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Verbrecher Verlag Berlin 2016
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© Verbrecher Verlag 2016

Lektorat: Philipp Böhm
E-Book-Herstellung: Philipp Böhm
ISBN Epub: 978-3-95732-202-9
ISBN Mobipocket: 978-3-95732-203-6

Der Verlag dankt Mathilde Ramadier.

Frédéric Valin

Frédéric Valin, geboren 1982 in Wangen im Allgäu, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Dort studierte er Deutsche Literatur und Romanistik, bevor er begann, als freier Autor und Kulturveranstalter seinen Unterhalt zu verdienen. Im Verbrecher Verlag erschienen die Erzählbände »Randgruppenmitglied« (2010) und »In kleinen Städten« (2013).

Zidane ist inzwischen Trainer in Madrid. Den Platz der nationalen Fußballikone hat er einem anderen überlassen: Zla­tan Ibra­himo­vic. Der hat neulich nach einer Niederlage vor sich hingeschimpft, auf den Schiedsrichter vor allem, es fiel auch der Satz, Frankreich sei ein »Scheißland«. Zufällig stand eine Kamera in der Nähe, die die ganze Injurie aufgenommen hat. Marine Le Pen nutzte die Vorlage: Wer Frankreich für ein Scheißland halte, solle es verlassen. Einerseits freilich ein erwartbarer Satz aus dem Mund einer Rechtsextremen, andererseits aber auch beunruhigend, dass ein zufällig aufgenommenes Herumgemomper eines Fußballers eine der wichtigsten Politikerinnen des Landes zu einer öffentlichen Einschätzung veranlasst. Als würde Andrea Nahles eine Schwalbe im DFB-Pokalhalbfinale kommentieren. Solcher Quatsch wird also Anlass politischer Aktion.

In Deutschland hat das sogenannte Sommermärchen dem Patriotismus wieder einen Hauch von falscher Unschuld verliehen. Die extreme Rechte in Frankreich wird nicht einmal französische Märchen brauchen, im Gegenteil: Ihre Strategie ist es, sich gegen »die dekadenten Fußballer« zu stellen.

2017 wird wieder ein Präsident gewählt. Sollte es Marine Le Pen in eine Stichwahl mit dem extrem unbeliebten François Hollande schaffen, und die bürgerliche Rechte schlägt sich mehrheitlich auf die Seite des Front National, dann – so die Kalkulation – könnte es für Le Pen reichen. Dann wird Frankreich auf jeden Fall ein Scheißland werden.

ES IST DER 12. JULI 1998, kurz vor halb zehn, ein Vorort von Paris. 80.000 Menschen stehen in einer lauen Sommernacht und schauen auf das Stück Rasen vor ihnen. Überall auf der Welt reden Kommentatoren davon, dass heute Geschichte geschrieben werde. Es ist das Finale der WM, Frankreich gegen Brasilien.

Brasilien steht hinten drin und wartet. Den Gegner kommen lassen. Man hat einen Plan. Frankreich spielt quasi ohne Angreifer. Vorne drin steht Gui­­varc'h, der wahrscheinlich schlechteste Mittelstürmer, der je ein großes Turnier gewinnen wird. Selbst wohlmeinende Kommentatoren sagen zu seinen Qualitäten: Er läuft viel. Nach der Vorrunde haben ausschließlich Verteidiger die Tore für Frankreich gemacht, einmal Blanc, zweimal Thuram. Vorne das Elend, hinten die Not: Im Tor der Franzosen steht Bar­thez, die Knalltüte. Bei Flanken eiert er durch den Strafraum wie ein Flummi. Mit etwas Glück fällt irgendeinem der Brasilianer ein Ball auf den Kopf, und dann ab dafür. Brasilien hat Rivaldo, Ronaldo und Bebeto im Sturm, jeder von denen kann in einem hellen Moment die französische Abwehr zu einem Kranich falten. Man wartet auf eine ihrer Eingebungen.

