Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Mit heißer Nadel genäht

Die Fäden in der Hand halten

Etwas aus dem Ärmel schütteln

Alles Zeitliche hängt an einem Zwirnsfaden

Aus der äthiopischen Geschichte

Glossar und Namensverzeichnis

Über die Autorin

 

 

Dr. Aide Rehbaum

 

Äthiopischer Brokat

 

Eine Deutsche in den Wirren

Ostafrikas

 

 

 

BIOGRAFISCHER ROMAN

 

Verlag DeBehr

 

© Dr. Aide Rehbaum

Linolschnitte: Dr. Aide Rehbaum

Covermotiv: Dr. Aide Rehbaum

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Umschlaggrafik Hintergrund © tarapong - Fotolia.com

Erstauflage: 2014

ISBN: 9783957531155

 

Für Kurt, in Liebe

 

Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.

(Schiller, Wilhelm Tell IV, 2)

Prolog

Äthiopien 1973. „Ich bringe Ihren Landrover nach Mekele zurück“, hat sie vor Stunden in Addis Abeba dem Präsidenten des Roten Kreuzes von Eritrea versprochen. Kein Thema, seine Bitte kam ihr entgegen.

„Good gracious.“ Sie murmelt zu sich, wie so oft, wenn sie alleine unterwegs ist. „Machen Sie sich keine Sorgen, habe ich doch tatsächlich gesagt.“ Sie schüttelt nachträglich den Kopf über ihre unsinnige Floskel. Der Verbleib des Wagens hat ihn bloß einen Moment länger davon abgehalten, sich um weit Schwerwiegenderes Gedanken zu machen, überlegt sie. Und dann auch noch den Stander des Wagens abzuschrauben, als kleine Erinnerung für meinen Sohn. Der Wimpel liegt neben ihr auf dem Beifahrersitz.

Staubfahnen verhüllen die Sicht auf den Straßenverlauf. Sie entstehen unter dem Hakenpflug, den unweit der Straße ein paar Männer mit bloßen Händen über ein abgeerntetes Baumwollfeld zerren.

Ato Tadesses Pflichtauffassung in allen Ehren, aber da fehlt mir jegliches Verständnis für. Statt sein eigenes Leben für die ganze Sippe zu retten, fühlt er sich verpflichtet, einen einzelnen Greis auf seinem letzten Gang zu stützen!

Sie will nicht nachdenken über das, was sie gestern Nachmittag vom Büro aus beobachtet hat, die roten Rinnsale an der Backsteinmauer und alles andere. Deshalb ist ihr die Wut ganz willkommen über den Konvoi, den sie gerade eben bei Alamat’a ins Flüchtlingslager einbiegen sah. Irgendwie kommt sie mit der eher zurecht als mit dem Entsetzen.

Dieses verdammte Militär!

Sie schlägt mit der Faust aufs Lenkrad

Missbraucht haben sie mein Mitleid. Wenn Leo wenigstens da wäre, könnte ich meine Ohnmacht bei ihm ausheulen. Noch ein Bergrücken, dann habe ich es geschafft.

Sie knirscht mit den Zähnen.

Als sie ein Wadi erreicht, hängen Gewitterwolken über dem letzten Pass vor Mekele. Linkerhand krallt sich die Straße an die Felswand, rechts gähnt die Schlucht. Erschrocken stoppt sie. Die Zufahrt zur Brücke versperren übermannshohe Gesteinsbrocken. Eine klassische Falle für einen Shifta-Räuber. Protestierend fliegt eine Felsentaube auf. Besorgt sucht sie mit den Augen die Hänge und Vorsprünge oberhalb der Straße ab.

Schimpft die Taube nur über mich? Wenn man da oben zwischen den Felsen hockt, sieht man jeden meilenweit kommen und ist selber unsichtbar. Hey, bewegt sich da etwas? Blitzte der Sonnenstrahl eben nicht in einem Brillenglas? Die Freude versalze ich euch. Zwischen den Felsblöcken wird es knapp, aber mir bleibt nichts anderes übrig.

Sie gibt Gas und rollt auf die rechte Lücke zu, bis Stein über Blech schrappt, dann erhöht sie den Druck aufs Gaspedal.

Soll es ruhig die Wagenseite aufreißen, was sind schon ein paar Schrammen!

Sie zieht die Handbremse, lässt den Motor laufen und zwängt sich hinaus.

Weit jenseits der Gebüschgrenze hört sie es rutschen. Sie stemmt sich gegen den rechten Felsblock, den Schuh in eine Rinne verhakt, und beginnt bei der Schinderei zu keuchen. Verdammt, nur zehn Zentimeter, dann würde das Mistding von selbst rollen! In ihren Oberarmen beginnen die Muskeln zu brennen. Sie fasst tiefer. Ihr Fuß rutscht weg. Sie muss verschnaufen.

Zwischen den Sträuchern hangauf bröckelt etwas. Dicke Wassertropfen platschen auf Karosserie und Straßenbelag. Irgendein Hilfsmittel muss her, was könnte sie nehmen? Halb aus der Klamm ragt ein kleiner Baum mit der Krone nach unten. Sie reißt sich die Hände auf, zerrt und drückt, um ihn zu sich zu ziehen. Dann splittern die Äste und sie schwankt zurück.

Ein kopfgroßer Brocken kollert zwanzig Meter entfernt über den Weg. Die Stoßstangenecke muss als Drehpunkt herhalten, sie stemmt das Holz unter den Stein, schnellt sich verbissen auf den Stamm, während ihr Atem rasselt. Krks! Stücke brechen ab, der Brocken zittert schwach. Endlich! In Zeitlupe dreht er sich um sich selbst, die Kante gibt nach und behäbig gleitet er Richtung Flussbett. Mit dem Unterarm reibt sie über die Stirn und verschmiert den Dreck.

Die Geräusche im Hang ... Mehrere Personen sind auf dem Weg, darauf wette ich.

Uff! Sie wirft das Stämmchen dem Felsen hinterher und wuchtet sich auf den Fahrersitz. Zack! Krach! Ein Blitz taucht die Bergschrunden in ein bläuliches Licht, umso schwärzer die vorzeitige Dunkelheit, die Reifen drehen ein Stück durch, greifen schließlich und der Wagen überquert die Brücke. Das Unwetter bricht mit Macht aus den tief hängenden Wolken.

Sie hat beschlossen, dem Prinzen nie zu gestehen, was sie in der Hauptstadt gesehen hat, und ahnt nicht, dass sie sich deswegen bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen wird.

Mit heißer Nadel genäht

1

1942, Bonn. Nachträglich war Elise der Überzeugung, dass die erste Weiche am letzten Schultag vor Beginn dieser Osterferien gestellt worden war, die sich eigentlich nach Freiheit anfühlen sollten. Nur die Forsythien erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen. Dafür war nicht der Krieg verantwortlich, sondern, das wurde ihr ständig unter die Nase gerieben, außer ihrer Faulheit der fatale Widerspruchsgeist.

Sie gab sich unbeeindruckt, aber nur weil sie nach der Schule schon Dampf abgelassen und ihren Ball eine halbe Stunde lang gegen die Scheunenwand von Bauer Halbig gedroschen hatte vor Ärger, weil das Ergebnis so perfekt in die Schablone von Mutter Hertha passte. Elises Trotz gegen jedes „Ihr müsst“ oder „Man tut“ kam gegen Mutters Bitterkeit nicht an.

