und behandelt alle wichtigen Regeln und Rahmenbedingungen der unmittelbaren Wahl der Bürgermeister. Das vierte Kapitel stellt Sozialprofile und Karrierewege von Bürgermeistern anhand von echten Amtsinhabern vor. Im fünften Kapitel geht es um den Arbeitsalltag von Bürgermeistern. Was macht eigentlich so ein Bürgermeister den ganzen Tag? Was sind seine wichtigsten Tätigkeiten und mit wem hat er es zu tun? Im sechsten Kapitel werden fünf zentrale Herausforderungen der Kommunen vorgestellt, die einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel bewirken, dessen Folgen auf der lokalen Ebene bewältigt werden müssen. Welche Handlungsmöglichkeiten Bürgermeister und Kommunalpolitik haben, wird anhand von konkreten Projektbeispielen verdeutlicht. Am Ende der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bürgermeister wird im siebten Kapitel ein (vorläufiges) Fazit gezogen. Das Bürgermeisteramt ist für die meisten Bürgermeister heute trotz zum Teil schwieriger Rahmenbedingungen mehr Lust als Last, denn in kaum einem anderen Amt kann man so viel bewegen, wie als Bürgermeister.

Ich danke Prof. Dr. Andreas Kost von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen für sein Vertrauen und den Anstoß zu diesem Buch, meiner Lektorin, Christine Class, für ihre Geduld und die stets konstruktive Kritik und meinem Mitarbeiter, Sebastian Kurtenbach, für seine zuverlässige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

Bochum, im September 2012

David H. Gehne

 

 

 

 

  1 Wenn im Weiteren von Bürgermeistern die Rede ist, sind Bürgermeisterinnen eingeschlossen.

1.
Bürgermeister in Deutschland – Was ist ein Bürgermeister und seit wann gibt es Bürgermeister?

Es kann nur einen geben! Bei Bürgermeistern gilt diese Regel nicht in jeder Kommune; in manchen Städten gibt es mehrere Personen, die sich Bürgermeister nennen. Daher wird zu Beginn des folgenden Kapitels zunächst einmal definiert, was in diesem Buch unter einem Bürgermeister verstanden wird und dann die Frage geklärt, wie viele Bürgermeister es in Deutschland eigentlich gibt. Wie lange es Bürgermeister schon gibt, wird im zweiten Abschnitt behandelt, um abschließend einen knappen Blick auf die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland und die unterschiedlichen regionalen Traditionen zu werfen.

1.1   Was ist ein Bürgermeister?

Wollen Sie wissen, wer Ihr Bürgermeister ist? Das herauszufinden, kann doch nicht so schwierig sein. Ein Blick auf die Internetseite einer Stadt müsste eine schnelle Antwort auf diese Frage ermöglichen.

Beispiel:

Bürgermeister in Wolfsburg

Nehmen wir zum Beispiel die Stadt Wolfsburg in Niedersachsen (121.109 Einwohner, Stand: 31.12. 2009). Wolfsburg hat einen von der Bürgerschaft direkt gewählten Oberbürgermeister. Er ist oberster Repräsentant der Stadt und Leiter der Verwaltung. Die Bezeichnung Oberbürgermeister wird in der Regel nur in großen Städten geführt. Ab welcher Größe ein Verwaltungschef Oberbürgermeister genannt werden darf, unterscheidet sich aber in Deutschland je nach Land. Der Oberbürgermeister ist der erste und wichtigste Ansprechpartner der Bürgerinnen und Bürger in Wolfsburg.

Ist die Frage damit beantwortet? Nicht ganz. Sieht man sich nämlich die Struktur von Politik und Verwaltung in Wolfsburg genauer an, findet man noch drei weitere Bürgermeister. Sie werden nicht von der Bürgerschaft, sondern vom Rat aus den Mitgliedern des Hauptausschusses gewählt. Der Rat ist das andere Hauptorgan der Kommunalverwaltung und besteht aus von den Bürgern gewählten Mitgliedern. Der Hauptausschuss ist in der Regel der wichtigste Ausschuss des Rates. Diese Bürgermeister vertreten den Oberbürgermeister bei seinen repräsentativen Pflichten, die in Großstädten sehr umfangreich sein können. Auch in andern Ländern in Deutschland gibt es in großen Kommunen weitere Bürgermeister. Ihre Funktionen können aber anders gestaltet sein als in Niedersachsen. Außerdem tragen in Niedersachsen die Verwaltungschefs kleinerer Kommunen auch die Amtsbezeichnung Bürgermeister. So ist das Aufgabenspektrum des Bürgermeisters von Gifhorn (41.616 Einwohner, Stand: 31.12.2009), einer Nachbarstadt von Wolfsburg, eher mit dem eines Oberbürgermeisters zu vergleichen, und nicht mit einem der Bürgermeister von Wolfsburg. Das wirkt ziemlich unübersichtlich. Vor allem, wenn man dann noch feststellt, dass es in Wolfsburg dazu noch 16 Ortsbürgermeister in den Ortschaften gibt. Ortschaften sind Stadtteile unterhalb der Ebene der Gesamtstadt, die jeweils einen Ortsbeirat haben, der von den Bürgerinnen und Bürgern zusammen mit dem Rat gewählt wird. Der Ortsbeirat ist zuständig für die Interessenvertretung eines Ortsteils gegenüber der Gesamtstadt und hat außerdem einen begrenzten Einfluss auf die Verteilung von Haushaltsmitteln in seinem Gebiet. Der Ortsbeirat wählt als Vorsitzenden jeweils einen Ortsbürgermeister. Zusammen genommen findet man also in einer Stadt wie Wolfsburg 20 Personen, die eine Amtsbezeichnung führen, in der das Wort „Bürgermeister“ vorkommt.1