Bis jetzt ist Frankreich, wie man heute sagt, griffiger in den Zweikämpfen, es wird nach dem Spiel viel von Wille und Einsatzbereitschaft zu lesen sein. Die einzige Großchance aber hatte Brasilien. Bis zur 27. Minute, als Frankreich zu seinem ersten Eckball kommt. Vernünftigerweise kann der eigentlich nur drei Abnehmer haben: Desailly, Lebœuf oder Thuram. Die sind zugestellt. Der Ball aber segelt an den ersten Pfosten, Zidane wuchtet sich in die Flugbahn, Kopfballtor, kurz vor der Halbzeit wird er ein zweites nachlegen. Wer darauf gewettet hat, hat genug Geld gemacht, um dieses Buch auf dem Sonnendeck seiner Jacht vor Kreta lesen zu können.

Brasilien hat jetzt nichts mehr auf der Pfanne. Ronaldo hätte nach Willen vieler Beobachter bei dieser WM seine Metamorphose vom Star zur Legende vollenden sollen; heute verkantet er sich immer wieder in der französischen Viererkette. Hinterher wird es heißen, er sei nicht fit gewesen und mit fragwürdigen Substanzen gesundgespritzt worden; andernfalls natürlich, wer weiß schon, was andernfalls geschehen wäre. Jedenfalls wird danach sehr viel über Ronaldos Knie gesprochen werden.

Das Thema verdeckt den tatsächlichen Grund für das Scheitern Brasiliens: dass nämlich der Trainer Zagallo keinen Offensivplan haben zu müssen glaubte. Den aber hätte es gebraucht, mindestens als Alternative. Verteidigung lässt sich einfacher organisieren als Angriff. Und in einem Finale in Rückstand zu geraten, ist fast schon gleichbedeutend mit einer Niederlage; das letzte Mal ein Spiel drehen konnten die Deutschen, 1974, 24 Jahre ist das her. Seither ist es nur noch einer Mannschaft gelungen; Italien 2006 gegen Frankreich. Brasilien gelingt es nicht.

Schlussendlich ist ein anderer zur Legende aufgestiegen: Zinédine Zidane. Bereits an diesem Abend verdichtet sich seine Aura ins Halbgotthafte. 2006 wird sich seine Einzigartigkeit auf dem Platz noch ein letztes Mal manifestieren. Danach wird er sich für ewig in die Geschichte des französischen Fußballs eingeschrieben haben; mehr noch: in die Geschichte Frankreichs.

Also, was im Fußball halt ›ewig‹ heißt. Ein paar Jahrzehnte auf jeden Fall.

Der Titelgewinn 1998 kommt zu einer untypischen Zeit: Gerade in Frankreich sind die 90er eine Zeit des Niedergangs, eine Epoche der lähmenden Krise. Nach Fukuyamas ›Ende der Geschichte‹ füllen Apokalypsen die Feuilletons: Der Kommunismus ist passé, die Revolution endgültig Historie, selbst die Literatur gilt als erledigt.

Das Land ist müde. Seit 1974 geht nichts mehr voran. Der Ölschock hat dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit – den ›trente glorieuses‹ – ein Ende gesetzt, seither hat sich die Wirtschaft nicht mehr erholt. Die Arbeitslosenquote stagniert seither auf plusminus zehn Prozent.

Anfang der 80er versucht sich Frankreich an einer Alternative: Die Konservativen werden abgewählt, eine sozialistisch-kommunistische Regierung kommt an die Macht. Sie hat versprochen, das Diktum der Austeritätspolitik zu durchbrechen und – zumindest vorsichtig – das Wirtschaftssystem im Sinne der Arbeitnehmer umzubauen.

Der Beginn ist vielversprechend: Große Unternehmen werden verstaatlicht, der Mindestlohn heraufgesetzt, die Zinssätze abgesenkt. Es ist die Zeit des ›état de grâce‹, des Gnadenstaates. Die Ausgaben wachsen, man hofft auf eine baldige Erholung der Weltwirtschaft.