Stiefvater Heinz, Angestellter einer Euskirchener Bank, ließ den Schöpflöffel wortlos in die Eier mit Senfsauce fallen, als Elise gestand: „Wenn ich nicht freiwillig das Gymnasium mit der mittleren Reife verlasse, geben sie mir kein Abgangszeugnis, sondern ich darf eine Ehrenrunde drehen.“

Über das Sitzenbleiben, diesen Beweis für Elises Unfähigkeit, frohlockte Mutter Hertha: „Hättest mal besser bei den Mädeln mitgemacht, statt dich zu verkriechen. Das ist jetzt die Quittung.“ Sie meinte das blöde Keulenschwingen beim Bund Deutscher Mädel.

Die Argumente waren vorhersehbar wie Stichworte in einem Drehbuch. Eines folgte dem nächsten, bis die Szene im Kasten war und keiner hörte mehr richtig hin.

Die Mutter höhnte weiter: „Da hat Frau Doktor mit ausgespielt.“ Elises größter Wunsch war gewesen, Ärztin zu werden, seit sie sich an Omas Sterbebett so hilflos gefühlt hatte. Medizin war für Hertha zwar kein Schnickschnack, bloß als Berufswunsch in ihren Kreisen der Inbegriff an Großmannssucht und gehörte in die Schublade „Hirngespinste“ und die schloss sie jetzt. Dieses Fiasko widerlegte den letzten Rest ihrer Zweifel, dass das Mädchen am besten einen handfesten Beruf erlernte.

Elise nahm sich eine zusätzliche Pellkartoffel. „Mir egal, keine zehn Pferde halten mich weiter in der Schule“, schmollte sie. Den Tod von Oma kann ich sowieso nicht mehr rückgängig machen, machte sie sich klar, wird’s halt nichts mit der Ärztin.

Die ewig gleiche Leier fehlte auch diesmal nicht: „Wie lange soll das Kind uns denn noch auf der Tasche liegen? Das soll bald was verdienen.“

Elise schluckte und murmelte: „Fachschule für Handwerk in Düsseldorf, das wär’s.“ Die möglichen Zuschüsse, Elises letzter Trumpf, rissen das Ruder nicht herum.

„Du häs en Egg av.“ Dialekt zählte bei Heinz als Indiz für Überdruck. „Wer soll das bezahlen? Die Fahrtkosten!“ Der kleine Halbbruder Dieter duckte sich in Erwartung eines größeren väterlichen Wutausbruchs. Stattdessen schnalzte Heinz mit seinen Hosenträgern und streckte sich. „Leever met däm Kopp durch die Wand wie jar kein Finster.“ Versöhnlich streckte er schon die Hand aus, um der Tochter über den Kopf streichen, aber sie drehte sich wie üblich automatisch weg. Mehr als erklärlich, wenn man die ganze Vorgeschichte betrachtet.

„Du häs Krömel im Kopp!“, knurrte Hertha unwirsch. „Ein Studium bei einem Mädchen ist nichts als rausgeschmissenes Geld. Nähen kannst du auch mit einer Schneiderlehre!“ Elise fühlte ihre Flügel schmerzhaft beschnitten. „Zu mehr reicht deine Ausdauer nicht. Da kannst du das Haushaltsgeld mit aufbessern, wenn du erst unter der Haube bist“, fügte die Mutter hinzu.

Sissi hob den Kopf von den Pfoten und fiepte kurz. Das Mädchen stand auf, hockte sich, grub die Finger ins Nackenfell des Schäferhundes und maulte über die Schulter: „Dann gründe ich jedenfalls eine eigene Werkstatt.“

Hertha lachte. „Wenn du gescheit bist, angelst du dir einen Beamten, dann hat das Abrackern ein Ende.“ Mit diesem Satz pflasterte sie den Lebensweg ihrer Tochter, seit diese denken konnte.

Köch, Kirch, Pänz, das reicht dir vielleicht“, dachte Elise. „Mein Beruf soll mir Freude und dem ständigen Pfennigdrehen ein Ende machen. Und einen Stall voll Kinder will ich. Die brauchen nicht wie ich jedem Fitzelchen Lob wie ein Hund der Wurst nachjagen und schmusen werde ich mit denen den ganzen Tag.

Zwei Jahre später hatte eine höhere Gewalt in ihren Lehrplan eingegriffen und sie wusste, wie man Hühner mit bloßen Händen fängt, Wehrmachtsdecken zu Kleidung verarbeitet und sich vor Russen in Sicherheit bringt.

2

1946. Ob die zweite Weiche mehreren im Münster gestifteten Kerzen zu verdanken war, ließ sich nicht eindeutig sagen. Auf jeden Fall überschlugen sich die Dinge durch einen Eisprung.

„Dass du dich nicht kaputtschwitzt in der Bluse“, staunte Ruth, als Elise ihre langen Ärmel herunterrollte, nicht schnell genug, um den feuerroten Krätzeausschlag zu verstecken.

Ruth, deren Schwester Judith und Elise bildeten ein Gespann wie aus der Operette. In jeder freien Minute klebten sie zusammen, seit Elise verdreckt und abgemagert ein halbes Jahr zuvor nach der Sperrstunde aufgetaucht war, allein aus der Evakuierung zurückgekehrt und vom Anblick des Kölner Trümmerfeldes noch unter Schock.

Barfuß war Ruth nach unten gestolpert und der nicht gerade nach Rosen Duftenden um den Hals gefallen mit den Worten „Ich dachte, die Russen haben dich kassiert.“ Dass ihr Nachthemd dabei den Abstieg zum Putzlappen um mehrere Stufen übersprang, war ihr gleichgültig

„Die Amis hätten es beinahe geschafft.“

Ohne Zögern befeuerte Mutter Goldstein den Badeofen, durchstöberte die Lebensmittelvorräte und lachend und weinend zugleich überbrückten ihre zusammenhanglosen Berichte die zurückliegenden Jahre.

„Im Juli bin ich in Föritz los“, das waren drei Monate seitdem, „zu Fuß. Diesseits der Grenze haben sie mich ohne Papiere aufgegriffen und ein wenig aufgehalten.“ Das war gewaltig untertrieben, Elise wischte Nachfragen jedoch mit einer Handbewegung weg. „Von Coburg aus bin ich mit Lastwagen und Güterzug weiter. Meine Mutter und Dieter sitzen wahrscheinlich immer noch in dem Kaff.“

„Schau sich das einer an“, Ruth zeigte auf die schwarze Brühe, „ich tippe auf einen Kohletransport.“

„Der war auch dabei. Ich mach da weiter, wo ich vor drei Jahren aufgehört habe. Schrubb mir mal den Rücken, Judith, wenn du schon auf dem Hocker klemmst“, forderte Elise. „Morgen renne ich Meier-Mertens gegenüber dem Münster die Tür ein.“

Vorweisen konnte sie in dem Modeladen nichts, ein Probestück hatte aber gereicht und sie war Lehrling. Durch einen Maueranschrieb fand sie ihre Angehörigen ein paar Wochen später und zog mit ihnen zusammen, denn nur mit Tante Käte und Cousin Günther standen Hertha, Dieter und Elise Wohnraum bei einem Baron in der Koblenzer Straße zu. Heinz war noch in französischer Kriegsgefangenschaft und Onkel Hans vermisst.