Die Antwort auf die Frage, wer denn jetzt nun der Bürgermeister ist, ist also in manchen Fällen gar nicht so einfach.

Wie viele Bürgermeister gibt es in Deutschland?

In Deutschland gibt es 11.475 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, davon 3.440 im Hauptamt und 8.035 im Ehrenamt.

In der statistischen Auswertung in Abbildung 1 sind nur die Bürgermeister berücksichtigt, die als Oberhaupt einer Stadt amtieren. Ob eine Kommune einen ehrenamtlichen oder einen hauptamtlichen Bürgermeister hat, ist in den Ländern unterschiedlich geregelt. In Nordrhein-Westfalen, Hessen und im Saarland haben alle Städte und Gemeinden eine eigene Verwaltung, gehören aber je nach ihrem Status einem Landkreis an oder sind kreisfrei. Alle Bürgermeister in diesen Ländern sind hauptamtlich tätig.

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Abbildung 1: Ehrenamtliche und hauptamtliche Bürgermeister in Deutschland nach Ländern. Quelle: Eigene Recherchen.

Anmerkung: Gebietsstand 31.12.2009, Sachsen-Anhalt 1.1.2011. Ohne Stadtstaaten, Verwaltungsspitzen der unteren Gemeindeverbände und von Ortsteilen wurden nicht berücksichtigt. Bei der Gemeindegrößenschwelle wurde die Anzahl aufgrund des Gebietsstands und der Einwohnerzahl des Bezugsjahres geschätzt. Nähere Angaben dazu in Übersicht 1 im Anhang.

Darüber hinaus gibt es je nach Land zwei Möglichkeiten, rechtlich nach haupt- oder ehrenamtlicher Gemeindespitze zu unterscheiden:

–  Mitgliedschaft in unteren Gemeindeverbänden mit ehrenamtlichen Bürgermeistern: In einem Teil der Gemeindeordnungen sind bestimmte Formen von unteren Gemeindeverbänden zwischen Gemeinde und Kreisebene definiert, die Verwaltungsaufgaben für mehrere Gemeinden übernehmen. Dazu gehören beispielsweise die Ämter in Mecklenburg-Vorpommern, die Samtgemeinden in Niedersachsen und die Verbandsgemeinden in Rheinland Pfalz (vgl. Günther/Beckmann 2008, 74 f.). Dahinter steckt die Einsicht, dass unterhalb einer bestimmten Gemeindegröße eine eigenständige Verwaltung vor Ort nicht mehr effizient zu unterhalten ist. Alternativ dazu wird in einem Teil der Gemeindeordnungen (z. B. in Schleswig-Holstein) eine Mindesteinwohnerzahl definiert, unter der eine Kommune einen ehrenamtlichen Bürgermeister und damit keine oder nur eine sehr kleine eigene Verwaltung vor Ort hat.

–  Kreisangehörige Gemeinden mit ehrenamtlichen Bürgermeistern: In den anderen Ländern gibt es unterhalb einer bestimmten Einwohnerzahl Gemeinden, die Kreisen angehören und vor Ort einen ehrenamtlichen Bürgermeister haben. Die Schwellenwerte dafür sind aber recht unterschiedlich angesetzt: In Bayern haben beispielsweise Kommunen über 5.000 Einwohner in der Regel einen hauptamtlichen Bürgermeister, in Thüringen ab 3.000 Einwohner.

Ehrenamtliche Bürgermeister haben meistens nur einen Teil der Kompetenzen von hauptamtlichen Bürgermeistern (v. a. Repräsentation und ggf. Vorsitz des Rates). Die Verwaltungsspitzen der unteren Gemeindeverbände wurden nicht berücksichtigt, da sie jeweils für mehrere Kommunen zuständig sind.