Hilfreich wäre ein generelles Konjunkturprogramm. Aber die anderen Länder beharren auf der bisherigen Linie der strikten Kostenkontrolle. Frankreich isoliert sich mit seinem Versuch, einen anderen Weg zu finden. Es reicht nicht, dass sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt stabilisiert und der Binnenmarkt anzieht. Durch die höheren Steuern tun sich einige französische Firmen schwer im Wettbewerb. Obendrein bleibt der Dollar stark: Staats- und Außenhandelsdefizit wachsen an. Also muss der Franc abgewertet werden, dreimal zwischen 1981 und 1983.

Gleichzeitig macht die De­in­dus­tri­ali­sie­rung, das Abwracken unrentabler Industriezweige, ganze Gegenden nach und nach zu urbanen Wüsten. Im Nordosten und in Lothringen vor allem hat sie tote Städte hinterlassen.

Das Experiment scheitert endgültig, als die Finanzmärkte beginnen, gegen den Franc zu wetten. Die Währung droht endgültig zusammenzubrechen und die exportorientierte Industrie mit sich zu ziehen. Frankreich bleibt nur die Wahl zwischen kompletter Abschottung und einer Rückkehr zum Liberalismus.

Die Sozialisten optieren für Zweiteres, die Kommunisten folgen halbherzig. Bald danach schon verlassen sie die Regierung und versinken in der Bedeutungslosigkeit. Es ist das Ende der Hoffnung, dass ein anderes Frankreich möglich ist. Von jetzt an wird es kein fortschrittliches politisches Projekt mehr geben. Stattdessen nähern sich die Parteien der Mitte aneinander an.

Die französische Republik ist etwas anders arrangiert als die deutsche; hier ist der Präsident mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Er wird außerdem für sieben Jahre direkt vom Volk gewählt, weswegen Phasen der sogenannten Kohabitation entstehen, heißt: Der Präsident kommt aus einem politischen Lager, die Regierung (bzw. die Parlamentsmehrheit) aus dem anderen.

Genau das geschieht 1986: Jacques Chirac, Kandidat der Rechten, gewinnt die Parlamentswahlen. Er wird vom sozialistischen Präsident Mitterrand zum Premierminister bestellt, es ist die erste Kohabitation seit 1958. Es ist auch der erste große Erfolg des Front National: Er holt fast zehn Prozent der Stimmen und zieht mit 35 Abgeordneten ins Parlament ein.

In der Welt des Sports ist Frankreich lange Zeit der sympathische Verlierer. Französische Sportler schlagen sich achtbar, scheitern aber meistens am schnöden Zwang zum Ergebnis. Es ist das Land des verspielten Sports, in Deutschland sagt man: Der Biss fehlt. Es gibt kein Pendant zu Lothar Matthäus.

Erst in den 90ern entdeckt der französische Sport seinen Siegeswillen. Drei Mal olympisches Gold für Marie-Jo Pé­rec, zwei Mal holt man den Davis­cup, Gold und Bronze bei den Hand­ball­welt­meis­ter­schaf­ten, drei Mal Gold für die Rug­by­natio­nal­mann­schaft beim Six Nations.

Es ist der Fußball, bisher ein Sport unter vielen, der der gebeutelten Nation ihren größten Triumph beschert: Olympique Marseille gewinnt 1993 den Europapokal der Landesmeister. Drei Wochen lang läuft auf den drei Fernsehsendern nichts anderes als das entscheidende Kopfballtor von Ba­sile Boli, in den immer gleichen drei Einstellungen, bis es sich in die Gehirne aller ›compatriotes‹ eingebrannt hat.

Was ist Frankreich? Das ist es. Dieses Tor, dieser Jubel. Dieser Konfettiregen.

Bernard Tapie