Regelmäßig trafen sich seitdem die drei Mädchen hinter der Jugendstilfassade. Parkett und Stuckdecke mit Kronleuchter, warum nicht, aber Mansarde, und das in diesem glühend heißen Sommer!

Bis auf die Jungs saßen alle zusammen in der Bude, das ließ sich nicht vermeiden. Elise räumte eine halbfertige Weste auf ein Beistelltischchen und Ruth packte ihre Gerätschaften aus. „Ich fang gleich an, damit wir fortkommen.“

Gehorsam setzte sich Elise auf den thronartigen Großvatersessel am Fenster, dessen rot-gelb gestreiftes Polster sich im Bezug des Kanapees und der Tapete wiederholte. Vornehm geht die Welt zugrunde, die ihre halt mit einer Biedermeiergarnitur aus Kirschbaum.

In schwarzgemusterten Kittelschürzen ribbelten die Mütter auf dem durchgesessenen Sofa Berge von alten Pullovern auf, um sie in den bestellten modernen Schick zu verwandeln.

Aus dem Volksempfänger tönten die täglichen Suchanzeigen des Roten Kreuzes, in denen sich auf der Flucht verloren gegangene Kinder an Namen und Situationen der Verlassenheit erinnerten. Allzu leicht wühlte das Gehörte durchlebte Schrecken auf, deshalb unterbrach Elise: „Es muss herrlich sein an einem Ort ohne Schutt und Blindgänger, ich will endlich schöne Dinge, mal Farben sehen! Das Grau in Grau hängt mir zum Hals raus! Wie unter einer Schimmelschicht komme ich mir vor.“

Hertha verzog die Mundwinkel. „Setz halt eine rosa Brille auf.“

Mit einer Brennschere versuchte Ruth, der Freundin den gleichen Lockenschwall zu zaubern, mit dem die Natur sie selbst beglückt hatte. „Egal wo, den Aufenthalt würde ich mir schon verdienen“, griff sie die Spinnerei auf und zog die nächste Strähne über das Eisen.

Zum vierten Mal klingelte es an jenem Nachmittag, Elise duckte sich unter der heißen Schere weg und sprang mit wehendem Rock die paar Schritte zur Tür, das Handtuch noch um die Schultern. Einer der Obdachlosen, die am Rhein in Zelten kampierten, eingewickelt in einen Vorhang, mit einer russischen Mütze und herabhängenden Ohrenklappen, streckte Elise eine rostige Büchse entgegen und presste zwischen aufgesprungenen Lippen hervor: „Hätten Sie bitte Wasser?“ Das Mäntelchen des kleinen Jungen an seiner Seite war von Riemen zusammengehalten und sein Schädel wegen der Läuse rasiert.

Jetzt sahen sie alle bemitleidenswert aus. In dem Blick, den Ruth von Elise auffing, als sie den Behälter füllte, stand die unausgesprochene Frage: Ist das auch einer von denen? Zusammen hatten sie erst kürzlich Broschüren aus dem Goldsteinschen Bücherschrank verschlungen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Sie bestätigten das Gemunkel in Thüringen von Lampenschirmen aus Menschenhaut.

Die Bilder aus dem KZ Buchenwald verfolgten die Backfische bis in den Schlaf und bewirkten, dass sie sich ein Messer unters Kopfkissen legten. Da solche Taten niemandem auf die Stirn geschrieben standen, konnte der harmloseste Zeitgenosse, der zufällig neben einem Schlange stand, beteiligt gewesen sein.

Die Wohnungstür war hinter den Flüchtlingen zugefallen, Tante Käte verknotete das Ende ihres Knäuels mit dem nächsten Strang und legte ihn der Schwester um die Handgelenke. „Was würdet ihr denn machen? Elise hat noch nicht mal ihre letzte Prüfung!“

Unwirsch fragte Hertha nach dem unbekannten Ausdruck: „Was soll das wieder für eine Flause sein, Au-pair?“ Sie stellte sich eine Art Kinderlandverschickung darunter vor.

„Als Au-pair betreut man Kinder und spült Geschirr, nichts anderes als das, was ich hier auch mache, aber man kriegt es bezahlt“, sagte Judith, hob ihren Bubikopf vom Strickzeug, kratzte gedankenverloren mit einem Fuß an der anderen Wade und zerquetschte eine Mücke. „Wenn du erst dort bist, siehst du, wie es woanders läuft, und warum soll sich nicht noch Besseres finden? Gefällt es einem nicht, kommt man halt zurück und hat immerhin was gesehen.“

Die drei waren sich einig: „Es kann nur schöner sein als hier. Nach dem Abi sind wir weg.“

„Bleibt noch zwei Monate“, brummte Elise. „Meine Gesellenprüfung mach ich noch.“ Sie schrie auf, weil Ruth sie geziept hatte.

„Du schuftest wie eine Maschine“, spottete Judith, „bei der ein Abstellknopf fehlt.“ Jemand brauchte nur mit Gewebtem zu winken, schon trat Elise in die Pedale der gräflichen Singer-Nähmaschine.

Neidisch mäkelte Ruth: „Du bist die Letzte, Judith, die klagen darf.“ Bei Judiths Sommerkleid hatte sich Elise selber übertroffen, in der Taille und am Saum ein eingesetzter Streifen mit Schmetterlingen auf rotem Grund ‒ weiß der Himmel, welcher Bettüberwurf dafür hatte herhalten müssen ‒, am Halsausschnitt ein Restchen Spitze, eine Schleife auf der Brust und der nachtblaue Gardinenstoff war reif für eine Berliner Modenschau.

„Erste Sahne, Elise ist eine Künstlerin.“

„Ach was, halb so wild“, beschwichtigte die Freundin. „Meine Chefin hat mir den Zutritt ins Lager für die fertigen Stücke verboten und ich darf von früh bis abends Ärmel fertigmachen. Nur Ärmel.“

„Logisch, die hat Angst, du kupferst ihre Muster ab.“

„Hilft ihr bloß nicht viel. Ich muss nur die Zuschnitte sehen. Mit den richtigen Stoffen wäre es ein Kinderspiel.“

Tante Käte stand auf, klaubte einige Fädchen vom Rock und zog die Vorhänge vor der Küchenecke zurück. „Ich sehe noch das lavendelfarbene Hochzeitskleid mit passendem Frack und Zylinder vor mir, deinen ersten Auftrag aus der Nachbarschaft, da hattest du gerade deine Lehre angefangen.“ Sie setzte den Wasserkessel auf den provisorisch angeschlossenen Emailkohleherd, der umgehend anfing zu qualmen, und stellte ein paar angeschlagene Tassen auf den Tisch.

Die Tante, die mit verklärter Miene ein Wischtuch an ihre Brust drückte, ähnelte der Heiligen Maria Magdalena auf Elises jüngstem Kommunionsbildchen: „Auf den Champs Élysées bummeln, das muss herrlich sein, in einem Café eine heiße Schokolade mit Sahne süffeln und dazu ein Mokkaeclair!“ Auf Kommando schoss den fünf der Speichel schmerzhaft auf die Zunge.

Das seidene Halstuch, das Hans kurz nach dem Einmarsch aus Paris geschickt hatte, hüteten sie wie eine Reliquie. waren doch Reisen ins Ausland bis dato bestenfalls für höhere Töchter gewesen, und das sollte auf einmal für sie in Reichweite sein?

