Details
Lucie und der Angler von Paris
1. Auflage
5,99 € |
|
Verlag: | Edition Digital |
Format: | EPUB |
Veröffentl.: | 01.11.2024 |
ISBN/EAN: | 9783689123673 |
Sprache: | deutsch |
Anzahl Seiten: | 133 |
Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.
Beschreibungen
"Lucie und der Angler von Paris" ist eine außergewöhnliche Geschichte über Freundschaft, Mut und die Suche nach Freiheit im Herzen von Paris. In dieser Erzählung trifft der Angler Henri unerwartet auf Lucie, eine selbstbewusste junge Frau mit einer großen Leidenschaft für das Leben und einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Zwischen den beiden entwickelt sich eine besondere Verbindung, die sie durch die Herausforderungen der politischen Spannungen jener Zeit trägt. Die Geschichte nimmt die Leser mit in die Pariser Kunstszene und zeigt den Mut, der in den Menschen steckt, die für eine gerechtere Welt kämpfen. Für alle, die neugierig auf eine Reise in das Paris der 1940er Jahre sind, ist diese Erzählung ein packendes Abenteuer voller Wärme, Freundschaft und Leidenschaft!
Friedrich Wolf (* 23. Dezember 1888 in Neuwied; † 5. Oktober 1953 in Lehnitz) war ein deutscher Arzt, Schriftsteller und Dramatiker, der sich besonders durch seine politische und literarische Arbeit einen Namen machte.
Friedrich Wolf wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte von 1907 bis 1912 Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte in verschiedenen deutschen Städten und promovierte 1913 in Medizin. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Truppenarzt und entwickelte sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Nach dem Krieg engagierte er sich politisch und wurde Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Dresden.
Wolf war ab 1928 Mitglied der KPD und verfasste zahlreiche politisch engagierte Werke. Sein bekanntestes Drama, "Cyankali" (1929), prangerte das Abtreibungsverbot des § 218 an und löste eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er als Arzt und engagierte sich für die Rechte der Arbeiterklasse.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Wolf 1933 in die Sowjetunion, wo er weiterhin literarisch aktiv war und für Radio Moskau arbeitete. Während des Spanischen Bürgerkriegs versuchte er, als Arzt an den Internationalen Brigaden teilzunehmen, blieb aber in Frankreich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert, konnte jedoch 1941 mit sowjetischer Hilfe nach Moskau zurückkehren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wolf nach Deutschland zurück und engagierte sich in der DDR kulturpolitisch. Er war Mitbegründer der DEFA und der Deutschen Akademie der Künste. Zudem diente er von 1949 bis 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen. Friedrich Wolf starb 1953 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin beigesetzt.
Wolf hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das durch seinen politischen und sozialen Einsatz geprägt ist. Seine Söhne Markus und Konrad Wolf setzten sein Erbe als bedeutende Persönlichkeiten der DDR fort.
Staatliche Auszeichnungen
1943: Orden Roter Stern
1949: Nationalpreis der DDR II. Klasse für das Theaterstück Professor Mamlock
1950: Nationalpreis der DDR I. Klasse für den Film Rat der Götter.
Werkverzeichnis
Friedrich Wolf wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte von 1907 bis 1912 Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte in verschiedenen deutschen Städten und promovierte 1913 in Medizin. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Truppenarzt und entwickelte sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Nach dem Krieg engagierte er sich politisch und wurde Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Dresden.
Wolf war ab 1928 Mitglied der KPD und verfasste zahlreiche politisch engagierte Werke. Sein bekanntestes Drama, "Cyankali" (1929), prangerte das Abtreibungsverbot des § 218 an und löste eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er als Arzt und engagierte sich für die Rechte der Arbeiterklasse.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Wolf 1933 in die Sowjetunion, wo er weiterhin literarisch aktiv war und für Radio Moskau arbeitete. Während des Spanischen Bürgerkriegs versuchte er, als Arzt an den Internationalen Brigaden teilzunehmen, blieb aber in Frankreich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert, konnte jedoch 1941 mit sowjetischer Hilfe nach Moskau zurückkehren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wolf nach Deutschland zurück und engagierte sich in der DDR kulturpolitisch. Er war Mitbegründer der DEFA und der Deutschen Akademie der Künste. Zudem diente er von 1949 bis 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen. Friedrich Wolf starb 1953 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin beigesetzt.