Definition

In diesem Buch geht es im Schwerpunkt um Bürgermeister, die die folgenden Eigenschaften aufweisen:

–  Sie leiten hauptberuflich die Gemeindeverwaltung einer Stadt.

–  Sie repräsentieren ihre Stadt nach außen und gegenüber der Einwohnerschaft.

–  Sie werden von der Bürgerschaft direkt gewählt.

In den folgenden Kapiteln wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit begrifflich nicht zwischen Oberbürgermeister und Bürgermeistern unterschieden. Wenn von Bürgermeistern die Rede ist, sind damit auch Oberbürgermeister gemeint, außer wenn es um Besonderheiten des Amtes in größeren Städten geht. Im Weiteren werden andere Typen von Bürgermeistern, z. B. Ortsbürgermeister, die in großen Städten repräsentative Aufgaben für einen Stadtteil erledigen oder die Verbandsgemeindebürgermeister in Rheinland-Pfalz, die Verwaltungsleiter von mehreren Gemeinden sind, nicht weiter einbezogen. Die unterschiedlichen Aufgabenprofile, die sich hinter denselben Amtsbezeichnungen verbergen können, sind in Deutschland Ausdruck der föderalen Vielfalt mit zum Teil regional sehr unterschiedlichen Traditionen der kommunalen Selbstverwaltung, auf die später noch kurz eingegangen wird (vgl. im Überblick Kost/Wehling 2010). (→ Kapitel 2)

1.2   Seit wann gibt es Bürgermeister?

Wortbedeutung

Bürgermeister, Maskulinum, „leitendes Organ einer Gemeinde (ursprünglich der Leiter der Gemeindeverwaltung)“, mittelhochdeutsch burgermeister, Maskulinum, „Vorsteher einer Stadt oder einer Dorfgemeinde“ (Köln 1258, Basel 1261).

Der Begriff Bürgermeister stammt, laut Etymologischem Wörterbuch von Gerhard Köbler, aus dem Mittelhochdeutschen und wurde ab etwa dem Jahr 1250 urkundlich erwähnt. Der Begriff Bürgermeister fand im Hochmittelalter im deutschen Sprachraum erste Verbreitung. Der Wortstamm bildet sich aus den Begriffen „Bürger“ und „Meister“. Bürger sind Bewohner einer mit besonderen Stadtrechten versehenen Stadt. Unter einem Meister wird hier neben der im Handwerk üblichen Wortbedeutung ein Vorstand oder Anführer verstanden.2

Die Ursprünge der Bürgermeister in Deutschland liegen also in den Städten des Mittelalters.

700 Jahre Bürgermeister von Recklinghausen

Die Stadt Recklinghausen, gelegen im nördlichen Ruhrgebiet, hat eine lange Ahnenreihe von Bürgermeistern. Recklinghausen erhielt im Jahr 1236 die Stadtrechte vom ihrem Landesherrn, dem Kölner Erzbischof. Die erste urkundlich belegbare Erwähnung von Bürgermeistern stammt aus dem Jahr 1305: Es waren die Herren Lambertus gen. de Herderinchusen und Everhardus gen. in Atrio. Die Reihe reicht – mit einigen Lücken versehen – bis zum heutigen Amtsinhaber Wolfgang Pantförder, der erstmals 1999 von der Bürgerschaft ins Amt gewählt worden ist.3

Was haben Lambertus, Everhardus und Wolfgang Pantförder gemeinsam?

Nicht viel, außer dass sie denselben Titel tragen, dieselbe Stadt regieren und das Rathausgebäude heutzutage nicht sehr weit von seinem historischen Ursprung entfernt steht.

Die ersten Bürgermeister von Recklinghausen übten ihr Amt kollegial aus, d. h. sie teilten sich die Verantwortung mit den Ratsmitgliedern und kontrollierten sich gegenseitig. Sie wurden von den Vertretern der Gilden für ein Jahr zusammen mit zehn Ratsmitgliedern gewählt. Ihnen zur Seite stand ein Richter als Statthalter des Landesherren. Sie waren in der Regel städtische Patrizier und übten ihr Amt ehrenamtlich aus. Es durften weder Brüder noch Vater und Sohn gleichzeitig gewählt werden. Die Kandidaten mussten verheiratet oder verwitwet und vor ihrer Wahl mindestens ein Jahr Mitglied im Rat gewesen sein (Linz 2005, 17 f.). Frauen hatten kein Wahlrecht.

Der jetzige Bürgermeister von Recklinghausen, Wolfgang Pantförder, wurde von der wahlberechtigten Bevölkerung in einer demokratischen Wahl für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt. Recklinghausen ist heute eine kreisangehörige Großstadt und hat 119.050 Einwohner (Stand: 31.12.2009). Er ist hauptamtlicher Leiter der Gemeindeverwaltung mit knapp 1.900 Beschäftigten und Vorsitzender des ebenfalls demokratisch gewählten Rates. Er hat keinen Statthalter mehr neben sich, dafür aber „über sich“ die Bezirksregierung Münster als Kommunalaufsichtsbehörde, die im Auftrag der Landesregierung die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen und der Haushaltsführung überwacht.