Bei Vorstellung der Weltkarte wurde es Elise schwindelig. „In Englisch war ich immer gut in der Schule! Am besten wir fahren irgendwohin, wo das gesprochen wird, Amerika oder Australien.“ Ein Ozean wäre günstig als Schutzschild gegen Einmischung aus der Heimat und vor der Versuchung zu früh aufzugeben, falls nicht gleich der Rubel rollte.

Die Abendsonne funkelte in den Glastropfen des Kronleuchters und rückte das Fadenscheinige der quastenbesetzten Tischdecke und die mit Geschirr vollgestopften Borde in mildes Licht.

Bis zur Unkenntlichkeit verschönt schlenderten die drei, übermütig eingehakt, wenig später zum Alten Zoll, Streublümchen in Wadenlänge, ohne Strümpfe in schiefgetretenen Halbschuhen, die Augenbrauen mit Holzkohle nachgezogen, verrucht wie Marlene Dietrich und hungrig nach Aufregung. Ein Tanzvergnügen reichte nicht mehr für ihren Tatendrang, sie hätten nicht sagen können, was ihnen vorschwebte, Hauptsache neu, nie dagewesen sollte es sein.

Unter den schattigen Platanen traf Ruth die Eingebung: „Kinder, Tante Sarah wohnt in Manchester!“ Mit offenem Mund starrte Elise sie an. So ein Sprungbrett stand ihr als Metzgersenkelin nicht zur Verfügung.

3

Lieber heute als morgen hätte Elise ihrer Mutter gekündigt und sie gegen Tante Käte ausgetauscht, die fieberheiß Elises Hand drückte und krächzte: „Du bringst es zustande, Kind.“ Ab September verschlechterte sich ihr Befinden, auf ihren kreideweißen Wangen glühten karminrote Flecken. An feuchtkalten Tagen reichte ihre Luft nicht mehr weiter als bis zum Sofa, wo sie im Morgenrock von Flicken zu Flicken Kräfte verausgabte. Diese Phase endete im Krankenhaus am Tropf, die einzige Therapie, die den Ärzten zu Gebote stand. Elise nahm sich Näharbeit mit, um ihr so oft wie möglich Gesellschaft zu leisten.

„Natürlich, lass mich erst die Prüfung haben, dann können sie sich auf den Kopf stellen.“ Mit jeder Wiederholung glaubte Elise stärker an einen Ausweg. Sie brauchte noch nicht einmal die Augen zu schließen, um Wolkenkratzer, klingende Sektgläser und Laufstege mit ihrer Kollektion unter Palmen vor sich zu sehen.

„Leg dich nicht auf die faule Haut“, nörgelte Hertha tagtäglich, „alte Sachen umändern kannst du jederzeit.“

Das Verhältnis zwischen ihnen hatten weder Bombentreffer noch die Evakuierung verbessern können. Die Mutter honorierte mit keinem Wort Elises Einfallsreichtum bei der Jagd nach Essbarem, obwohl allein mit den Lebensmittelkarten für Erwerbslose Schmalhans nicht mal Küchenjunge gewesen wäre.

„Du machst das schon richtig.“ Tröstend strich dagegen Käte über den Arm der Nichte. Tja, richtig und falsch, wer legt das fest, fragte sich das Mädchen. Da zerschneide ich Uniformen, färbe und verbräme mit Pelzkragen, nähe praktisch Persilscheine, aber die Perlmuttknöpfe halten denselben abscheulichen Inhalt zusammen wie vorher die mit Hakenkreuz.

„So nachdenklich heute, Elise? Gibt’s was Besonderes?“

„Gestern kam ein Telegramm aus Manchester: Zwei Plätze bei guten Familien frei! Es wird ernst, Tante.“

Ein Lächeln huschte über Kätes Gesicht, als Elise seufzte: „Mir wird nichts anderes übrigbleiben, ich muss mich als Schiffsjunge verkleiden und auf einem Dampfer anmustern.“

Tantchen verstand sie. „Ich bin mir sicher, eines Tages staffierst du sogar die Apachen mit Dirndl aus.“

Als die Kranke eingedämmert war, machte sich Elise auf den Heimweg. Meier-Mertens, der ihr eine feste Stelle verweigerte, konnte ihr gestohlen bleiben! Im Hofgarten stapfte sie durch die zusammengewehten Laubhaufen unter den Parkbäumen, die die Druckwelle der Bomben und Brennholzsammler noch nicht entwurzelt hatten. Der vom Rhein hochgewaberte Nebel verdichtete sich zu Raureif und würde bald jedes Licht zum Funkeln bringen.

Wie konnte sie nur so eigensüchtig sein! Penicillin fehlte der Tante, ihr letztes Kleid hätte die Nichte für eine Ampulle hergegeben, aber es war aussichtslos, ohne Beziehungen war es nicht mal auf dem Schwarzmarkt zu ergattern.

Auf die ansteckende Aufbruchsstimmung der Freundinnen freute sich Elise. Die prickelte im Gemüt wie Champagner auf der Zunge und zog sie unwiderstehlich durch das Stockentor. Sie hielt sich an der Ruine des Rathauses rechts und drückte die angelehnte Tür in einem der Gebäudereste auf, dessen Mauern oberhalb des ersten Stocks ausgebrannt in den Himmel ragten.

Bei Goldsteins öffnete Judith völlig verheult. Das war gerade das Gegenteil von dem, womit Elise gerechnet hatte. „He, probt ihr etwa das Heimweh? Übt lieber ‚God save the King‘!“

„Bei uns ist eine Bombe hochgegangen“, sagte Ruth, die inmitten mehrerer Wäschehaufen ihren Besitz einer Inventur unterzog.

Elise setzte sich neben die schniefende Freundin aufs Bett. Ein zweiter Koffer voller Staub und Spinnen harrte unberührt neben der Kaktus-Etagere. „Hast du Angst vor der eigenen Courage gekriegt?“, fragte Elise. Judith vergrub ihren Kopf im Kissen und schluchzte leise.

Frau Goldstein betrat das Wohnzimmer und behielt den Türdrücker in der Hand. Den strengen Eindruck ihres schwarzen Kleides aus Fallschirmseide, ein Werk Elises, milderte sonst ein weißer Kragen aus gehäkeltem Zwirn. Weil sie ihn vor lauter Rage vergessen hatte, trübte nichts das Bild einer Rachegöttin auf der Suche nach einem Flammenschwert. „Schau sie dir an! Judith hat sich alles vermasselt“, lamentierte sie. „Hast du davon gewusst, Elise?“

„Was soll ich wissen?“

„Sie kann sich nicht nur alle Englandpläne an den Hut stecken, aus, vorbei!“ Der im Nacken verschlungene Haarknoten der Ärztin war in Auflösung begriffen.

Judith begehrte auf: „Fahre ich eben später!“

„Wie stellst du dir das vor? Eine verheiratete Frau kann nicht als Kindermädchen ins Ausland! Und ich hoffe, er hat so viel Anstand, dich zu heiraten.“

„Moment, warum sollte sie? Das ist kaum der geeignete Zeitpunkt!“, protestierte Elise.

Judiths Mutter, die so viel auf Erziehung zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung schwor, presste aus heruntergezogenen Mundwinkeln: „Du sagst es!“

„Ich bin schwanger“, jammerte die Freundin.