Wolf hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das durch seinen politischen und sozialen Einsatz geprägt ist. Seine Söhne Markus und Konrad Wolf setzten sein Erbe als bedeutende Persönlichkeiten der DDR fort.
Staatliche Auszeichnungen
1943: Orden Roter Stern
1949: Nationalpreis der DDR II. Klasse für das Theaterstück Professor Mamlock
1950: Nationalpreis der DDR I. Klasse für den Film Rat der Götter.
Werkverzeichnis
1
Der Angler nimmt unter seinen Mitmenschen eine besondere Stellung ein, insofern die anderen Menschen für ihn nicht vorhanden sind und er selbst nicht existiert für seine Mitmenschen. Er ist der anerkannte Einsame auf dieser Erde, wenn er mit seiner Angelrute an einem Fluss sitzt, unbewegt wie eine Statue, den Blick auf das still dahinfließende Wasser gerichtet und auf den „Schwimmer“, der – aus einem Korken und einer künstlichen Fliege bestehend – in der leisen Strömung treibt. Niemand wird einen Angler ansprechen oder mit Fragen zu belästigen wagen, vor allem nicht in Frankreich. Eher wird man einen Toten um eine Auskunft bitten, als einen der tausend Männer, die um Paris an den Ufern der Seine, die Pfeife im schweigsamen Mund, dem zarten Zittern des „Schwimmers“ mit ruhigem Blick folgen.
Mit stiller Aufmerksamkeit schaut Henri der kleinen künstlichen Fliege nach, die an der dünnen Leine in der graugrünen Seine abwärts treibt. Henri ist ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mensch, schlank, sehnig und – worauf sein langer Rücken auch im Sitzen schließen lässt – hochgewachsen. Er hat die kurze Pfeife im Mundwinkel, wie es zu einem richtigen Angler gehört. Rucksack und Baskenmütze hängen an dem Fahrrad, das neben ihm an einem Weidenstumpf lehnt. Sein dichtes dunkelbraunes Haar, sein gebräuntes Gesicht lassen die hellgrauen Augen noch auffallender erscheinen. Sonst aber ist an dem Menschen nichts Besonderes. Er ist einer der Tausende Franzosen, die an einem Sonntagnachmittag mit der Rute an den Flüssen Frankreichs sitzen und die sich weder durch das Autohupen der benachbarten Chaussee noch durch die vielen kleinen Boote mit fröhlichen Menschen stören lassen.
So hat Henri sich platziert, an der Seinekrümmung zwischen Sartrouville und La Frette, gegenüber dem Park von Maisons Laffitte und dem Wald von Saint-Germain.
2
Damals – im August 1939 – gab es in diesem gesegneten Land noch Millionen fröhlicher Menschen, denen das Leben und das „savoir-vivre“ als das höchste Gut galten. Die Menschen ließen diesen Lebensanspruch allerdings meist nur für das eigene menschliche Dasein gelten. Ob Henri wohl darüber nachdachte, dass er den lustig dahinschwimmenden Fischlein mit der mörderischen Angelspitze das Leben raubte? Über was er wohl nachdachte, während die weißen Sommerwolken über den mattblauen Himmel segelten, die silberne Luft über dem Wasser zitterte und er die kleinen Rauchkringel aus seinem Pfeifchen von sich stieß?
Mit einem Ruck reißt er die Angel jetzt hoch und schaut zornig auf das Wasser, wo ein Mensch mit langen Kraulstößen – den Kopf unter der Flut – an das Ufer schwimmt.
„Sie haben wohl keine Augen im Kopf!“, ruft er unwirsch dem Störenfried zu, der das heilige Recht der Angler so grob verletzt. Aber wie der Mensch prustend das Ufer erreicht und ans Land sich emporstemmt, sagt er erstaunt, noch immer die Angelrute in der Hand: „Lucie …“
„Henri?“, erwidert die Schwimmerin nicht weniger überrascht. „Hier muss man dich also suchen! Seit zwei Monaten …“
„Still!“, unterbricht sie der andere. „Nicht mehr: Henri! Meinetwegen Pierre oder Jean …“
„Ach so!“, lächelt das große Mädchen. „Immer noch streng geheim. Kannst du wirklich dein altes Laster nicht lassen?“
Der Mann hat die Angel wieder ausgeworfen und sich auf seinen Stein niedergesetzt; scheinbar ruhig bläst er den Rauch seines Pfeifchens in die Luft.