Die Welt der Städte des Mittelalters unterschied sich in vielerlei Hinsicht von der demokratischen Stadt im Zeitalter der Globalisierung.

Die Stadt im Mittelalter

In Recklinghausen lebten zwischen 1300 und 1500 etwa 1.500 bis 2.000 Menschen. Nach und nach hatte die Siedlung bis zur Stadtwerdung 1236 die für Freie Städte typischen Privilegien erhalten: Markt-, Münz- und Zollrecht, die Gerichtsbarkeit sowie die Wehrhoheit. Innerhalb der Stadtmauer gab es für Bürger bestimmte Freiheiten, für Bewohner der Umgebung nicht. Dort galt weiter das strikte Lehensrecht der Feudalgesellschaft mit Leibeigenschaft. Erlaubt war der Zuzug höriger Bauern aus dem Umland, die nach einem Jahr und einem Tag Aufenthalt in der Stadt das Bürgerrecht erhalten konnten („Stadtluft macht frei“). Die städtische Gesellschaft war ständisch organisiert, jeder Mann musste Mitglied einer Zunft oder Gilde sein, die Mitgliedschaft wurde in der Regel vererbt. So gab es in Recklinghausen beispielsweise die Gilden der Tuchhändler, Schneider und Bäcker, um nur einige zu nennen. Ihre Hauptaufgabe für die Stadt lag neben ihrer Rolle bei der Verwaltung der Stadt in Erhalt und Pflege der umfangreichen Verteidigungsanlagen.

Eine hauptamtliche Verwaltung der Stadt gab es nur in rudimentären Ansätzen. Die Bürgermeister, der Rat und der erzbischöfliche Statthalter wurden von einem Stadtschreiber, dem Rezeptor (Steuereintreiber) und zwei Rentmeistern (Verwalter der übrigen Einnahmen und Bauaufsicht) unterstützt (Linz 2005, 17 f.).

Freie Städte waren im Mittelalter kein flächendeckendes Phänomen. Etwa 85–90% der Einwohner des Deutschen Reiches lebten nicht in einer Stadt (Peuckert 1995, 350). Trotzdem waren freie Städte im Mittelalter wichtige Kristallisationspunkte für die Entwicklung von Handwerk, Handel und Wissenschaft und ein Gegengewicht zur Macht der Fürsten im Deutschen Reich.

Die Stadt des Mittelalters kann aber nicht als Vorbild für das moderne Verständnis kommunaler Demokratie gelten, dafür sind die Entwicklungen seit dem 19. Jahrhunderts von größerer Bedeutung, auch wenn die Wurzeln der lokalen Selbstverwaltung in Städten wie Recklinghausen tief reichen mögen (vgl. Fuchs 2010, 41 ff.).

1.3   Regionale Traditionen in Deutschland

Kommunale Selbstverwaltung ab dem 19. Jahrhundert

Infolge der Niederlage Preußens gegen den französischen Kaiser Napoleon I. zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es in verschiedenen Bereichen von Staat und Verwaltung zu tiefgreifenden Reformen. 1808 wurde die Stein-Hardenbergsche Städteordnung erlassen, die den Städten in Preußen je nach ihrer Größe bestimmte Rechte der Selbstverwaltung einräumte. Damit wurden zentralistische Entwicklungen des Absolutismus des 18. Jahrhunderts zum Teil wieder korrigiert und den Städten mehr Freiheiten gewährt, ohne dass dadurch das feudalistische Herrschaftssystem in Preußen grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Stein und Hardenberg gingen davon aus, dass mehr Freiheiten auf der Gemeindeebene die Bürger aktivieren würden. Daher erhielten die Stadtgemeinden eine begrenzte Autonomie, höhere staatliche Ebenen hatte keinen unbeschränkten Einfluss mehr auf die kommunale Ebene. Dazu kam eine gewählte Stadtverordnetenversammlung, die „(…) durch ihre Wahl die unbeschränkte Vollmacht [erhalte, der Verfasser], in allen Angelegenheiten des Gemeinwesens der Stadt die Bürgergemeinde zu vertreten, sämtliche Gemeindeangelegenheiten für sie besorgen und inbetreff des gemeinschaftlichen Vermögens (…) verbindende Erklärungen für sie abzugeben.“ (§ 108 der preußischen Städteordnung von 1808).

Die Verwaltung wurde von einem Gremium (Magistrat) geleitet, das aus ehrenamtlichen Stadtverordneten und fachlich ausgebildeten Verwaltungsbeamten zusammengesetzt war.