„Ach, du grüne Neune“, murmelte Elise, während sie die aufsteigende Übelkeit unterdrückte. Sie sah eine enttäuschte Familie in Manchester am leeren Bahnsteig stehen. Augenblicklich wurde ihr heiß. Der verwaiste Platz in England! Gab es einen größeren Pechvogel?

Hoch aufgerichtet, stand Frau Goldstein vor einem der mit Wachspapier beklebten Fenster. „Spätestens morgen hat sie für Behrendts den letzten Brief getippt. Wenn der das erfährt ... Abgrundtief dumm ..., was erzähle ich nur eurem Vater?“

Aus der Traum bei Mutter und Tochter!

„Sie hat sich alles verbaut! Studium mit Kind, dass ich nicht lache, kein Beruf. Verheiratet oder nicht verheiratet, was soll das für eine Zukunft sein? Alles gestrichen“, klagte Frau Goldstein und zündete sich eine Zigarette an.

Wäre ich nur an Judiths Stelle, dachte Elise.

Die Sünderin schluchzte: „Dann gehe ich eben, wenn das Kind da ist. Oder ich verlier es vorher.“ Sie werde jede Treppe nur noch springen und sich als Trümmerfrau die schwersten Balken aufladen.

„Untersteh dich!“, schrie ihre Mutter. „Die Stelle in England aussitzen kannst du vergessen. Wer jetzt eine Hilfe braucht, nimmt den nächstbesten Bewerber.“

„Bis dahin gibt es neue Interessenten.“

„Sarah hat sich krummgelegt, um euch den Job zu ergattern, und ihr ... Undankbar!“

„Der muss nicht verloren sein“, hakte Ruth ein, „dann kommt halt Elise mit.“

Dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall. Die Quintessenz von Herthas Kommentar am Tag der Abreise war: „Na, viel Vergnügen, wirst schon sehen, was du davon hast.“

Vor kurzem war Heinz mit Krücken heimgekehrt, er nickte geistesabwesend. Ein Esser weniger, waren sich beide stillschweigend einig.

Tante Kätes Tod zwei Wochen zuvor hatte den letzten Hemmschuh entfernt und Elises Lebenszug nahm an Fahrt auf.


4

Bis zu diesem Stuhl hatte Elise der Schwung des kolossalen Freiheitsgefühls getragen, das die zwei Mädchen erfüllt hatte, seit in Ostende der Kontinent hinter ihnen im Dunst verschwunden war. Je länger sie wartete, umso mehr drückte die ungewöhnliche Schwüle des Apriltages auf ihre Stimmung und ihre Zuversicht bröckelte. Wozu war sie als eine der ersten zur Sprechstunde eingetroffen? Ergebnis der „queuing culture“ war, dass ausländische Prüflinge bis zuletzt saßen, hatte Elise den Eindruck.

Sie kramte in ihrer Tasche, aber statt des Vokabelhefts, das sie anscheinend auf dem Nachttisch liegengelassen hatte, förderte sie ein Foto mit gezackten Rand zu Tage, das sie mit Ruth zusammen auf der Fähre zeigte.

Von dem knöchellangen Mantel aus kratzigem Wollstoff wollte ich mich längst trennen, das total altmodische Barett ist bei Oxfam gelandet. Am Stolz hat sich nichts geändert. Es war die einzig richtige Entscheidung nach London zu gehen. In den „fetten Jahren“ als Au-pair bei dieser Arztfamilie in Manchester war ich ständig kurz davor mich zu erbrechen. Die Fleischberge jeden Mittag, der Schmer an den Händen ohne Spülmittel, igitt. Schwer hat man es als Vegetarierin. Sie wischte unbewusst die Hände an der Hose ab. Schade, dass hier Achtundvierzig-Stunden-Tage nicht reichen, um das Angebot auszukosten. Kunst, Theater, Fortbildung. Die Weihnachtsfeste folgen schneller aufeinander als die U-Bahnzüge.

Wie diesmal die Prüfung ausgefallen war, sollte sie gleich im Büro der Kursleiterin erfahren. Davon hing der nächste Schritt ab.

Wieder öffnete sich die Tür. „Miss Nabokov, kommen Sie bitte!“ Die vorletzte Teilnehmerin raffte ihre sieben Sachen. Das Gewimmel der Schüler in den Fluren versickerte, während Elises Entrüstung wuchs und ein Stillsitzen immer schwieriger machte. Draußen sah sie Eis schleckende Mädchen in Schuluniform vorbeispazieren.

Als sie eine Viertelstunde später im Büro mit dem abgeschabten Teppichboden stand, dessen Farbe den Geruch nach Durchfall heraufbeschwor, zügelte sie ihren Bewegungsdrang.

„Drückend ist es heute, nicht wahr?“, sagte Mrs. Markham, die Leiterin des Designlehrgangs, und ordnete Papiere auf dem Schreibtisch. „Das richtige Wetter, um ans Meer zu fahren. Kennen Sie Brighton, Miss äh?“

Die Dame im hellblauen Twinset kannte hundertprozentig Elises Namen. Ihr typisch englisches Höflichkeitsgeplänkel verursachte, dass Elises Knie zitterte, als ob ihre Nähmaschine in Höchstgeschwindigkeit laufe.

„Was sind Ihre langfristigen Pläne? Sicher wollen Sie sobald wie möglich zurück in Ihr Land.“

Hinsichtlich ihrer Familie empfand Elise keinen Verlust, denn verlieren konnte man nur, was man vorher besessen hatte. Elise zwang ihr Bein zur Ruhe, weil das Rockfutter hörbar am Stuhlbein schabte. Nur zu deutlich gellten ihr Mutters Klagen über Oma im Ohr, die ihr erlaubt hatte, die ersten selbst genähten Puppenkleider auf der Straße zu verkaufen. Unter den Fingern spürte sie die noppige Oberfläche des Verdunklungsstoffs wieder, den sie nach Vorbildern aus der Modezeitung „NS Frauenwarte“ zerschnitten hatte.

Die leidenschaftslose Lehrerin mit der teigigen Blässe und kastanienroter Entwarnungsfrisur bat sie in die bequeme Sitzecke neben einer Standuhr, die wie ein Metronom das Gespräch in dosierte Dornen zerhackte.

„Bis zum eigenen Modestudio wird es noch dauern. Meine Aufenthaltserlaubnis ist an Arbeit gekoppelt, die regelmäßig beim Foreign Office im Old Admiralty Building an der Mall nachzuweisen ist. Ich schüttle tagsüber Kissen auf, verteile Essen und Aufmunterung als Orderly im St. Mary Abbots, fürs Schneidern bleibt nur abends Zeit.“

„Ach, in Kensington!“ Die energische Frau verbarg ihre Erleichterung, schenkte den Tee ein und rückte die Schale mit den Ingwerkeksen in die Tischmitte. „Das sind die roten Backsteingebäude mit Sandsteinkanten, an denen die Feuer des Blitzkriegs noch sichtbar sind?“

Die Schülerin überging den versteckten Vorwurf. „Genau, es macht mir ja Spaß, mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenzutreffen, bloß bezahlt ist es zu schlecht, um damit ein Vollzeitstudium zusammenzusparen.“

„Sie sind ausgesprochen geschickt und haben einen Riecher für Trends“, presste die Ältere mit angestrengtem Lächeln hervor. Bei ihr bekamen Talent und das gewisse Etwas, das sie widerwillig dieser Deutschen zugestehen musste, normalerweise eine Chance, doch nicht die Tochter eines „Krauts“. Mochte sie jetzt nicht ihrem Schreckgespenst entsprechen, ihre Assoziation von marschierenden Reihen blonder Zöpfe, Halstuch und ausgestrecktem rechten Arm war ein Automatismus wie Gänsehaut auf niedrige Temperaturen.