„Und höflicher bist du auch nicht geworden“, meint Lucie, die sich in ihrem dunkelblauen, weiß gestreiften Schwimmtrikot auf den sonnenwarmen Steinen ausgestreckt und die weiße Gummihaube von ihrem aufgebundenen hellen Haar heruntergestreift hat. „Musst du dich immer noch kaschieren?“
„Lass das, bitte!“, sagt er, ohne von dem Wasser wegzublicken.
„Huhu, stets das alte Parteipferd, Henri! Verzeih, also Pierre oder Jean! Aber gestatte, dass ich dich dann schon lieber: mon petit gars nenne! Und dass ich nach wie vor es für einen barbarischen Unsinn halte, wenn ein begabter Maler, der die bunten Wunder dieser Welt auf ein Rechteck von ein mal einem halben Meter zu zaubern vermag, sich von der Politik auf Schwarz und Weiß reduzieren lässt!“
„Es ist zwecklos, mit dir hierüber zu diskutieren.“
„Diskutieren? Nein! Aber du bist viel zu schade hierfür, mon petit!“
Es ist der alte Streit zwischen den beiden Schülern der Kunstakademie. Als die Schlägertrupps der reaktionären „Croix du feu“ die Bilder von Picasso, Braque und Matisse in den Salons des Boulevard Raspail und gegenüber dem Café „Les Deux Magots“ herunterzureißen suchten, da hatte Henri mit einigen Freunden einen ständigen Wachtdienst dort eingerichtet. Mehrfach war es zu blutigen Schlägereien zwischen den beiden Gruppen gekommen; dabei war Henri zum ersten Mal verhaftet worden und hatte eine bestimmte Abteilung der Préfecture kennengelernt. Hier traf er mit Kameraden der Partei zusammen. Er besuchte später eine antifaschistische Kundgebung in der Mutualité am Boulevard St-Germain, wo man einen neuen Russenfilm zeigte. Auf der Straße wurde ein Referent der Gruppe überfallen. Henri war mit zwei Kameraden hinzugesprungen, durch einen Dolchstich in die Brust verletzt und in einen politischen Prozess verwickelt worden. Das verband ihn noch enger mit den Genossen.
Lucie hatte ihn damals mehrfach im Krankenhaus besucht, Blumen und die neuesten Kunstjournale gebracht, ihn zugleich beschworen, endlich die Hände von der Politik zu lassen und sich seinem eigentlichen Beruf als Maler wieder zuzuwenden. Doch ebenso leidenschaftlich hatte Henri der Freundin klarzumachen versucht, dass heute die Politik – die Umformung des lebendigen Menschen – die höchste und notwendigste Kunst sei und das Menschenhirn die edelste Materie darstelle.
„Überlass das den anderen, die hierzu berufen sind!“, entgegnete Lucie erregt. „Du bist bei deiner Begabung der geborene Maler! Das andere ist nicht deine Sache!“
„Gerade das ist meine Sache! Doch das wirst du nie verstehen!“
„Ja, ich werde und will das nie verstehen!“
Aber bei jedem Zusammentreffen fing Lucie wieder mit dieser Sache an. Ja, sie ging noch weiter. Eine Meisterklasse der Akademie leitete ein fünfzigjähriger bekannter Maler – nennen wir ihn Professor Bastanier –, ein Sybarit, rund und schmerbäuchig wie der alte trunkene Faun auf dem Rubensbild mit dem Früchtekranz und den kleinen Putten. Henri hasste den „Wanst“. Doch Lucie, die trainierte Sportlerin und akademische Schwimmmeisterin des Departements Seine et Oise, begann plötzlich mit dem dicken Professor einen Flirt. Henri war wütend. Er fragte, ob Lucie dieses feiste Rubensmodell vielleicht als Akt malen wolle? Lucie überhörte die Geschmacklosigkeit und freute sich der erregten Eifersucht des Freundes, weil sie hoffte, Henri von seinem gefährlichen Wege wegzubringen.