„Hübsch, was Sie da entworfen haben und im Schriftlichen keine Fehler“, eröffnete die Lehrerin. Doch sie musste diese Nazigöre entmutigen. „Das Zertifikat wird leider nicht viel nutzen. Die Fortgeschrittenengruppe ist für das kommende Semester ausgebucht.“

Mit sechsundzwanzig Jahren hatte Elise damit die Abschlussbescheinigung der Anfängerstufe in der Tasche. Jahrelang zügelte sie nun schon ihre Ungeduld, legte jeden Penny zurück und nähte die halbe Nacht, irgendwann musste auch sie einmal schlafen. Trotzdem war ihr Wunsch, es dieser Ignorantin zu zeigen, übermächtig.

Im St. James‘s Park traf Elise ihre Kolleginnen aus der Klinik wie verabredet auf der Bank am See, die eher hausbackene Trudi aus der Schweiz mit der Vorliebe für Tweed-Röcke und dem Liebreiz eines Feldwebels, die ein bisschen überkandidelte Elli aus München, die im Winter Sehnsucht nach den schneebedeckten Bergen und dem Aprés-Ski packte, und Ruth. „Die Schufterei nimmt kein Ende“, seufzte Elise niedergeschlagen.

Nur wegen eines Wolkenbruchs stellten sie sich unter den Dachvorsprung, wo jedes Türeöffnen mit köstlichem Duft lockte, sonst hätte ihr Schicksal nicht seinen Lauf nehmen können.

5

Die bonbonfarbene Inneneinrichtung des Cafés in der Kensington High Street entsprach dem letzten Schrei und war ein „Must“ unter jungen Leuten. Um die Schuhe der vier Hilfsschwestern in dampfenden Mänteln und mit tropfenden Schirmen bildeten sich Pfützen und von den Fenstern rann das Kondenswasser. Statt den Eingang zu verstopfen konnten sie sich ebenso gut ein paar Scones gönnen.

Es waren nur an einem der nierenförmigen Tische ausreichend Clubsesselchen frei. Strahlend weißes Lächeln wirkt wie Leimruten auf eine Schar Singvögel. Was war dabei? Zu viert fühlt man sich sicher.

„Woher kommt ihr?“, fragte Elli die jungen Männer nach dem ersten Gefrotzel über die drangvolle Enge. Den Grad ihrer Gemütsbewegung verrieten untrüglich ihre glühenden Bäckchen.

„Äthiopien!“ Es fiel der Begriff „Königin von Saba“. Bei aller Exotik war das christlich, also nicht gänzlich fremd.

Man sucht im Unbekannten immer auch das Vertraute und nur vom sicheren Territorium aus wagen wir uns dann in unerforschte Gewässer. Warum sollte es ihnen anders gegangen sein als den Jungs?

„Seid ihr Touristen?“, wollten die Fremden wissen.

Die Hilfsschwestern wohnten unter den Dachsparren des Nurse House, im Unterschied zur gräflichen Mansarde in Bonn minimal, unter anderem mit dem gusseisernen Waschbecken eines Hoflieferanten der Queen Victoria möbliert, außerdem männerfreie Zone, aber das rieben sie den Afrikanern nicht unter die Nase.

„Wir studieren hier“, erfuhren die Mädchen von den träge zurückgelehnten jungen Herren und fühlten sich taxiert.

„Auweia, muss teuer sein von so weit her.“ Elli fächelte geziert mit der Speisekarte und Elise kam sich zum ersten Mal im Vergleich mit ihr als graues unscheinbares Mäuschen vor.

„Wir haben ein Stipendium unseres Kaisers.“ Durch die innere Wochenschau flimmerte eine Kreuzung des Kalifen von Bagdad und Kaiser Wilhelm. „Ich heiße Melese“, sagte der im Anzug, dessen große Augen Elise auf der Haut brannten, „und die drei hier Adunja, Amanuel und Makonnen.“ Das Quartett hätte glatt den Schnitzereien im Chorgestühl des Kölner Doms entstiegen sein können.

Als Bedienung jobbten in dem Café zwei ihrer Landsleute, Cousinen zudem, die biegsame Masante, deren Gang zwischen den Bistrotischchen einem Tanz glich, und Rahel, deren Oberweite die Servierschürze fast sprengte. Die schmalere, milchkaffeefarbene Nofretete brachte ein Tablett voller Tassen, Gebäck und Clotted Cream und ein wahrhaft königliches Lächeln zur augenzwinkernden Warnung: „Na, jetzt kommt gleich der Satz mit der Elite des Landes.“

Als wolle Rahel ein Staatsgeheimnis dem nächsten Klatschkolumnisten verkaufen, wisperte sie: „Zum ersten Hotelfrühstück in England sind sie in ihren neuen Schlafanzügen erschienen, die Kellner sind in Ohnmacht gefallen!“ Nur drei der Krankenschwestern verkniffen sich loszuprusten, die vierte kaschierte ihr Gelächter mit Husten.

Man bekam den Eindruck, Melese verbringe seine Tage auf den Besucherrängen des Unterhauses, weil er bei dessen Erwähnung in Fahrt kam. Dabei studierte er Architektur und Adunja Medizin. Ihn hätte Elise für einen Schüler gehalten, wenn er nicht Geheimratsecken gehabt hätte, denn alles an ihm war zu kurz geraten, seine Gliedmaßen, die Stirn, sogar seine Sätze. Der athletisch gebaute Amanuel, der Techniker, teilte den Geschmack der vier Deutschen in puncto Musik und Kino.

Auf dem Heimweg schritten sie ungeachtet des typischen Smogs eingehängt voran, mit den Gedanken noch ganz im Café. „Der Lange hat Klavierspielerhände.“

Elli wollte sich gar nicht beruhigen über die schönsten Menschen, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Schon drehten sich Leute an der Bushaltestelle schmunzelnd zu ihr um. „Besonders die Frauen“, beugte sie jeder Anzüglichkeit vor.

„Und das hast du sogar ohne Brille gesehen, alle Achtung!“

In Gesellschaft ersetzte die Kollegin aus Eitelkeit ihre Sehhilfe wenig zweckmäßig durch Augenschminke. „Recht hast du“, bestätigte Elise. „Dat Fijörche, das wären die besten Models auf dem Laufsteg.“

Trudi klappte die Kapuze ihrer Regenjacke herunter, zog die Kniestrümpfe hoch, die sie bis in den November hinein mit Hinweis auf den Golfstrom trug, und raffte die Einkaufstüten näher. „Die müssen die Köpfe nach der Geburt runddrücken. So gleichmäßig, wie die sind!“ Ihre Absicht, die Hebammen danach zu fragen, war vergessen, als der richtige Doppeldeckerbus bremste und einen Schwall Pfützenwasser aufspritzte.

Im Nurse House bückten sich die Mädchen unter den Wäscheleinen hindurch, die den ganzen Dachboden bis zu ihren öden Zimmern im Zickzack unterteilten.

„Dieser Makonnen“, ungläubig schüttelte Elli den Kopf, „sieht mit seinen hüftlangen Locken eher aus wie ein Pirat und rechnet noch aus, wie viele Linsen die Bauarbeiter an den Pyramiden verbraucht haben.“

Zustimmend nickte Elise. „Der beurteilt alles danach, ob es sich lohnt oder nicht.“

„Geh zurück und lass dir die Adresse geben, Elise.“ Trudi blieb mit vor Übereifer hochgezogenen Augenbrauen stehen. „Nee, gleich beim ersten Mal ...“, so aufdringlich wollte sie nicht sein.

6

Vom North Carriage Drive schlenderten zwei Bobbys mit den Händen auf dem Rücken heran, auf den Lippen ein schiefes Lächeln, und stellten sich zu einem Hot-Dog-Wagen, an dem zwei Halbwüchsige ihre Würstchen bezahlten.

Ein Redner auf der Bierkiste hielt eine Landkarte von Großbritannien hoch und seine Stimme überschlug sich: „Die Frauen sind unser Untergang, überall mischen sie sich ein und mäkeln einem die Ohren voll. Wie soll man da zur Ruhe kommen, ein bequemes Zusammenleben ist mit diesem Geschmeiß unmöglich!“

Melese und Adunja hatten gerade den Hyde Park durchquert, um am Speaker’s Corner ihrem regelmäßigen Sonntagsvergnügen zu frönen, da schwemmte sie die Menge, die vorher bei Baron Soper, dem Methodisten im übergroßen Jackett, Schlips und Melone gestanden hatte, vom Eisenzaun hinüber und vor die Füße dieses verrückten Europäers, der in voller Fahrt war.

Schon bald nach ihrer Ankunft auf der Insel hatten sich die äthiopischen Studenten sonntags in kleinen Grüppchen unters Volk gewagt, ihr Taschengeld war begrenzt, umso willkommener war dieser kostenlose Palaverplatz zwischen grün-weiß gestreiften Liegestühlen und weiten Grasflächen, die eine Menge größerer Tiere als die Tauben spielend ernährt hätten.

Hier lagen ihnen die Briten wie Insekten dem Zoologen unter dem Vergrößerungsglas. Wie offen und unverblümt die Redner, die sich keineswegs nur aus Eingeborenen rekrutierten, ihren Unmut auf den Punkt brachten!

„Ob der denn keine Angst hat, sang- und klanglos mundtot gemacht zu werden?“, fragte Adunja.

Sein Freund hatte sich umgehört. „Das Einzige, was dir hier passieren kann, ist, wenn du zu lange um den heißen Brei herumstotterst, dann verlierst du die Zuhörer und deine Geschosse laufen ins Leere.“

„Die ziehen alles durch den Kakao“, staunte der andere, „hinter den prächtigen Fassaden bröckelt es ganz schön, das ahnst du gar nicht.“

„Nur die Royals sind tabu.“ Manches Mal waren sie sprachlos, mit wie wenig Respekt Ältere behandelt wurden, noch nicht mal schäbige Kleidung war ein Hindernis, seiner Verdrossenheit Ausdruck zu verleihen.

„Was willst du machen, Kollege. Die Frauen sind unser Schicksal!“, rief Melese dem Briten zu. Er stieß Adunja in die Seite, der größte Spaß war es, eine gegensätzliche Meinung zu vertreten und den Redner aus dem Konzept zu bringen. Die Rolle des Provokateurs war ihm auf den Leib geschneidert. Dazu brauchte er keine eigene Ansicht, er behauptete einfach das Gegenteil.

Dem grauhaarigen Weltverbesserer in den ausgebeulten Jeans stieg der Blutdruck, an seinem Hals pulsierte eine Ader und Speicheltröpfchen sprühten im Gegenlicht, während der Wind das Papier in seiner Hand beutelte. „Hier habe ich die Grenzen eingezeichnet. Im Osten und Süden wohnen die Frauen. Männer siedeln im westlichen Teil.“ Auf seiner Landkarte spaltete eine rote Zone die Insel in zwei Hälften, jede Kurve und Halbinsel der Küste hatte er durch einen neutralen Streifen amputiert.

Adunja drohte grinsend: „Dann wird England aussterben!“ Gleich nach dem Abitur hatte er mit einigen Mitschülern in einem Talla-Brauhaus die erste Erfahrung mit einer Frau im Schnelldurchlauf hinter sich gebracht. Die verfügbaren Dirnen weihten die Unerfahrenen in das ein, was hinter kruden Andeutungen und Warnungen versteckt wurde, nur ein Vorgeschmack auf ein durchaus reizvolles Wissensgebiet auch hinsichtlich venerischer Krankheiten.

Leider war die Erforschung weiblicher Anatomie dabei mehr als lückenhaft geblieben. In seiner Phantasie spielte die Ergänzung der Leerstellen mit einer Weißen eine nicht unerhebliche Rolle. Die Chance dazu war durch die Cafébekanntschaft in greifbare Nähe gerückt, doch wieder durch die Finger geronnen.

Im selben Augenblick, in dem Adunja bedauerte, dass die vier Püppchen ihre Adressen nicht herausgerückt hatten, fiel sein Blick auf ein blondes Mädchen und als es sich herumdrehte, erkannte er Elise. Sein Landsmann, der mit offenem Mund den Zukunftsvisionen künstlicher Befruchtung gelauscht hatte, war mit den Gedanken schon weiter. „Ich seh schon, du bist geizig mit deinem Nektar. Soll man nur den Spaßvögeln die Zucht überlassen? Was ist mit den Kindern?“

Der Mann auf der Kiste deutete auf zwei Punkte: „Hier macht man Übergänge. Zu festgelegten Zeiten sind Treffen möglich, sonst lebt jeder für sich. Kein Gezeter und Gekrittel, keine Erpressung, kein Kindergeschrei.“

Melese unterbrach seinen Wortschwall: „Ach, sollen die auf der Frauenseite bleiben?“ Adunja zupfte ihn am Ärmel, um auf die blonde Krankenschwester aufmerksam zu machen.

Der Demonstrant war so angefüllt mit dem, was er für berechtigten Unmut hielt, dass zu viele Sätze auf einmal zum Ausgang drängten, mit weit aufgerissenen Augen gestikulierte er in seinem an den Ellbogen durchgewetzten Pullover und komprimierte schließlich den Zorn in zwei Worte: „Wo sonst.“ Melese wettete mit sich selbst, dass er ein alter Veteran war, der als Parkplatzwächter seine täglichen Lagerbiere verdiente.

„Den hat eine schlampige Frau mit böser Schwiegermutter und vier plärrenden Zöglingen mit ihren Ansprüchen in die Schulden getrieben“, phantasierte der kurzgliedrige Adunja.

„Oder ist bei der Scheidung wie eine Weihnachtsgans ausgenommen worden“, spekulierte sein Freund. „Wer weiß, was bei englischen Frauen üblich ist.“

Melese kam dem Traumtänzer ein Stück weit entgegen: „Wer soll den Blagen Disziplin beibringen? Von den Frauen lernen sie das nicht.“ Einen Moment war der Redner perplex und der Äthiopier legte nach: „Wenn die Lehrer pendeln sollen, verlangst du viel. Wie wäre es mit Internaten für Jungs auf der Männerseite? Die Mädchen sollen bei den Müttern bleiben.“ Bei Internaten konnte er mitreden, sein katholisches hatte ihn fürs Leben wahrhaft gerüstet. Er war nicht der Einzige, der sich in Gesellschaft des gleichen Geschlechts sicherer fühlte, dafür hatten die Missionare schon gesorgt.