Und plötzlich war Henri völlig verschwunden, wortlos, spurlos. Es waren die Monate kurz vor dem Kriege, da die beunruhigte Daladier-Regierung eine unterirdische, aber um wütendere Jagd auf alle linken Aktivisten durchführte, vor allem auf jene Gruppen, die dem Terror der faschistischen und halbfaschistischen Banden wenn nötig mit geeigneten Mitteln entgegentraten.
Der Angler nimmt unter seinen Mitmenschen eine besondere Stellung ein, insofern die anderen Menschen für ihn nicht vorhanden sind und er selbst nicht existiert für seine Mitmenschen. Er ist der anerkannte Einsame auf dieser Erde, wenn er mit seiner Angelrute an einem Fluss sitzt, unbewegt wie eine Statue, den Blick auf das still dahinfließende Wasser gerichtet und auf den „Schwimmer“, der – aus einem Korken und einer künstlichen Fliege bestehend – in der leisen Strömung treibt. Niemand wird einen Angler ansprechen oder mit Fragen zu belästigen wagen, vor allem nicht in Frankreich. Eher wird man einen Toten um eine Auskunft bitten, als einen der tausend Männer, die um Paris an den Ufern der Seine, die Pfeife im schweigsamen Mund, dem zarten Zittern des „Schwimmers“ mit ruhigem Blick folgen.
Mit stiller Aufmerksamkeit schaut Henri der kleinen künstlichen Fliege nach, die an der dünnen Leine in der graugrünen Seine abwärts treibt. Henri ist ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mensch, schlank, sehnig und – worauf sein langer Rücken auch im Sitzen schließen lässt – hochgewachsen. Er hat die kurze Pfeife im Mundwinkel, wie es zu einem richtigen Angler gehört. Rucksack und Baskenmütze hängen an dem Fahrrad, das neben ihm an einem Weidenstumpf lehnt. Sein dichtes dunkelbraunes Haar, sein gebräuntes Gesicht lassen die hellgrauen Augen noch auffallender erscheinen. Sonst aber ist an dem Menschen nichts Besonderes. Er ist einer der Tausende Franzosen, die an einem Sonntagnachmittag mit der Rute an den Flüssen Frankreichs sitzen und die sich weder durch das Autohupen der benachbarten Chaussee noch durch die vielen kleinen Boote mit fröhlichen Menschen stören lassen.
So hat Henri sich platziert, an der Seinekrümmung zwischen Sartrouville und La Frette, gegenüber dem Park von Maisons Laffitte und dem Wald von Saint-Germain.
2
Damals – im August 1939 – gab es in diesem gesegneten Land noch Millionen fröhlicher Menschen, denen das Leben und das „savoir-vivre“ als das höchste Gut galten. Die Menschen ließen diesen Lebensanspruch allerdings meist nur für das eigene menschliche Dasein gelten. Ob Henri wohl darüber nachdachte, dass er den lustig dahinschwimmenden Fischlein mit der mörderischen Angelspitze das Leben raubte? Über was er wohl nachdachte, während die weißen Sommerwolken über den mattblauen Himmel segelten, die silberne Luft über dem Wasser zitterte und er die kleinen Rauchkringel aus seinem Pfeifchen von sich stieß?
Mit einem Ruck reißt er die Angel jetzt hoch und schaut zornig auf das Wasser, wo ein Mensch mit langen Kraulstößen – den Kopf unter der Flut – an das Ufer schwimmt.
„Sie haben wohl keine Augen im Kopf!“, ruft er unwirsch dem Störenfried zu, der das heilige Recht der Angler so grob verletzt. Aber wie der Mensch prustend das Ufer erreicht und ans Land sich emporstemmt, sagt er erstaunt, noch immer die Angelrute in der Hand: „Lucie …“
„Henri?“, erwidert die Schwimmerin nicht weniger überrascht. „Hier muss man dich also suchen! Seit zwei Monaten …“
„Still!“, unterbricht sie der andere. „Nicht mehr: Henri! Meinetwegen Pierre oder Jean …“
„Ach so!“, lächelt das große Mädchen. „Immer noch streng geheim. Kannst du wirklich dein altes Laster nicht lassen?“
Der Mann hat die Angel wieder ausgeworfen und sich auf seinen Stein niedergesetzt; scheinbar ruhig bläst er den Rauch seines Pfeifchens in die Luft.