Vor der Verführung durch die westliche Glitzerwelt war er genauso gefeit, auch wenn er die luxuriösen Schlitten bewunderte, die an jeder Ampel standen. Eines Tages, das wusste er, würde er so ein Auto und die Schuhe bei Lobbs kaufen, ein Laden, an dem eine Plakette seinen Kaiser als Kunden auswies. Das richtige Mundwerk hatte ihm schon in der Schule geholfen. Die Gewissheit, dass sein Vater für ihn als Erstgeborenen die besten Fäden zog, ließ ihn einiges verschmerzen.

Die Bobbys waren grinsend stehengeblieben und wippten amüsiert auf den Ballen. Japsend hing der Phantast am Haken und spann weiter: „Die Schulgebühren sparen wir uns. In die Köpfe passt sowieso nichts rein.“ Eine dürre Jugendliche mit Männerhaarschnitt pfiff auf den Fingern, alle lachten.

„Einer muss schließlich putzen“, erinnerte Melese mit gerunzelter Stirn und zwinkerte erfreut Elise zu, die sich zu ihnen durchschob. Er ließ die Augen schweifen nach den Freundinnen, von denen aber keine zu sehen war.

„Hast du Töne, so ein Dussel!“ Adunja winkte zum Gruß. „Da ist der Löwe von Juda in seinem Element.“

Melese boxte ihm in die Seite und schoss seine nächste Salve ab. „Wer will schon den Müll raustragen? Jeder braucht einen Boy.“ Die Menge klatschte. Bei diesem Redner hatte er sie hinter sich.

„Auf euch können wir hier verzichten, liegt dem Staat auf der Tasche, anstatt eure Bananenrepublik in Ordnung zu bringen“, zeterte ein blasser Anzugträger mit akkuratem Seitenscheitel und geballter Faust.

Die Menge murmelte zustimmend

„Halt’s Maul! Sie nehmen uns die Arbeit weg und klauen wie die Raben.“ Eine beleibte Dame stieß ihrem Nebenmann den Ellbogen in die Hüfte. „Sag auch was, Joe.“

Ein indischer Einwanderer leerte in aller Gemütsruhe die Papierkörbe in seine Schubkarre.

Jetzt fühlte sich Elise herausgefordert und konterte: „Lern was Gescheites, dann brauchst du keine Angst zu haben, dass dir jemand vor die Nase gesetzt wird.“

Die Dame drehte sich zu ihr herum, brachte Elise scharfsinnig mit ihrer haselnussbraunen Begleitung in Verbindung und grölte los: „Noch so ein Flittchen, das sich mit denen einlässt. Mit Stumpf und Stiel ausrotten, sag ich. Dass die Pest nicht um sich greift.“ Sie schwang einen Regenschirm bedrohlich über ihrem Kopf. Nie im Leben hätte Elise angenommen, dass in einem Land mit jahrhundertelanger Zuwanderertradition aus dem Empire die gleichen Sprüche und auch noch lauthals zu hören waren wie in ihrer Heimat hinter vorgehaltener Hand.

Sie steckten unter gemeinsamer Decke, auch sie war eine Fremde, der man es allerdings erst anmerkte, sobald sie den Mund aufmachte. Es sollte noch Jahre dauern, bis in öffentlichen Einrichtungen der Insel Plakate hingen, die die Opfer von Diskriminierung zur Anzeige ermunterten.

Ihr tomatenroter Kopf kündigte eine deftige Antwort an. Melese raunte ihr zu: „Dein Kampf ist lobenswert, bloß manchmal ist die Kritik berechtigt.“ Gleichzeitig empfand er ihre Betroffenheit als wertvoll.

Der Redner mit der Karte merkte, dass ihm sein Anliegen entglitt. Zerstreut wischte er sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

„Sollen wir nur noch im Restaurant essen gehen? Das wird teuer, verehrter Genosse“, warf ein gut genährter Zuhörer ein. „So gut wie bei meiner Oma schmeckt es da nicht.“

„Wer darauf nicht verzichten will, kann auf die andere Seite fahren. Glaubt mir, die Zahl an Herzanfällen und Magengeschwüren wird zurückgehen, wenn wir die los sind!“

Die englische Walküre sank bläulich verfärbt auf einen der Liegestühle, während sich regenschwangere Wolken über den Marble Arch schoben und Sprühregen einsetzte.

Wie aus einem Munde riefen Adunja und Melese: „Da wird sich die Pharmaindustrie nicht freuen.“

Elise amüsierte der öffentliche Schlagabtausch, sehr gerne hätte sie sich länger darauf eingelassen, wenn es ihr Zeitplan erlaubt hätte, doch sie musste sich auf die Socken machen, wenn sie pünktlich den Spätdienst antreten wollte.

„Gib uns wenigstens deine Telefonnummer“, erinnerte Adunja im letzten Moment. „Solange das Land noch nicht aufgeteilt ist, müssen wir das ausnützen.“

Schon auf dem Weg zur Bushaltestelle drehte sich Elise lachend herum. „Wofür haltet ihr mich? Ich kann unmöglich private Anrufe auf Station annehmen. Nächsten Sonntag bin ich wieder hier.“

7

Zwei Jahre später. „Ihr klebt wie Pat und Patachon zusammen“, lästerte Ruth, als beide Koffer im Gepäcknetz verstaut waren und Elise hastig ihren Mantel im Abteil aufhängte. „Draußen steht dein Brüderchen wie bestellt und nicht abgeholt.“

Während Elise die Brotbüchse auf den Klapptisch am Fenster zurechtlegte, dachte sie: Getroffen. Ein Bruder macht nicht den geringsten Versuch, einen zu begrapschen.

Dass Elise einmal bei Melese auf der Couch übernachtet hatte, band sie noch nicht einmal Ruth auf die Nase. Von allen guten Kirschgeistern verlassen musste sie nach dieser Party gewesen sein! Sie hätte sich belügen müssen, um es als einen Test zu beschönigen. Bestanden hätte ihn dieser Schwarze, denn er gehörte in eine andere Kategorie Mann als die Bleichgesichter ihrer Vergangenheit, in welche genau, überlegte sie noch. Dennoch knirschte die innere Stimme: Eine Dame tut das nicht, soll der Mann sie für ein Flittchen halten? Andererseits, erwarte ich etwas von ihm? Kann mir schnuppe sein, was er denkt.

„Der hat mir den Kopf vollgejammert, weil ich heimfahre“, berichtete sie ihrer Schulfreundin. „Ich habe mir geschworen, den Kontinent erst wieder zu betreten, wenn ich etwas vorzuweisen habe.“

„Dann hast du jetzt die Reiseerlaubnis.“

„Eine Etappe ist geschafft. Don‘t make a mountain out of a molehill. Was sind schon drei Monate, hab ich ihm gesagt.“

„Soll er sich Paris anschauen“, meinte Ruth, „und einen Abstecher nach Bonn machen, das ist schließlich um die Ecke.“

Von Trudi beneidet und gemeinsam mit Ruth machte die Reise doppelt so viel Spaß. Ob sie sich zurechtfinden würden nach fünf Jahren Wiederaufbau?