„Und höflicher bist du auch nicht geworden“, meint Lucie, die sich in ihrem dunkelblauen, weiß gestreiften Schwimmtrikot auf den sonnenwarmen Steinen ausgestreckt und die weiße Gummihaube von ihrem aufgebundenen hellen Haar heruntergestreift hat. „Musst du dich immer noch kaschieren?“
„Lass das, bitte!“, sagt er, ohne von dem Wasser wegzublicken.
„Huhu, stets das alte Parteipferd, Henri! Verzeih, also Pierre oder Jean! Aber gestatte, dass ich dich dann schon lieber: mon petit gars nenne! Und dass ich nach wie vor es für einen barbarischen Unsinn halte, wenn ein begabter Maler, der die bunten Wunder dieser Welt auf ein Rechteck von ein mal einem halben Meter zu zaubern vermag, sich von der Politik auf Schwarz und Weiß reduzieren lässt!“
„Es ist zwecklos, mit dir hierüber zu diskutieren.“
„Diskutieren? Nein! Aber du bist viel zu schade hierfür, mon petit!“
Es ist der alte Streit zwischen den beiden Schülern der Kunstakademie. Als die Schlägertrupps der reaktionären „Croix du feu“ die Bilder von Picasso, Braque und Matisse in den Salons des Boulevard Raspail und gegenüber dem Café „Les Deux Magots“ herunterzureißen suchten, da hatte Henri mit einigen Freunden einen ständigen Wachtdienst dort eingerichtet. Mehrfach war es zu blutigen Schlägereien zwischen den beiden Gruppen gekommen; dabei war Henri zum ersten Mal verhaftet worden und hatte eine bestimmte Abteilung der Préfecture kennengelernt. Hier traf er mit Kameraden der Partei zusammen. Er besuchte später eine antifaschistische Kundgebung in der Mutualité am Boulevard St-Germain, wo man einen neuen Russenfilm zeigte. Auf der Straße wurde ein Referent der Gruppe überfallen. Henri war mit zwei Kameraden hinzugesprungen, durch einen Dolchstich in die Brust verletzt und in einen politischen Prozess verwickelt worden. Das verband ihn noch enger mit den Genossen.
Lucie hatte ihn damals mehrfach im Krankenhaus besucht, Blumen und die neuesten Kunstjournale gebracht, ihn zugleich beschworen, endlich die Hände von der Politik zu lassen und sich seinem eigentlichen Beruf als Maler wieder zuzuwenden. Doch ebenso leidenschaftlich hatte Henri der Freundin klarzumachen versucht, dass heute die Politik – die Umformung des lebendigen Menschen – die höchste und notwendigste Kunst sei und das Menschenhirn die edelste Materie darstelle.
„Überlass das den anderen, die hierzu berufen sind!“, entgegnete Lucie erregt. „Du bist bei deiner Begabung der geborene Maler! Das andere ist nicht deine Sache!“
„Gerade das ist meine Sache! Doch das wirst du nie verstehen!“
„Ja, ich werde und will das nie verstehen!“
Aber bei jedem Zusammentreffen fing Lucie wieder mit dieser Sache an. Ja, sie ging noch weiter. Eine Meisterklasse der Akademie leitete ein fünfzigjähriger bekannter Maler – nennen wir ihn Professor Bastanier –, ein Sybarit, rund und schmerbäuchig wie der alte trunkene Faun auf dem Rubensbild mit dem Früchtekranz und den kleinen Putten. Henri hasste den „Wanst“. Doch Lucie, die trainierte Sportlerin und akademische Schwimmmeisterin des Departements Seine et Oise, begann plötzlich mit dem dicken Professor einen Flirt. Henri war wütend. Er fragte, ob Lucie dieses feiste Rubensmodell vielleicht als Akt malen wolle? Lucie überhörte die Geschmacklosigkeit und freute sich der erregten Eifersucht des Freundes, weil sie hoffte, Henri von seinem gefährlichen Wege wegzubringen.
Und plötzlich war Henri völlig verschwunden, wortlos, spurlos. Es waren die Monate kurz vor dem Kriege, da die beunruhigte Daladier-Regierung eine unterirdische, aber um wütendere Jagd auf alle linken Aktivisten durchführte, vor allem auf jene Gruppen, die dem Terror der faschistischen und halbfaschistischen Banden wenn nötig mit geeigneten Mitteln entgegentraten.